II. 3. S. Maria Assunta auf Torcello (K. G.)
Nach der Weiheinschrift wurde die dreischiffige Basilika Santa Maria Assunta auf der Insel Torcello auf byzantinische Anregung im 7. Jahrhundert (639) errichtet. Sie wurde bis zum 11. Jahrhundert zweimal erneuert und teilweise vergrößert (→ Santa Maria Assunta, Westseite). Das Bauwerk ist der römischen Tradition verhaftet, doch versprechen zahlreiche byzantinische Stilelemente Antworten auf die Frage nach der Präsenz byzantinischer Kunst und Kultur im nördlichen Adriaraum. Diese Elemente sind hauptsächlich in den hochmittelalterlichen Hauptapsis- und Westwandmosaiken zu erkennen. So ist die Mariendarstellung der Hauptapsis als Hodegetria zu identifizieren, die das Jesuskind auf dem linken Arm haltend in eindrucksvollem Kontrast zum Goldhintergrund erscheint. Das Bildprogramm wird fortgesetzt und erweitert durch eine Verkündigungsdarstellung in den Zwickeln und eine Maria orans an der Rückfassade, am anderen Ende der Kirche. Die Verwendung dieser ursprünglich byzantinischen Muster lässt einerseits auf starke kulturelle Beeinflussung schließen. Andererseits ist aber auch eine Anpassung oder Weiterentwicklung der Elemente festzustellen, was als Zeichen für eine künstlerische Lösung oder gar eine Abgrenzung Venedigs auch auf politischem Gebiet gedeutet werden kann.
Die ikonographisch anspruchsvolle hochmittelalterliche Darstellung des Jüngsten Gerichts auf der Innenseite der Westfassade lässt in ihrer technischen Ausführung auf regionale Künstler und Kunsthandwerker schließen. Parallelen im Bildprogramm beweisen, dass die hohe Kunstfertigkeit der Mosaizisten sich nicht ausschließlich auf San Marco und Venedig konzentrierte, sondern mindestens in der ganzen Lagune verbreitet war.
Zudem gibt die bauliche Anlage Anlass, nach Ähnlichkeiten zwischen Torcello und anderen Orten des nördlichen Adriaraums zu suchen. Die Bedeutung Torcellos als Bistum rückt hierbei in den Vordergrund. Der Bischofsthron in Santa Maria Assunta wurde an die Wand angebaut und gegenüber dem Altarraum erhöht. Ähnliches ist auch in Grado (Santa Maria delle Grazie) und Poreč (Euphrasiusbasilika) zu beobachten: Die bauliche Eingliederung des Throns in die Apsiswand schien im nordadriatischen Gebiet üblich gewesen zu sein. Die Ursprünge dieser Anordnung liegen vermutlich im orientalischen Raum, wobei offen bleiben muss, wie sich dieses Phänomen in der besuchten Region verbreitete.
Dies alles führte zu dem Schluss, dass der Grundriss der Kirche Santa Maria Assunta römischen Formen folgt, jedoch byzantinische wie venezianische Ausdrucksmittel das hochmittelalterliche Bildprogramm prägen. In dieser Hinsicht ist Torcellos Bischofskirche ein Beispiel für die kulturelle Vielfalt im nordadriatischen Raum, ohne jedoch den Eindruck wahllos zusammengestellter Motive zu wecken.
Santa Maria Assunta, Westseite (davor die Reste des Baptisteriums)