II. 2. Die Basilica di San Marco (K. J.)
Die Reliquien des hl. Markus seien im frühen 9. Jahrhundert von zwei venezianischen Kaufleuten in Alexandria gestohlen und nach Venedig gebracht worden, so berichtet es die Translatio sancti Marci, ein möglicherweise noch im 9. Jahrhundert entstandener Bericht. Die Reliquien, so heißt es weiter, habe der Doge zunächst im Dogenpalast aufbewahrt, zugleich habe man aber mit dem Bau der ersten Markuskirche begonnen. Die Stadt Venedig in ihren heutigen Ausmaßen gab es damals noch nicht, sie entstand erst allmählich auf der Inselgruppe des Rivus altus (Rialto), auf die im Jahre 811 der Regierungssitz Venetiens verlegt worden war. Der Aufstieg der Stadt zur reichen Seemacht spiegelt sich in der Baugeschichte der Basilica di San Marco wieder. Ausstattung und Baugestalt der Kirche verdeutlichen aber auch die Einflüsse aus Byzanz und dem Westen, deren unterschiedliche Formensprache aufgenommen und in einen eigenen, venezianischen Stil überführt wurde.
Wie zuletzt die Forschungen von Karin Uetz und Rudolf Dellermann wieder deutlich gemacht haben (http://www.baufo.ar.tum.de/de/forschung/San_Marco/content.html), ist die Baugeschichte der Markuskirche, obwohl sie zu den bedeutendsten Sakralbauten des Mittelalters gehört, in vielen Punkten ungeklärt. Was den ältesten Bau der Markusbasilika betrifft, so vermutet man, dass es sich um eine Kirche in Form einer Basilika mit Seitenschiffen, Apsis, Krypta und Portikus nach dem Vorbild von Gebäuden in Ravenna gehandelt haben könnte. Es wird aber auch die Ansicht vertreten, die Markuskirche sei von Anfang an als Zentralbau über einem griechischen Kreuz geplant worden. Die erste Kirche wurde 976 bei einem Feuer beschädigt, jedoch in nur zwei Jahren durch den Dogen Pietro Orseolo I. wieder aufgebaut. Architektonische und dekorative Elemente dieser beiden Vorgängerbauten wurden wahrscheinlich bei dem dritten Bau der Markuskirche wieder verwendet. Zuvor hatte bereits der Doge Pietro Orseolo II. bei Adel und Volk für das Vorhaben geworben, die Basilika von Grund auf neu zu errichten. Man wollte den sich stetig vergrößernden Macht- und Einflussbereich und den Reichtum der Stadt in einem repräsentativen Kirchenbau ausgedrückt wissen. Der dritte Bau von San Marco wurde 1063 unter dem Dogen Domenico Contarini (1043-1071) begonnen. Als der Doge starb, muss der Bau weit fortgeschritten gewesen sein, denn er wurde bereits unter seinem Nachfolger Vitale Falier (1084-1096) fertig gestellt und 1094 geweiht.
Diese dritte Kirche (der Contarini-Bau) hat sich bis heute erhalten. Über die Jahre wurden allerdings zahlreiche Veränderungen und Umbauten vorgenommen. Dem Stil nach ist die Basilica di San Marco frühbyzantinisch. Die Kirche der zwölf Apostel in Konstantinopel könnte als Vorbild gedient haben, denn wie diese wurde die Markuskirche als Zentralbau über einem griechischen Kreuz errichtet. Der Bau in Venedig hat fünf halbkugelförmige Pendentifkuppeln, eine im Zentrum und die anderen an den Enden der vier Kreuzesarmen. Allerdings führte die Einbeziehung der Vorgängerbauten dazu, dass die neu gebaute Kirche eine Krypta besitzt. Damit unterscheidet sie sich doch wieder deutlich von byzantinischen Vorbildern. Diese Verbindung verschiedener Formensprachen sollte sich zu einem wesentlichen Merkmal venezianischer Kunst entwickeln.
Die ersten Mosaiken wurden zu Beginn des 11. Jahrhunderts in der Apsis und am Hauptportal angebracht, das sich heute im später zugefügten westlichen Narthex befindet. Auf Goldgrund sind am Hauptportal Maria und das Christuskind mit den Aposteln und Evangelisten dargestellt, in der Konche darüber befand sich wahrscheinlich ursprünglich der Pantokrator. Das sich heute dort befindende Mosaik des hl. Markus stammt aus dem 16. Jahrhundert. Im 12. Jahrhundert wurde die Ostkuppel mit Immanuel und den Propheten vollendet und vielleicht auch schon die Westkuppel mit dem Pfingstbild fertig gestellt. Die Markusgeschichten der Petrus- und der Klemenskapelle sowie die christologischen Szenen des Südbogens waren damals wahrscheinlich schon in Arbeit. Soweit sind die Themen dem östlichen Repertoire entlehnt. Nur der Markuszyklus macht hier eine Ausnahme. Mit der Etablierung des hl. Markus als Stadtpatrons von Venedig und der Entwicklung des regionalen Markuskultes wurden Szenen aus dem Leben des Heiligen, besonders aber Episoden aus der eingangs erwähnten Translatio sancti Marci ein beliebtes Bildthema. Sie finden sich an verschiedenen Orten in der Kirche, unter anderem auf der berühmten Tafel des Hauptaltars, der Pala d’oro.
Nichts weist darauf hin, dass man beim Anbringen der ersten Mosaiken bereits vorhatte, die gesamte Kirche auszuschmücken, wie dies zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert geschah. Nach und nach und ohne erkennbaren Plan wurden sämtliche Räume einbezogen. Man mauerte etliche Fenster zu, um Flächen für Mosaiken zu gewinnen, was die Lichtverhältnisse im Inneren verschlechterte. Die Folge ist, dass die Architektur des Innenraums hinter der ausufernden Mosaikdekoration zurücktritt: Der zusammenhängende Goldmantel rundet die Kanten ab und führt zu einer ‚Verschleierung’ der architektonischen Strukturen. Damit setzt sich die Markuskirche von byzantinischen Bauten deutlich ab. Ganz und gar ‚unbyzantinisch’ ist darüber hinaus der freistehende romanische Campanile, der ab dem Jahre 1150 auf der Piazza di San Marco errichtet wurde. Der Backsteinbau wurde mehrmals aufgestockt und hatte 1517, im Jahre seiner Fertigstellung, eine Höhe von 95 m erreicht (teilweise eingestürzt 1902 und bis 1912 wiederaufgebaut).
In den Jahren von 1204 bis 1300 wurden im Inneren der Markuskirche Marmorinkrustationen angebracht. Die Einlegearbeiten schmücken den Boden und den unteren Bereich der Wände. Die Inkrustation spielte eine bedeutende Rolle in der italienischen Baukunst des frühen Mittelalters, Beispiele finden sich in der Toskana (San Miniato al Monte in Florenz) oder in Rom (San Clemente, San Giovanni in Laterano). Auch in diesem Fall sind es kontinentalitalienische Einflüsse, die die Gestalt der Markuskirche bestimmten.
In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, nach dem vierten Kreuzzug, erfolgten zahlreiche Umbauten: Die Emporen wurden durch einen Laufgang mit Balustraden ersetzt, um die Lichtsituation zu verbessern. An der Schauseite wurde eine Loggia ergänzt, die die Fassade jetzt horizontal in zwei Bereiche unterteilt. Rundbögen rhythmisieren den unteren Bereich mit den fünf Portalen. Bei diesen baulichen Veränderungen wurden zahlreiche Beutestücke verwendet, zum Beispiel Marmortafeln und Säulen aus Porphyr und Marmor, die während der Plünderung Konstantinopels im Jahre 1204 geraubt wurden. Auch die römisch-antiken Bronzepferde, die der Loggia dei cavalli den Namen gaben, stammen aus der Beute des vierten Kreuzzugs.
Grundriss der Basilica di San Marco
Portal Sant'Alipio, Westseite, 13. Jh.
Grundriss des Markusplatzes um das Jahr 1000