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II. Venedig

II. 1. Überblick

II. 2. Die Basilica di San Marco

II. 3. S. Maria Assunta auf Torcello

1. Überblick (T. F.)

Die seit dem Spätmittelalter, z. B. von Francesco Petrarca, vielfach als „Wunder“ bezeichnete Stadt im Meer hat schon früh an ihrem eigenen Mythos gearbeitet. Das war – wie in jedem ambitionierten Staat – nicht nur notwendig, sondern im Fall Venedigs auch besonders gut möglich, denn zeitgenössische Quellen zur Entstehung der Lagunenstadt sind höchst spärlich gesät: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, beginnt die Überlieferung erst um das Jahr 1000, vor allem mit der Istoria Veneticorum des Iohannes Diaconus. Doch um diese Zeit war die Mythenbildung bereits in vollem Gange: Venedig, so erzählte man, sei aus dem Nichts geschaffen worden von den Einwohnern römischer Städte Nordostitaliens, von denen jede auf der Flucht vor den Langobarden (später datierte man die Flucht auf die Hunnenzeit zurück) „ihre“ Insel besiedelt habe. Die Geschichte der Kirchenorganisation stellte man sich so vor, dass einzelne Adelsfamilien die Bistümer und deren Kirchen in der Lagune gegründet hätten, während die Hauptkirche, der Patriarchensitz in Aquileia und dann Grado, auf den Evangelisten Markus und dessen Schüler Hermagoras zurückgehe.

In Wirklichkeit war die Besiedlung der Inseln weder eine creatio ex nihilo noch ein Willensakt selbständig handelnder Bürgerschaften und schon gar keine ereignishafte, rasch abgeschlossene Fluchtaktion mit dem Ziel der vollständigen Separierung der eingesessenen Bevölkerung von den Langobarden. Zwar haben sich in der Tat sehr viele Einwohner der von den Langobarden im 6. und frühen 7. Jahrhundert angegriffenen Städte in der römischen Provinz Venetia et Histria nach und nach auf die vorgelagerten Inseln zurückgezogen und diese mit dem aus den Herkunftsorten überführten Material neu bebaut. Aber zum einen waren diese Inseln höchst wahrscheinlich nicht menschenleer, und zum andern war die Besiedlung ein Jahrzehnte währender Prozess, während dessen man schlecht ohne ein Minimum an Kontakten zu den langobardischen Eroberern auskommen konnte. Vor allem aber ist eine solche Umstrukturierung der Bevölkerung nicht ohne Zustimmung, ja Initiative der Ordnungsmacht im Adriaraum denkbar: Ostrom bzw. Byzanz.

Für die von der hochmittelalterlichen Kommune Venedig nur zu gern verschwiegene Kontrolle ihrer Anfänge durch Konstantinopel spricht nicht nur alles, was man über die Organisation des byzantinischen Italien im 6. und 7. Jahrhundert weiß. Unter den wenigen zeitgenössischen Zeugnissen gibt es immerhin eines, aus dem die Beteiligung der byzantinischen Verwaltung unter Kaiser Herakleios (610-641) sehr deutlich wird. Eine Inschrift, die im 19. Jahrhundert in der Kirche S. Maria Assunta auf der Insel Torcello gefunden wurde und dort bis heute zu sehen ist, hält die Weihe dieser Kirche im Jahr 639 fest und nennt alle Beteiligten: neben dem regierenden Kaiser den Exarchen, das byzantinische Heer, den in Torcello residierenden byzantinischen magister militum und den Ortsbischof (→ Handzeichnung der Inschrift; → Abbildung der Inschrift) . Die offensichtlich wohlüberlegte Mitwirkung der gesamten weltlichen und geistlichen Hierarchie an der Weihe der Bischofskirche von Torcello – 70 Jahre nach dem Langobardeneinfall und kurze Zeit nach der Verdrängung oströmischer Vorposten auf dem Fetsland – wirft ein ganz anderes Licht auf die Besiedlung der Lagune, als es die Venezianer im Zuge ihrer späteren Emanzipation von Konstantinopel gerne gesehen hätten. Sie erscheint als ein gelenkter Prozess byzantinischer Grenzpolitik, wobei im gezielten Ausbau einer lagunegestützten Verteidigung gerade die Einbeziehung der Kirche in die Ausrichtung des Heeres eine wichtige Rolle spielte.

Torcello ist nur eine von mindestens sieben (neben weiteren weniger wichtigen) Inselsiedlungen, die nach und nach den Kosmos der Lagune formten. Diese sieben wurden allesamt Bischofssitze – mit kleinen bis winzigen Diözesen, da es keine Ausdehnungsmöglichkeiten Richtung Festland gab. Allerdings sind längst nicht in allen Fällen schon im 7. Jahrhundert tatsächlich Bischöfe nachweisbar, auch dies ein Indiz dafür, dass die Umstrukturierung der Lagune einen längeren Zeitraum in Anspruch nahm. Neben dem vom römischen Altinum aus besiedelten Torcello waren das, von Norden nach Süden: Caorle, Heracleia/Cittanuova, Iesolo, Rialto und Malamocco, außerdem weiter im Osten das von Aquileia aus besiedelte Grado.

Rialto wurde erst im 8. Jahrhundert Bistum (mit Namen Olivolo, dann Castello) und erst im 9. Jahrhundert der Sitz des dux, des späteren Dogen. Dieser war zunächst von Byzanz eingesetzt worden, wurde seit dem 8. Jahrhundert aber von den Bürgern selbst gewählt: ein Zugewinn an politischer Autonomie, der nur um den Preis ständiger blutiger Kämpfe zwischen rivalisierenden Parteiungen zu haben war. Von ‚Venedig’ im modernen Sinn kann man erst sprechen, als die Siedlung auf Rialto alle anderen Inseln, vor allem Torcello, an Größe und wirtschaftlicher Macht überflügelt hatte. Dies war im Hochmittelalter der Fall, und erst seit dieser Zeit konnte die Inselstadt auf Rialto den antiken Provinznamen Venetia in einen Stadtnamen verwandeln und auf sich beziehen.

Zur wachsenden Zentralität Rialtos trug auch der Streit mit Aquileia um die Legitimität des Patriarchensitzes von Grado bei. Grado war als Sitz eines Metropoliten, der sich sogar Patriarch nannte, die geistliche Oberinstanz für die anderen Lagunenbistümer. Im Konkurrenzkampf mit dem alten Festlandssitz des Patriarchen, Aquileia, landeten die Venezianer 829 einen echten Coup. In einer ihrer ersten bekannten Übersee-Aktionen holten sie die Reliquien des Evangelisten Markus aus Alexandria in die Lagune. Bezeichnenderweise wurden die Gebeine nicht im Bistum mit der abgeblich verbürgten Markustradition, Grado, bestattet, sondern in der Residenz des dux auf Rialto, wo sie auf ein Ehrengrab in einer noch zu errichtenden Kirche warteten – S. Marco (vgl. auch Grado). Kein Zweifel besteht über die Bedeutung des Markuskults für die kirchliche und politische Verselbständigung der Kommune Venedig vor allem ab dem 11. Jahrhundert. Gerade die erfolgreiche Schaffung eines autonomen politischen Gebildes durch die auf spätrömisch-byzantinischen Traditionen basierende Lagunenkultur ist Voraussetzung dafür, dass sich diese Traditionen im Adriaraum bis in die Neuzeit halten und die an das nördliche Adriaufer grenzenden Territorien im venezianischen Fahrwasser zu einer neuen Einheit finden konnten.

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