Wahrnehmung und Diversitätsmerkmale
In der Lehre fragen wir uns immer wieder, warum jede Veranstaltung anders verläuft. Warum es in manchen Veranstaltungen zu Kommunikationsschwierigkeiten mit und zwischen einzelnen Studentinnen und Studenten kommt. Oftmals müssen wir feststellen, dass Studentinnen und Studenten nicht aktiv partizipieren, unregelmäßig teilnehmen oder nicht die vereinbarten Leistungen erbringen. Dass erst bei einem studentischen Referat oder einer schriftlichen Arbeit ein gravierendes Problem auffällt. Gründe dafür mögen in der zunehmenden Diversität der Studierendengruppen liegen.
Selbstreflexion
Zur Wahrnehmung von Diversität müssen wir uns kontinuierlich zunächst selbst befragen:
- Reflektiere ich meine eigene Rolle als Frau, als Mann, als Other, in der Lehrsituation? Welche Rolle als Lehrende/r bringe ich aufgrund meiner soziokulturellen Herkunft, Hautfarbe, religiösen Weltanschauung / Verortung etc. mit?
- Welche Rolle spielen solche Merkmale der Studentinnen und Studenten für mich?
- Bin ich mir meiner eigenen Konstruktionen der oder des Anderen und Konstruktionen von Vorurteilen bewusst? Welche „Genderbrille“ bringe ich mit, welches Bild habe ich von einer/einem „guten“ Lernenden?
- Welche Privilegien habe ich aufgrund meiner Eigenschaften, meiner Gruppenzugehörigkeit, struktureller Rahmenbedingungen? Wie nutze ich meine Privilegien in der Lehre?
- Nehme ich unterschiedliche Voraussetzungen und Erwartungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wahr? Nehme ich alle Beiträge gleich ernst? Wem gewähre ich mehr Rederecht?
- Welche Keywords höre ich, welche Kategorisierungen nehme ich vor, um die Komplexität der oder des Anderen handhaben zu können?
Zweitens gilt es, die Wertigkeit der eigenen Wissenschaftskultur bzw. diversitätssensible Inhalte in der Lehre zu reflektieren:
- Welche gesellschaftlichen Modelle und Werte werden durch die verwendeten Texte und Materialien transportiert? In welchen kulturellen Kontexten ist ihre Entstehung zu verorten?
- Werden in den Texten oder Materialien Frauen, Männer, Other sichtbar oder unsichtbar thematisiert? Werden andere Diversitätskriterien benannt?
- Wie sehen Studentinnen und Studenten aus verschiedenen kulturellen Hintergründen diesen jeweiligen Ausschnitt? Wie sind sie selber darin repräsentiert?
- Welchen diskursiven Regeln folgen wir in unseren Diskussionen?
Mehrdimensionales Verständnis von Vielfalt – gleichzeitige Ungleichheite
Um Chancengleichheit und Diskriminierungsschutz gewähren zu können, ist es unabdingbar, sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten struktureller Benachteiligung zu beachten. Nur auf diese Weise können Hierarchien zwischen verschiedenen Ungleichheitsaspekten vermieden werden. Dies erfordert ein mehrdimensionales Verständnis von Vielfalt beziehungsweise Intersektionalität in der Lehre: Einzelne Diversitätsmerkmale sind weder in sich homogen, noch treten sie ausschließlich singulär auf. Aus einer Perspektive der Mehrdimensionalität kann etwa eine Kategorie wie „familiäre Situation“ nicht isoliert von anderen Kategorien wie „Geschlecht“ oder „Nationalität“ betrachtet werden. Vielmehr sind die Wechselwirkungen gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse, wie z.B. Rassismus, Klassismus, Gender, Diskriminierung körperlich/psychisch Benachteiligter zu berücksichtigen. Um gerechtere Lehr- und Lernverhältnisse herstellen zu können gilt es auch, die Bedeutung(en) und Implikation(en) von Intersektionalität bzw. die Verflechtung von Machtverhältnissen in der eigenen Lehre zu reflektieren.
Das breite Spektrum von Diversitätsmerkmalen lässt sich anhand des weit verbreiteten Modells der „Four Layers of Diversity“ von Gardenswartz und Rowe (1994) plastisch differenzieren. Dieses Modell ist eher statisch ausgerichtet, soll hier aber gleichwohl unter der Prämisse dynamischer Verflechtungszusammenhänge auf den Kontext der Hochschule übertragen werden:
Die in der obigen Grafik ausgewiesenen/benannten Dimensionen lassen sich wie folgt differenzieren:
- Persönlichkeit;
- Innere Dimension: relativ unveränderbare Diversitätsmerkmale wie geistige und körperliche Fähigkeiten, Alter, Hautfarbe, Bildungshintergrund, Migrationshintergrund/Migrationserfahrung, Nationalität (Internationale Studentinnen und Studenten, Geschlecht, sexuelle Orientierung;
- Äußere Dimension: relativ veränderbare Diversitätsmerkmale wie Hochschulzugangsberechtigung, Wohn-/Studienort, Fürsorgeaufgaben, Religion/Weltanschauung, sozioökonomische Lebensbedingungen, Berufserfahrung, Freizeitverhalten, Habitus/Auftreten;
- Organisationale Dimension: veränderbare Diversitätsmerkmale, die die Art der Zugehörigkeit innerhalb der Hochschule bestimmen wie Fachbereich/Institut/ wiss. Einrichtung/Studienverband, Gast-/Nebenhörer/Teilzeit/Weiterbildungsstudium, Studienabschluss, Promotion, Studienkombination, Studiengang, studentisches Arbeitsverhältnis (TutorIn/MentorIn/SHK), Modul, Studienschwerpunkt, Studienphase, Hochschul-/Fachsemester.