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Identität/Macht/Politik? Die Nuklearkrise und Nordkoreas Außenpolitik

Einleitung

Das Streben Nordkoreas nach Nuklearwaffen stellt eine der drängendsten sicherheitspolitischen Herausforderungen in Nordostasien dar. So ist das nordkoreanische Nuklearprogramm etwa mit vielfältigen Risiken der Weitergabe von Atomwaffen verbunden und stellt damit auch entsprechende internationale Ordnungsstrukturen wie den Vertrag über die Nichtverbreitung (NVV, 1968) vor unmittelbare Legitimitätsprobleme. Darüber hinaus birgt das Programm auch die Gefahr eines regionalen Wettrüstens und letztlich gar einer direkten militärischen Auseinandersetzung in Nordostasien.Trotz langjähriger Versuche der internationalen Gemeinschaft, Nordkorea von seinem Pfad der nuklearen Bewaffnung abzubringen, hat P’yŏngyang dieses Bestreben gegen alle internationalen Widerstände weitestgehend unbeirrt weiterverfolgt. Die Motive für das Streben nach Nuklearwaffen ebenso wie das einhergehende außenpolitische Verhalten Nordkoreas stellen trotz beträchtlicher politischer, medialer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit nach wie vor ein Rätsel für viele Beobachter dar. Basierend auf einer Darstellung der Genese der Nuklearkrise auf der koreanischen Halbinsel wird in diesem Beitragein Überblick über die bestehende Forschung gegeben, bevor abschließend auf der Grundlage eines poststrukturalistischen Ansatzes die komplexen Motive der Außen- und Sicherheitspolitik Nordkoreas im Kontext der Nuklearfrage analysiert werden.

Die Ursprünge des nordkoreanischen Nuklearprogramms reichen bis in die 1950er-Jahre zurück und werden gemeinhin auf die Unterzeichnung früher Kooperationsverträge mit der ehemaligen Sowjetunion zurückgeführt (vgl. etwa Mansourov 2004, Kim Jae-mok 1). Diesen schlossen sich 1959 ein Vertrag zur friedlichen Nutzung von Kernenergie sowie erste konkrete personelle und materielle Unterstützung an (vgl. Kim Jae-mok 1995: 14; Oberdorfer 1997: 2). Mit dem Bekanntwerden der Bauarbeiten an einem 5MW-Reaktor in der Yŏngbyŏn-Anlage in den frühen 1970er-Jahren traten die internationalen und insbesondere US-amerikanischen Bedenken hinsichtlich der nordkoreanischen Motive immer offener zu Tage. Auf Druck der Sowjetunion trat Nordkorea 1974 der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) bei, unterzeichnete ein partielles „Nuclear Safety Management Treaty“ und erlaubte regelmäßige Inspektionen (Kim Jae-mok 1995: 14). 1985 trat Nordkorea letztlich dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Atomwaffensperrvertrag, NVV) bei, wobei die nach Artikel 3 (innerhalb von 18 Monaten) obligatorische Unterzeichnung des Safeguards-Abkommens mit der IAEO zur Überwachung des Kernmaterials erst im Januar 1992 erzielt wurde. Zuvor hatte Nordkorea wiederholt die Unterzeichnung an den Abzug aller US-Nuklearwaffen aus Südkorea sowie an die Garantie gebunden, dass kein Land – insbesondere nicht die USA – Nordkorea mit Nuklearwaffen angreifen oder bedrohen dürfe.Nach dem Abzug der US-Nuklearwaffen und bis dato beispiellosen bilateralen Dialoginitiativen mit Seoul und Washington,unterzeichnete Nordkorea Anfang 1992 sowohl das Safeguards-Abkommen mit der IAEO, welches die Grundlage für die zwischen 1992 und 1993 stattfindenden sechs Inspektionsrunden in Nordkorea bildete, als auch die „Gemeinsame Erklärung zur Denuklearisierung der Koreanischen Halbinsel“ mit Südkorea.

Die erste Nuklearkrise und die Carter-Initiative

Nachdem die IAEO Unregelmäßigkeiten zwischen den erzielten Inspektionsergebnissen und dem zuvor bei der Behörde eingereichten Initialreport feststellte, kam es zu einer Verschärfung der Auseinandersetzung mit dem nordkoreanischen Regime (vgl. Oberdorfer 1997: 269; Reiss 1995: 241-243). Die IAEO forderte den Zugang zu sowie die Entnahme von Proben aus zwei von Nordkorea nicht deklarierten Einrichtungen, die im Verdacht standen Wiederaufbereitungsanlagen für kernbrennstoffhaltige Abfälle zu sein. Insbesondere letztere Forderung wurde von nordkoreanischer Seite jedoch mit dem Verweis auf den militärischen Charakter der Einrichtungen sowie die eigene Autonomie und Souveränität vehement zurückgewiesen. Am 12. März 1993 kündigte Nordkorea unter dem Eindruck der zunehmenden Spannungen mit den USA den Austritt aus dem Nichtverbreitungsvertrag an. Zwar suspendierte Nordkorea den Austritt aus dem NVV nach neuerlichen bilateralen Verhandlungen mit den USA, doch die nordkoreanische Weigerung, der IAEO vollen Zugang zu den verdächtigen Einrichtungen und die Untersuchung der (1989) entnommenen Brennstäbe zu gewähren, führte zur weiteren Eskalation des Konflikts. Das erneute Scheitern von Gesprächen zwischen Nordkorea und den USA sowie der IAEO, Nordkoreas angedrohter Rückzug aus der IAEO und die Entscheidung P’yŏngyangs, den 5MW-Reaktor in der Yŏngbyŏn-Anlage herunterzufahren und Brennstäbe zu entnehmen, führten die koreanische Halbinsel 1994 an den Rand eines Krieges. Auf dem Höhepunkt des Konflikts im Juni 1994 erwog die Clinton-Administration einen Präventivschlag gegen die Nuklearanlagen in Yŏngbyŏn, um die Wiederaufbereitung von Plutonium mit militärischen Mitteln zu verhindern (vgl. hierzu etwa Harnisch und Wagener 2010: 135). Dieser wurde letztlich erst durch eine „private Initiative“ des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter in P’yŏngyang abgewendet. In dem Treffen mit Carter bot Kim Il Sung [Kim Il Sŏng] ein Einfrieren des Nuklearprogramms für eine Reihe spezifischer Zusicherungen seitens der USA an, insbesondere der Beteuerung gegen einen nuklearen Angriff sowie der Lieferung zweier Leichtwasserreaktoren. Trotz des plötzlichen Todes Kim Il Sungs im Juni 1994 führten die anschließenden Verhandlungen zwischen Nordkorea und den USA im Oktober 1994 zur Unterzeichnung des sogenannten Genfer Rahmenabkommens (Agreed Framework), welches nachfolgend zusammen mit der neu etablierten Korean Peninsula Energy Development Organization (KEDO) als quasi-institutioneller Rahmen zur Entschärfung der ersten Nuklearkrise fungierte (vgl. hierzu etwa Harnisch und Maull 2000). Mit dem Abkommen erklärte sich Nordkorea u. a. dazu bereit, seine bisherigen Nuklearaktivitäten einzufrieren, die bestehenden Nuklearanlagen abzubauen und diesen Prozess durch die IAEO überwachen zu lassen. Im Gegenzug verpflichteten sich die USA neben dem Verzicht auf einen nuklearen Angriff etwa zur Lieferung von zwei modernen, aber weitestgehend proliferationsresistenten Leichtwasserreaktionen an P’yŏngyang, das bis zu deren geplanter Fertigstellung im Jahr 2003 entsprechende Ausgleichslieferungen von Schweröl erhalten sollte. Nach anfänglichen Fortschritten gestaltete sich jedoch insbesondere die Finanzierung der Schweröllieferungen zunehmend als schwierig – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass diese wiederholt zum Spielball innenpolitischer Auseinandersetzungen in Washington wurden. Politisch erschwerend kam hinzu, dass P’yŏngyang auch weiterhin Trägersysteme für Atomwaffen testete und exportierte. Im Jahr 1999 erwirkte der republikanisch geführte Kongress die Einsetzung des Sonderbeauftragten William J. Perry, der die amerikanische Nordkoreapolitik einer formellen Überarbeitung unterzog. Perry empfahl u.a. die Aufnahme von Verhandlungen zur Beendigung der Trägersystemaktivitäten Nordkoreas, was letztlich zu erneuten bilateralen Gesprächen und einem Besuch von Außenministerin Madeleine Albright im Oktober 2000 in P’yŏngyang führte.

Die zweite Nuklearkrise und die Sechs-Parteien-Gespräche

Trotz anfänglich anders lautender Rhetorik deutete sich nach dem Amtsantritt der Regierung unter dem neu gewählten US-Präsident George W. Bush im Januar 2001 rasch eine Abkehr von der (bilateralen) Engagement-Politik Clintons gegenüber Nordkorea an (Kindermann 2005: 353). So wurden die Fortführung des bilateralen Normalisierungsprozesses sowie die fortgesetzte Beteiligung der USA am KEDO-Prozess von einem Zugang der IAEO zu den verdächtigen Standorten sowie von weiteren Abrüstungsmaßnahmen bei Trägersystemen und konventionellen Waffen abhängig gemacht. Insbesondere nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verhärtete sich die Haltung der Bush-Regierung, die eine „außenpolitische Diplomatie der aktiven Proliferationsverhinderung“ als ersten Schritt im Umgang mit der „Drohpolitik von Schurkenstaaten“ etablierte – und im Zuge dessen den Kampf gegen den internationalen Terrorismus ins Zentrum ihrer außenpolitischen Agenda rückte. Durch die Brandmarkung Nordkoreas als Entwickler von Massenvernichtungswaffen und Sponsor des internationalen Terrorismus wurde P’yŏngyang unmittelbar in diese außenpolitische Problemlage einbezogen. Nachdem die USA im Oktober 2001 die Absicht verlauten ließen, die Verhandlungen mit Nordkorea bezüglich dessen Raketenprogramm nicht wiederaufzunehmen („no negotiations – no dialogue“), antwortete P’yŏngyang am 27. Oktober 2001 mit einer Erklärung des Außenministeriums, in der man die USA der „Einfrierung des amerikanisch-nordkoreanischen Dialogs“ beschuldigte und einen starken Kontrast zur Clinton-Ära feststellte, in der ein intensiver Dialog zwischen beiden Ländern bestanden habe (The People’s Korea, 27. Oktober 2001). Die Rhetorik wurde schließlich durch George W. Bushs Rede zur Lage der Nation im Januar 2002 weiter verschärft, in welcher dieser ankündigte, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus notfalls auch präventiv zu führen, und Nordkorea (zusammen mit Iran und Irak) in die viel zitierte „Achse des Bösen“ einbezog, deren „Streben nach Massenvernichtungswaffen aktiv bekämpft“ werden müsse. P’yŏngyang bezichtigte Washington, Nordkorea machtpolitisch erdrücken zu wollen und zum Ziel militärischer Offensiven zu machen (vgl. etwa Autorenkollektiv des Instituts für die Wiedervereinigung des Vaterlandes 2004: 32). Vor diesem Hintergrund habe Nordkorea keine andere Wahl, als sich „mit mächtigen Angriffs- und Verteidigungswaffen auszurüsten“ (vgl. The People’s Korea, 9. Februar 2002).

Eine scharfe Eskalation in den bilateralen Beziehungen zwischen Washington und P’yŏngyang ergab sich im Oktober 2002 im Zuge eines Nordkorea-Besuchs des US-Unterhändlers James Kelly. Laut US-Darstellung habe Nordkorea – konfrontiert mit konkreten Beweisen – nach anfänglichem Dementi die Existenz eines Geheimprogramms zur (urangestützten) Herstellung von nuklearen Waffen eingestanden. Nordkorea wies diese Darstellung entschieden zurück und reagierte auf die von den USA erwirkte Aussetzung der Schweröllieferungen durch die KEDO mit der Ausweisung der IAEO-Inspekteure, der Ankündigung zum Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag im Januar 2003 sowie ab Februar mit der Reaktivierung des 5MW-Reaktors in Yŏngbyŏn. Nordkoreanische Offizielle erklärten, dass die Forderung der IAEO und der USA zur zügigen und nachweisbaren Aufgabe des Nuklearprogramms Ausdruck einer Politik seien, deren Ziel die Unterdrückung Nordkoreas sei. Die Lösung der Krise erfordere einen bilateralen Dialog zwischen Nordkorea und den USA „auf Augenhöhe“, an dessen Ende ein Nichtangriffspakt stehen müsse (The People’s Korea, 19. Januar 2003). Washington lehnte einen solchen bilateralen Lösungsmechanismus jedoch strikt ab und setzte sich stattdessen für die Etablierung eines multilateralen Forums unter Einbeziehung der regionalen Schlüsselmächte ein.

Unter dem Eindruck der dramatischen Zuspitzung der Beziehungen zwischen den USA und Nordkorea schaltete sich China in den Konflikt ein und versuchte, in der Rolle eines proaktiven Mediatorsdie weit auseinander liegenden Positionen mittels „Pendeldiplomatie“ zu überbrücken, um so über die Initiierung eines diplomatischen Prozesses eine militärische Auseinandersetzung auf der koreanischen Halbinsel zu verhindern (Kim Samuel S. 2006). Nach einer gescheiterten Verhandlungsrunde zwischen den USA, Nordkorea und China im April 2003 gelang es Peking – nicht zuletzt aufgrund einer Kombination aus Warnungen und Zusicherungen – im Juli 2003,Nordkorea zur Zustimmung eines mit den USA und Südkorea abgestimmten Vorschlages zu bewegen, nach dem die trilaterale Initiative durch die Einbeziehung Russlands, Japans und Südkoreas zu den sogenannten Sechs-Parteien-Gesprächen ausgeweitet werden sollten.

Die ersten Verhandlungsrunden der Sechs-Parteien-Gespräche, welche im August 2003 in Peking ihren Anfang nahmen, offenbarten erneut die weit auseinanderliegenden Positionen der Teilnehmer, insbesondere der USA und Nordkoreas. Nordkoreas Vier-Stufen Paket-Vorschlag zielte auf eine tit-for-tat-Lösung ab, in deren Verlauf die DVRK und die USA Zug um Zug und nach einem festgelegten Ablaufplan eine Reihe spezifischer Leistungen und Gegenleistungen erbringen sollten, wobei die Forderungen nach einer bilateralen Verhandlungslösung mit den USA weiterhin der Kern der nordkoreanischen Position blieb.2 P’yŏngyang präferierte damit eine Paketlösung auf der Grundlage simultaner Aktionen, nach der die Aufgabe des Nuklearprogramms und die Rückkehr internationaler Beobachter nur möglich sei, wenn sich die USA im Gegenzug dazu bereit erklärten, einen Nichtangriffspakt zu unterzeichnen, wirtschaftliche Hilfe bereitzustellen und die Beziehungen zu Nordkorea dauerhaft zu normalisieren. Die amerikanische Seite, die eine solche Paketlösung ablehnte, bekräftigte hingegen, dass man zum einen keine Lösung des Konflikts über bilaterale Verhandlungen mit der DVRK anstrebe und dass zum anderen die nachweisliche und unumkehrbare Aufgabe des Nuklearprogramms am Beginn eines jeglichen politischen Prozesses stehen müsse.

Ein erster Durchbruch in den Verhandlungen gelang letztlich erst während der vierten Verhandlungsrunde mit der Verabschiedung des „Joint Statement“ vom 19. September 2005, welches einen konkreten Weg zu einer Verhandlungslösung der nordkoreanischen Nuklearfrage aufzeigte.3 Die damit einhergehende Hoffnung auf einen Durchbruch zur Lösung der Nuklearfrage wurde jedoch unmittelbar nach der Verabschiedung wieder enttäuscht. Ursächlich hierfür war zum einen die vage Formulierung des Abkommens (u. a. hinsichtlich der Reihenfolge und des zeitlichen Rahmens in welchem die Beschlüsse umgesetzt werden sollten), welche letztlich zu gänzlich unterschiedlichen Interpretationen durch die USA und Nordkorea führte. Zum anderen stellten die USA im September 2005 die in Macau ansässige Banco Delta Asia (BDA) unter Sektion 311 des „Patriot Act“ als Finanzinstitution unter dringenden Verdacht der Geldwäsche und froren rund 50 nordkoreanische Konten ein (Kwak Tae-Hwan und Joo Seung-Hoo, 2007; Gaylord 2008). Nordkorea, das die amerikanischen Anschuldigungen vehement zurückwies, machte daraufhin eine weitere Teilnahme an den Sechs-Parteien-Gesprächen unmittelbar von der Aufhebung der Finanzsanktionen abhängig und schwenkte (erneut) auf eine autonomiemaximierende Außenpolitik um (Ballbach 2013). So kam es seitens des nordkoreanischen Regimes am 5. Juli 2006 zum Abschuss von mehreren Kurz- und Langstreckenraketen sowie am 9. Oktober zum ersten Nukleartest. Diese von der internationalen Gemeinschaft als provokant verurteilten Maßnahmen führten nicht zuletzt zu den (auch von China unterstützten) UN-Sicherheitsrats-Resolutionen 1695 und 1718, in welchen u.a. zusätzliche finanzielle und wirtschaftliche Sanktionen beschlossen wurden, sowie zur weiteren Verschärfung bestehender bilateraler Sanktionen gegen Nordkorea, etwa durch die USA und Japan.

Laut dem südkoreanischen Nordkoreaexperten Paik Haksoon (2007: 261) bedeutete der Nukleartest ein Debakel für die bis dato umgesetzten Bemühungen der USA und der internationalen Gemeinschaft, Nordkoreas Streben nach Nuklearwaffen zu verhindern. Gleichwohl wirkte das Ereignis auch als Katalysator für erneute diplomatische Interaktionen zwischen den Parteien. Im Rahmen diplomatischer Konsultationen mit China erklärte Nordkorea seine grundsätzliche Bereitschaft zur Wiederaufnahme der Sechs-Parteien-Gespräche, wenn die USA eine ernsthafte Bereitschaft zur Lockerung der Finanzsanktionen erkennen ließen. Vor diesem Hintergrund markierten die bilateralen Konsultationen zwischen Christopher Hill und Kim Kye-Gwan im Januar 2007 in Berlin einen aussichtsreichen Fortschritt. Wie diplomatische Quellen später berichteten, einigten sich die beiden Verhandlungsführer nicht nur auf die generelle Wiederaufnahme der Sechs-Parteien-Gespräche, sondern auch auf die grundlegenden Eckpunkte und einen konkreten Fahrplan zur Implementierung jenes Abkommens, das wenig später als „February 13 Agreement“ am Ende der dritten Sitzung der fünften Verhandlungsrunde beschlossen wurde. Nachdem ebenfalls noch im Januar 2007 erste Fortschritte in der Banco-Delta-Asia-Frage erzielt wurden,versicherte Nordkorea in dem Februar-Abkommen, innerhalb von 60 Tagen die wesentlichen Nukleareinrichtungen der Yŏngbyŏn-Anlage unter internationaler Aufsicht zu schließen. Im Gegenzug sollte P’yŏngyang umfassende Hilfslieferungen sowie 50.000 Tonnen Schweröl erhalten. Darüber hinaus verpflichteten sich die USA und Japan zur Aufnahme eines bilateralen Dialogs zur Normalisierung der Beziehungen mit der Volksrepublik (vgl. hierzu etwa Chae Kyu-Chul 2007; Ballbach 2008).

Im Juli 2007 versicherte Nordkorea, eine vollständige Erklärung über „alle Nuklearanlagen, Materialien und Programme“ an die USA zuübergeben und diese bis Ende des Jahres 2007 untauglich zu machen. Nordkorea lud ein Expertenteam aus den USA, China und Russland zur Visite der Yŏngbyŏn-Anlage ein, um spezifische Schritte zu dessen Abschaltung zu diskutieren. Im November 2007 begann P’yŏngyang mit der Unbrauchbarmachung zentraler Einrichtungen der Yŏngbyŏn-Anlage und händigte im Mai 2008 ein ca. 18.000 Seiten umfassendes Dokumentenpaket mit Informationen zum eigenen Nuklearprogramm an die USA aus. Im Juni 2008 folgte die medienwirksame Sprengung eines Kühlturms in der Yŏngbyŏn-Anlage. Die USA nahmen Nordkorea daraufhin im Oktober 2008 von der Liste der den Terrorismus unterstützenden Staaten. Während insbesondere das Februar-Abkommen von 2007 also zu substanziellen Fortschritten auf dem Weg zur Denuklearisierung Nordkoreas führte, blieben einige zentrale Fragen gleichwohl unbeantwortet. So gab es etwa unterschiedliche Auffassungen zur Etablierung eines Verifikationsmechanismus, wodurch der Prozess ab Ende 2008 erneut ins Stocken geriet. Seither führten weitere Raketentests und der zweite und dritte Nukleartest Nordkoreas im Mai 2009 und im Februar 2013 nicht nur zu schärferen Sanktionen gegen P‘yŏngyang, sondern trugen auch zu einem erneuten Stillstand in den Verhandlungen um das Nuklearprogramm bei. In der überarbeiteten Verfassung von 2012 bezeichnete sich das Land erstmals als Nuklearstaat und scheint damit (vorerst) alle Zweifel am eigenen Streben nach Nuklearwaffen ausgeräumt zu haben.

Angesichts der Tatsache, dass die Nuklearkrise auf der koreanischen Halbinsel eine der drängendsten sicherheitspolitischen Herausforderungen der politischen Gegenwart Nordostasiens darstellt, ist es kaum verwunderlich, dass diese Thematik immer wieder das Interesse der internationalen Forschung geweckt hat.4 Gleichwohl muss festgestellt werden, dass nur vergleichsweise wenige Arbeiten den Wert sozialwissenschaftlicher Theorien zur Analyse von Nordkoreas Motiven und dessen Außen- und Sicherheitspolitik im Kontext der Nuklearfrage nutzen. Vielmehr wird die Forschung dominiert von deskriptiv-historiografischen Arbeiten sowie politikrelevanten und sicherheitsorientierten Bewertungen der Nuklearkrise. Dabei werden insbesondere die verschiedenen politisch-diplomatischen Initiativen und Prozesse nachgezeichnet und/oder die mit dem Nuklearprogramm einhergehenden Herausforderungen für die internationale Gemeinschaft sowie vermeintlich adäquate Strategien und Politiken gegenüber Nordkorea diskutiert (Vgl. etwa Wit, Poneman und Gallucci 2004; Pritchard 2007; Funabashi 2007.). Nur ein (ungleich kleinerer) Teil der Forschung legt den analytischen Fokus hingegen unmittelbar auf Nordkorea und nimmt auch die innenpolitische Dimension des nuklearen Strebens Nordkoreas in den Blick.

Die theoretisch informierte Debatte lässt sich heute im Wesentlichen auf die drei zentralen theoretischen Denkschulen der Internationalen Beziehungen zurückführen: (Neo-)Realismus, Liberalismus (und seine Derivate) sowie Konstruktivismus. Einen realistischen Theorieansatz vertritt beispielsweise der Politikwissenschaftler Victor Cha (vgl. Cha und Kang 2003; Cha 2002). Zur Erklärung von Nordkoreas „wechselhafter Nuklearpolitik“ schlägt er ein „coercive bargaining-Modell“ vor, nach dem Nordkoreas dramatischer Niedergang seit den späten 1980er-Jahren dessen Streben nach nuklearen Abschreckungswaffen in der Tat eher befördert habe. Nordkorea, so Cha, sei ein militärisch schwacher und dennoch bedrohlicher Staat, dessen Führung sich in einer zunehmend aussichtlosen Position wiederfand. Vor diesem Hintergrund besitze die nordkoreanische Führung einen Anreiz, eine risikoreichere Außenpolitik umzusetzen, um letztlich den status quo zu den eigenen Gunsten zu verändern. So habe P’yŏngyang letztlich eine Strategie der „begrenzten Provokationen“ genutzt, um Kompromisse von den USA und Südkorea zu erzwingen.

Im Unterschied dazu basieren David Kangs Beiträge auf der theoretischen Grundlage des Neoliberalen Institutionalismus, angereichert mit Argumenten aus dem Bereich der Internationalen Politischen Ökonomie (Cha und Kang 2003: 45). Zum besseren Verständnis und zur Erklärung der Intentionen und des Verhaltens Nordkoreas argumentiert er für einen U.S. threat-Ansatz, nach dem das Ende des Kalten Krieges zu dramatischen Verschiebungen in der Machtbalance des internationalen und regionalen Systems führte – und zwar zuungunsten Nordkoreas. Diese nachteilige Position gegenüber den USA und Südkorea führte laut Kang zu legitimen Sicherheitsbedenken seitens Nordkoreas. Das Nuklearprogramm stelle demnach eine letztlich nachvollziehbare Reaktion auf diese Sicherheitsbedenken der Führung in P’yŏngyang dar. Kang schlussfolgert, dass Nordkorea angesichts der eigenen nachteiligen Position zunehmend verzweifelt darum bemüht sei, eine Übereinkunft mit den USA zu erzielen – eine solche jedoch nicht zuletzt an der Haltung Washingtons scheitere.

Was die rationalistischen Ansätze von Cha und Kang eint, ist deren Fokus auf systemische und materielle Faktoren, welche die nordkoreanische Entscheidung Atomwaffen zu entwickeln sowie die hiermit verbundene Außenpolitik als direkte Reaktion auf externe Bedrohungen erklären, als ein verzweifelter Versuch, die eigene Sicherheit in einem anarchischen internationalen System zu gewährleisten (Goh Hui Lynn 2006: 1). Doch ist die Bandbreite möglicher Theorien weitaus größer als die typische IR-Realismus/Liberalismus-Debatte vermuten lässt, die letztlich auch von Cha und Kang bedient wird. Insbesondere von konstruktivistischer Seite wurden und werden den traditionellen Ansätzen der Internationalen Beziehungen weitreichende Erklärungsdefizite vorgeworfen, durch welche zentrale Elemente der komplexen Motivationskette Nordkoreas und dem Verständnis der Außen- und Sicherheitspolitik P’yŏngyangs unberücksichtigt bleiben. Vor diesem Hintergrund rückten in den vergangenen Jahren sogenannte immaterielle Erklärungsfaktoren wie beispielsweise Werte, Normen oder Identitäten sukzessive in den Mittelpunkt des analytischen Interesses (vgl. etwa Ballbach 2014; Hymans 2008; Kim Sung Chull 2009; Shin Soon-Ok 2009). In Jacques E. C. Hymans’ (2008) konstruktivistischer Analyse der nuklearen Intentionen und Kapazitäten Nordkoreas spielen ‚nicht-rationale Faktoren‘ (non-rational factors) wie etwa Emotionen eine wichtige Rolle. Er argumentiert, dass nationale Identitätskonzeptionen der politischen Führung eine „ausschlaggebende Basis für revolutionäre außenpolitische Entscheidungen“ darstellen, und damit auch für die Frage, warum ein Staat nach nuklearer Bewaffnung strebt – oder nicht (Ebd. 263). Im Falle einer „oppositionell-nationalistischen“ Identitätskonzeption des Führers, so Hymans, stellt das Streben nach Nuklearwaffen quasi eine natürliche Entscheidung dar, da diese Konzeption identitätsgetriebenen Stolz mit Angst kombiniert. Nuklearwaffen können demnach dazu beitragen, Angst zu überwinden und gleichermaßen Stolz aufzubauen. So betrachtet stellt Nordkoreas Entscheidung zur Nuklearwaffenproduktion nicht das Resultat einer kühlen Kalkulation dar, sondern ist primär auf psychologische Faktoren zurückzuführen, getrieben durch solche immateriellen Faktoren wie Identität und Emotionen.

Auf der Grundlage eines poststrukturalistischen Ansatzes analysiert Ballbach (2014) den performativen Zusammenhang zwischen Identität und Nordkoreas Außenpolitik im Kontext der Nuklearfrage, die als eine zentrale Identitätspraktik verstanden wird, die von und für den nordkoreanischen Staat performed wird. Nordkoreas Außenpolitik im Kontext der Nuklearfrage stellt somit einen zentralen Ort der (Re-)Konstruktion von staatlicher Identität dar. Im Rahmen spezifischer außen- und sicherheitspolitischer Diskurse wird Nordkoreas Nuklearprogramm als eine akzeptierte und angemessene Maßnahme für den Schutz des Selbst gegen spezifisch identifizierte Andere (insbesondere die USA) wirksam gemacht. Durch diese Diskurse werden jene Grenzlinien konstituiert, innerhalb welcher eigene und fremde Identitäten konstruiert, gegenwärtige Entwicklungen und Herausforderungen interpretiert und akzeptiertes bzw. angemessenes von nicht akzeptiertem oder unangemessenem Verhalten differenziert werden. Dabei werden mit der spezifischen Sprache des Diskurses und den inhärenten Identitäts- und Bedrohungskonstruktionen konkrete (politische) Funktionen verbunden: Erstens wird die Nuklearfrage im nordkoreanischen Diskurs als ein weltpolitisch bedeutender Konflikt zwischen den USA und Nordkorea konstruiert, welcher letztlich über das gesamte Schicksal der koreanischen Nation entscheidet. Zum zweiten wird auf der Grundlage der Identitätskonstruktion der wesentlichen Konfliktparteien – der eigenen als gut, bedroht und moralisch rechtens, die der USA als einem bösen, bedrohlichen und inhumanen Feind – der Konflikt mit den USA moralisiert und so von einem politischen Konflikt in einen grundlegenden Kampf zwischen den Kräften des Guten und des Bösen transformiert. Eine dritte Funktion dieser außenpolitischen Diskurse ist ferner die Konstruktion von immanenten und katastrophalen (nicht nur, aber insbesondere) von den USA ausgehenden Gefahren, die es der nordkoreanischen Führung die Ablenkung der Öffentlichkeit von dringlicheren (internen) Problemen ermöglichen sowie gleichermaßen auch unmittelbar zur Legitimierung der eigenen Politik und der Delegitimierung von etwaigem Dissens und Kritik sowie zur Aufrechterhaltung kollektiver Identität beitragen.

Auf der Grundlage dieser Identitäts- und Bedrohungskonstruktionen wird das Nuklearstreben diskursiv als gerecht und angemessen konstruiert und normalisiert, eine defensive und angemessene Maßnahme, welche angesichts der feindlichen Identität der USA aus einer moralischen Obligation und historischen Verantwortung heraus getroffen werden musste,um die Nation und deren Souveränität gegen die konstante Bedrohung von auswärtigen Mächten (oese) zu verteidigen. So betrachtet stellt Nordkoreas Nuklearwaffenprojekt und die damit verbundene Außenpolitik ein Ensemble von diskursiven und politischen Praktiken dar, welche auf der Grundlage der Logik von Identität und Differenz, von Inklusion und Exklusion funktionieren. Das Nuklearprogramm besitzt daher für Nordkorea spezifische Bedeutungen, die weit über die konventionellen strategisch-politischen Erklärungen hinausgehen.

1 Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung von: Ballbach, Eric J. (2015): Identität/Macht/Politik: Die Nuklearkrise und Nordkoreas Außenpolitik, in: Lee, Eun-Jeung, Hannes B. Mosler (Hrsg.): Länderbericht Korea, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, S. 508-523

2 Gemäß dem nordkoreanischen Vorschlag würde Nordkorea in der ersten Phase nach der Lieferung von Schweröl und (deutlich höheren) Lebensmittellieferungen eine Absichtserklärung hinsichtlich des Abbaus des Nuklearprogramms eingehen. Nach der Unterzeichnung eines Nichtangriffspakts und einer angemessenen Energie-Kompensation durch die Verzögerung des Baus der Leichtwasserreaktoren würde P’yŏngyang die Einfrierung der Nuklearanlagen und Inspektionen einleiten. In der dritten Phase solle im Gegenzug zu der Einleitung der politischen Normalisierung zu Japan und der USA die Raketenfrage gelöst werden. Nach dem Abschluss des Baus der LWRs solle in der vierten Phase das dismantlement der Nuklearanlagen abgeschlossen werden.

3 Mit dem Abkommen erklärte sich Nordkorea grundsätzlich dazu bereit, auf die Entwicklung von Atomwaffen zu verzichten, in den Geltungsbereich des Atomwaffensperrvertrages zurückzukehren und die Kontrolle der IAEO zu genehmigen. Die USA versicherten im Gegenzug, keine Atomwaffen in Südkorea zu stationieren, weitreichende Sicherheitsgarantien für Nordkorea zu gewähren, und stellten für den Fall, dass Nordkorea sein Atomprogramm aufgibt, ferner auch zusätzliche Energielieferungen in Aussicht. Vgl. zu einer umfassenden Analyse des Abkommens etwa: Niksch u. a. (Hg.) 2005.

4 Vgl. zu einem ausführlichen Überblick über die Forschungsliteratur etwa: Goh Hui Lynn 2006.

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