Nordkoreas Führer: Kim Jong Il – Der Erbe
Einführung – Vom Vater zum Sohn
Als Kim Il Sung am 8. Juli 1994 im Alter von 84 Jahren starb, brach in Nordkorea eine bis dato nur selten gesehene Form der kollektiven Volkstrauer aus. Während viele internationale Beobachter dem nordkoreanischen System daraufhin sein baldiges Ende prognostizierten, war intern die Frage der Nachfolge zu diesem Zeitpunkt bereits lange entschieden. Wie nachfolgend näher beleuchtet wird, wurde Kim Jong Il etwa 20 Jahre auf diese Machtübernahme vorbereitet. Die Entscheidung Kim Il Sungs, die Nachfolgefrage bereits so früh zu regeln, liegt in einer Reihe komplexer Bedingungen und Entwicklungen im internationalen und im nationalen Umfeld seit Mitte der 50er Jahre begründet, zu denen etwa Chruschtschows Ent-Stalinierungskampagne in der Sowjetunion, Lin Biaos Rebellion gegen Mao Zedong, Kim Yong Jus schlechte physische Verfassung und letztlich auch Kim Il Sungs eigener Gesundheitszustand gezählt werden müssen. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen legte sich der um sein politisches Erbe besorgte Kim Il Sung bereits sehr früh auf Kim Jong Il als seinem Nachfolger fest und baute dessen politische Karriere sowie einen ebenfalls umfassenden Führerkult Schritt für Schritt auf.
Persönliche und politische Sozialisation bis 1964
Den Lebensweg und die politische Sozialisation Kim Jong Ils exakt nachzuzeichnen ist, ähnlich wie bereits bei Kim Il Sung oder u.U. sogar noch mehr, ein äußerst schwieriges Unterfangen, denn auch diese Entwicklung wird zu weiten Teilen von der staatlichen Propaganda überlagert. Nichtsdestotrotz sind die Eckdaten und grundsätzlichen Rahmenbedingungen bekannt, innerhalb derer sich Kim Jong Il persönliche und politische Sozialisation vollzog.
Laut nordkoreanischer Darstellung, die sowohl in den offiziellen Biografien Kim Jong Ils als auch in Kim Il Sungs Autobiografie ‚With the Century‘ nierdergeschrieben ist, wurde Kim Jong-Il am 16. Februar 1942 in einem Geheimcamp von anti-japanischen Guerillakämpfern am Fuße der Paekdu-Berges als ältester Sohn Kim Il-Sŏng und Kim Chŏng-Suk geboren. Doch bereits im Hinblick auf diese scheinbar unverfänglichen Angaben herrschen erste Uneinigkeiten unter unabhängigen Beobachtern; diese sind sich nämlich weder über das Geburtsjahr, noch über den Geburtsort vollständig einig. Vieles deutet darauf hin, dass Kim Jong Il im sowjetischen Dorf Wjatskojeetwa 70 km nordöstlich von Chabarowskgeboren wurde – also nicht im Paekdu-Gebirge – und zwar am 16. Februar 1941 – nicht 1942. Die Gründe für solche Änderungen seitens der nordkoreanischen Geschichtsschreiber liegen im Wesentlichen in der bereits von Kim Il Sung bekannten Mythenbildung um den nordkoreanischen Führer. Mt. Paekdu gilt in Korea als „heiliger Ort“, um den sich ohnehin bereits zahllose Mythen und Legenden ranken. Dass Kim Jong Il angeblich ausgerechnet dort geboren wurde, soll die symbolische Nachricht vermitteln, dass er bereits zum Zeitpunkt seiner Geburt als Führer Nordkoreas vorherbestimmt war. Die Gründe für die nachträgliche Änderung des Geburtsjahres sind hingegen nicht exakt bekannt; es wird jedoch vermutet, dass dies damit zu tun hat, dass die Geburtstage von Kim Il Sung und Kim Jong Il – die beiden wichtigsten Feiertage in Nordkorea – soz. synchronisiert werden sollten.
Hilfreich zur Erfassung von Kim Jong Ils politischer Sozialisation ist die Betrachtung der innenpolitischen Rahmenbedingungen, innerhalb welcher sich diese Sozialisation vollzog. Die frühen Entwicklungsjahre Kim Jong Ils waren geprägt durch die Teilung Koreas und den Koreakrieg, der den Kalten Krieg in Ostasien verfestigte und die Feindschaft mit Südkorea und dessen Verbündeten vertiefte, den zunehmenden Konflikt zwischen der Sowjetunion und China, die Etablierung der Chuch’e-Ideologie sowie die gezielte Ausschaltung der politischen Widersacher Kim Il Sungs. Darüber hinaus spielten insbesondere auch der im Alltagsleben und im politischen Leben ritualisierte Anti-Amerikanismus sowie der mithilfe anderer sozialistischer Staaten wie auch der Chollima-Massenmobilisierungskampagne rasanten Erholung von den kriegsbedingten wirtschaftlichen Folgen eine formative Rolle. All diese Ereignisse, davon kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden, beeinflussten direkt die erkenntnistheoretische Entwicklung des jungen Kim Jong Ils wie auch der gesamten nordkoreanischen Gesellschaft: Noch wesentlich unmittelbarer wirkte sich jedoch der direkte Bezug zu seinem Vater Kim Il Sung aus. Von seiner Kindheit an schien Kim Jong Il äußerst perzeptiv für die Aktivitäten seines Vaters zu sein. Bereits während seiner College-Ausbildung begleitete Kim Jong Il seinen Vater zu Massenveranstaltungen, zu Treffen der Partei und der Armee sowie zu Auslandsreisen. Im Grunde genommen wuchs er also inmitten der Guerillakreise um seinen Vater Kim Il Sung auf. Die einfache Tatsache, dass Kim Jong Il der Sohn des obersten Führers und somit direkter Teil der über alles erhabenen Guerillatruppe war, wurde zum Schlüsselfaktor seines späteren politischen Erfolges. Als Sohn von Kim Il Sung erhielt er eine besondere Ausbildung sowie eine Sonderbehandlung in nahezu allen Bereichen seines Lebens und seiner Ausbildung. Dazu kam, dass Kim Jong Il als äußerst ambitioniert und machtorientiert beschrieben wird. Diese Ambitionen begannen sich insbesondere nach seinem Studium mit seinen Aktivitäten innerhalb der Koreanischen Arbeiterpartei zu entfalten. Nach nordkoreanischen Angaben nahm Kim Jong Il im September 1960 das Studium der „politischen Ökonomie“ an der Kim Il Sung-Universität auf, der wichtigsten Bildungsinstitution des Landes, wo er eine exklusive Betreuung genoss. Die dortige Ausbildung war soz. der erste konkrete und praktische Schritt, den Kim Il Sung unternahm, um Kim Jong Ils späteren Auftritt auf der politischen Bühne vorzubereiten, der mit seiner vorbereitenden Arbeit innerhalb der Parteistrukturen zwischen 1964 und 1974 dann verfestigt wurde.
Die „Parteijahre“ – Der Weg zum politischen Erbe (1964-1974)
Nachdem Kim Jong Il im Juli 1961 offiziell Mitglied der „Koreanischen Arbeiterpartei“ wurde und schließlich im März 1964 seinen Abschluss an der Kim Il Sung-Universität ablegte, begannen für Kim Jong Il die Jahre der vorbereitenden Parteiarbeit. Während dieser Zeit erlernte er die Funktionsweisen und Arbeitsmechanismen der Partei und des Kabinetts. Gleichwohl war es zu dieser Zeit Mitte der 60er Jahre noch nicht endgültig sicher, ob Kim Jong Il tatsächlich zum Nachfolger Kim Il Sungs bestimmt werden würde. Vielmehr musste Kim Jong Il in den Jahren zwischen 1964 und 1974, abseits der notwendigen persönlichen Bande, über Ergebnisse in der konkreten Parteiarbeit seine Qualitäten sowohl gegenüber seinem Vater als auch dessen Guerillaclique unter Beweis stellen. M.a.W. kann man sagen, dass Kim Jong Ils Familienzugehörigkeit sowie seine Verbundenheit zur Guerillaclique zwar unabdingbare Voraussetzungen darstellten, um langfristig die Macht in Nordkorea zu übernehmen. Gleichermaßen sah er sich jedoch auch mit der ebenso notwendigen Voraussetzung konfrontiert, seinen Willen und seine Durchsetzungsfähigkeit sowie seine Führungsqualitäten unter Beweis zu stellen: Diese bewies er zwischen 1964 und 1974 v.a. dadurch, dass er den langfristigen Machtkampf (insbesondere gegen Kim Yŏng-ju und Kim Sŏng-ae) um Platz 2 in der nordkoreanischen Machthierarchie für sich entscheiden konnte. Im Zuge dieses Machtkampfes erlernte Kim Jong Il die Regeln des politischen Spiels in einem totalitären Staat.
Offiziell begann Kim Jong Il seine Parteikarriere im „Organization Department of the Central Committee of the Party” im Juni 1964. Wenn man die Koreanische Arbeiterpartei (조선로동당, KWP) als das mächtigte Organ des nordkoreanischen Staates unter kimIl Sung betrachtet, dann kann man die Organisationsabteilung als das mächtigste Element innerhalb der Partei beschreiben.Innerhalb der Organisationsabteilung arbeitete Kim Jong Il zuerst für die „central guidance section“(chungang chidokwa,중앙지도과) sowie die „general guidance section“ (chonghap chidokwa,종합지도과). Nach nur einem Jahr wurde er in das „Premier’s Secretariat Office“ versetzt und kehrte 1966 auf eine der Führungspositionen zur „Central Guidance Section“ zurück – ein immenser Aufstieg in kürzester Zeit. Seine Führungsqualitäten stellte Kim Jong Il in den folgenden Jahren nun insbeondere im Bereich der „Propaganda- und Agitationsaktivitäten“ heraus, wo er u.a. auch (mit-)verantwortlich für die massive Ausweitung des Führerkultes um seinen Vater Kim Il Sung und auch und gerade im Bereich der „Kunst und Kultur“ tätig war.
Anfang 1973 begannen nordkoreanische Medien damit, spezifische Andeutungen hinsichtlich der politischen Nachfolge Kim Il Sungs preiszugeben. Im September 1973, im Zuge des 7. Plenums des 5. ZK der Korean Workers’ Party, hob die nordkoreanische Führung Kim Jong-Il sowohl auf den Posten des “organization secretary” als auch auf den Posten des “propaganda and agitation secretary”. Zwischen dem 11. und 13. Februar 1974, im Zuge der 8. Plenarsitzung des 5. ZK der KWP, wurde Kim offiziell als politischer Nachfolger seines Vaters eingeführt, in dem er einen Posten als Vollmitglied des Politbüros genannten “Politischen Kommitees” einnahm. „To be a member of the committee suggested he was his father’s official successor.” Nach dem 8. Plenum wurde Kim Jong Il in den nordkoreanischen Medien von nun an als „Parteizentrum“ (Tang Chungang, 당중앙) bezeichnet. Kim war zu diesem Zeitpunkt erst 33 Jahre alt.
Kim Jong-Ils Vorbereitung zur Machtübernahme (1974-1994)
In den 20 Jahren zwischen 1974 und 1994 bereitete Kim Jong Il seine Machtübernahme systematisch vor. Seine wesentlichen Ziele in dieser Zeit waren einerseits der anhaltende Loyalitätsbeweis gegenüber seinem Vaters und andererseits die gezielte Stärkung seiner eigenen Machtbasis. Unter der akribischen Koordination seines Vaters etablierte Kim Jong Il nach und nach sein eigenes Steuerungs- und Führungssystem innerhalb der nordkoreanischen Politik. Zuerst etablierte er seine Kontrolle über die Partei. Durch die Nutzung der zentralen Stellung der Partei im politischen System Nordkoreas unter Kim Il Sung ging Kim Jong Il dann dazu über, seinen Herrschaftsbereich auf weitere zentrale Regierungsinstitutionen, insbesondere das Militär, auszuweiten. Bis Mitte der 80er Jahre war der Prozess der Vorbereitung der Machtübernahme offenbar weitestgehend abgeschlossen. 1986 erklärte Kim Il Sung, dass „die Frage der revolutionären Nachfolgeregelung innerhalb der Partei zufriedenstellend beantwortet sei.“ Seit den späten 80er Jahren, so die Ansicht der meisten Beobachter, bestand die primäre Rolle Kim Il Sungs nun zuvorderst in jener eines Wächters und Unterstützers, wobei er Nordkorea nach wie vor diplomatisch vertrat. Kim Jong Il zeichnete sich seither für die meisten innenpolitischen Angelegenheiten verantwortlich. Anfang der 1990er Jahre übernahm Kim Jong Il dann die höchsten Posten seines Vaters innerhalb des Militärs: 1991 wurde er zum Oberkommandierenden der Koreanischen Volksarmee („commander-in-chief of the Korean People’s Army“), im April 1992 zum Marschall und im April 1993 zum Vorsitzenden der „National Defense Commission“ ernannt.Parallel zur Etablierung eines monolithischen Führungssystems auf der politischen Ebene ging Kim Jong Il auch dazu über, die Übernahme des ideologischen Erbes seines Vaters vorzubereiten. Er monopolisierte die Autorität, um die Chuch’e-Ideologie weiterzuentwickeln und drängte nordkoreanische Wissenschaftler dazu, die Staats-Ideologie in eine semi-religiöse Doktrin umzuwandeln. Bereits ab 1976 wurde neben das Bild von Kim Il Sung das Bild von Kim Jong Il in allen öffentlichen und privaten Räumen verpflichtend und auch Kim Jong Ils Geburtstag wurde von nun an zu einem gewichtigen nationalen Feiertag erklärt.
Die in der Phase zwischen 1974 und 1994 entgültig beschlossene Machtvererbung von Kim Il Sung an Kim Jong Il schuf einen neuen Typus eines politischen Regimes – einen Typus den Lim Jae-cheon als „dynastic totalitarianism“ bezeichnet:
„The dynastic totalitarian regime was a product of one politician’s inexhaustible desire for power concentration. The politician who had concentrated almost absolute power in his hands wanted to maintain it through his son even after his death. Through the establishment of the new regime, the politician wanted to be respected and to hand down his achievements through dynastic succession in his posthumous period. His son, Kim Jong Il, was the key figure who would maintain the dynastic regime.”
Besonders bedeutsam dabei ist, dass es in dieser Periode auch zu einer doppelten Stärkung des Persönlichkeitskultes kam; nämlich einmal durch Kim Jong-Il, der den PK von KIS ausweitete, parallel dazu unternahmen nun jedoch auch die relevanten Stellen innerhalb des nordkoreanischen Staates alle Anstrengungen, um den PK um KJI herum aufzubauen bzw. zu stärken. Je stärker die Persönlichkeitskulte um KIS und KJI wurden, desto deutlicher und klarar wurden die dynastischen Charakteristika des nordkoreanischen Staates. Der nordkoreanische Staat begann damit, aktiv konfuzianische Werte anzupreisen und versuchte gezielt jene alte Traditionen wiederherzustellen, die in den alten koreanischen Dynastien existierten. Insbesondere als der kommunistische Block Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre kollabierte, wurden streng nationalistische Werte und Bezüge auf die eigene Geschichte und Tradition lautstark betont. Lim Jae-Cheon stellt in diesem Zusammenhang zutreffend fest:
“The overemphasis on tradition made the totalitarian society more rigid and impeded its ability to adjust to the external environment (…) Rather than jumping on the bandwagon of the changing political and economic systems, the North Korean leadership reacted to the changes by reinforcing the chuch'e idea in the society, isolating it even more than before.”
In dieser Phase setzte auch die Verlangsamung des Wachstums der anfangs so erfolgreichen nordkoreanischen Wirtschaft ein. In den 1980er Jahren vollzog sich dann entgültig der Übergang zur ökonomischen Stagnation, die sich wiederum schließlich zur handfesten Wirtschaftskrise ausweitete. Obwohl die nordkoreanische Führung Mitte der 1980er Jahre taktische Anpassungen wie bspw. das „Law of the Management of Joint Venture” vornahm und der Einführung einer „Sonderwirtschaftszone“ im Nordosten Nordkoreas zustimmte, so wurde schnell deutlich, dass die nordkoreanische Wirtschaft ohne rasche und vor allem umfassende Reformmaßnahmen nicht dauerhaft stabilisiert werden könne. Doch das Prinzip der ‘self-reliant economy’, an dem die nordkoreanische Führung zu dieser Zeit noch sehr strikt festhielt, erlaubte keine rasche und umfassende Abkehr von der alten Wirtschaftspolitik. Es war genau in dieser Zeit, in der KIS und KJI es versäumt haben, das wirtschaftliche System Nordkoreas zu retten – aber dazu in den kommenden Sitzungen mehr.
Die Machtübernahme und –Konsolidierung Kim Jong-Ils (1994-2011)
In Staaten, die mittels einer diktatorischen „Ein-Mann-Herrschaft“ regiert werden, führt das Ableben eines Führers i.d.R. zu einer Krise des Regimes. Nordkorea wäre wohl Ähnliches widerfahren, hätte man nicht – wie oben dargestellt – minutiöse Vorbereitungen für Kim Jong Ils Machtübernahme getroffen. Doch nach dem Tod Kim Il Sungs entschloss sich Kim Jong Il zuerst dazu, eine für die alten koreanischen Herrscher typischen dreijährige Trauerperiode auszurufen. In diesem Sinne stellt die Wahl Kim Jong-ils zum Generalsekretär der KWP am 8. Oktober 1997 den Zeitpunkt des Übergangs von der „Vermächtnisherrschaftszeit“ zur „wahren“ Kim Jong-il-Ära dar. Am 5. September 1998 trat die 10. Oberste Volksversammlung (OVV) zu einer Sitzung zusammen. Da diese seit Kim Il Sungs Tod nicht mehr zusammengetreten war, war dies für sich genommen bereits ein Signal dafür, dass ein neues politisches Zeitalter begonnen hatte. Die OVV wählte Kim Jong Il zum Leiter der Nationalen Verteidigungskommission (NVK) und machte eine neue Verfassung rechtsgültig. Obwohl es keine Amtseinführungszeremonie und keine Ausrufung Kim Jong-ils zum neuen Herrscher über Nordkorea gab, war Kim Jong-il zum neuen „de facto“-Herrscher Nordkoreas geworden. Die neue Verfassung aus dem Jahr 1998 wurde „Kim Il-sung-Verfassung“ genannt. Ihr Vorwort ehrt Kim Il-sung als den „Ewigen Präsidenten“ und hebt hervor, dass die Nation „das Werk und das Denken von Genosse Kim Il-sung verteidigen und darauf bauen“ werde, „bis zu dem glorreichen Tag, an dem die Große Juche-Revolution ganz vollzogen sein würde“. Hierdurch wurde sichergestellt, dass die Machtstellung und Legitimation Kim Jong Ils genauso „ewig“ wie die Macht seines Vaters sein solle. Da die neue Verfassung ausschloss, dass jemals ein anderer als Kim Il Sung Präsident des Landes sein könnte, war Nordkorea dem Papier nach ohne Führer. Die Macht des früheren Präsidenten sollte aufgeteilt werden zwischen dem Präsidium der OVV, der NVK und dem Kabinett. Der Verfassung nach gab das Präsidium der OVV als höchstes politisches Organ seinem Vorsitzenden die Befugnis, Nordkorea als dessen Führer zu vertreten. Jedoch war es die NVK, die unter allen anderen politischen Organen eine Sonderstellung einnahm und die größte politische Macht ausübte. Daher war der Leiter der Nationalen Verteidigungskommission de facto der oberste Herrscher Nordkoreas. Nordkorea verblieb in dem konzeptionellen Bezugsrahmen der „Vermächtnisherrschaft“, indem der Wille des „ewigen“ Präsidenten Kim Il Sung die nationale Politik vorgab und Kim Jong Il die spezifischen Strategien gemäß den Vorstellungen des verstorbenen Präsidenten entwarf. Dies verlieh Kim Jong Il einen „überpolitischen“ Status, der das Vermächtnis Kim Il Sungs fortsetzte und dessen Willen über seinen Tod hinaus ausführte.
All dies bedeutet jedoch nicht, dass Nordkorea unter Kim Jong Il eine bloße Kopie oder Fortsetzung der Herrschaft unter Kim Il Sung darstellte. Zwar behielt Kim Jong Il die zentralen Elemente des Kim Il Sung-Regimes bei, doch lässt sich vielmehr feststellen, dass sich Nordkorea unter KJI in vielerlei Hinsicht von jenem Nordkorea unter KIS unterscheidet. Sowohl das externe Umfeld, als auch die internen Bedingungen hatten sich mitunter stark verändert. Man kann ohne Übertreibung feststellen, dass Nordkorea nach der Amtsübernahme Kim Jong Ils seine wohl schwierigste Phase seit dem Koreakrieg durchlief: Extern bedrohte die sich zuspitzende Nuklearkrise die unmittelbare Sicherheit des Regimes; und auch intern wurde das lange äußerst stabile totalitäre System massiv erschüttert, v.a. durch eine dramatische wirtschaftliche Krise.
Obwohl Kim Il Sungs Tod alleine schon genug Anlass für eine Regimekrise hätte geben können, hatte Nordkorea mit noch viel ernsteren Problemen zu kämpfen, insbesondere einer bis dato nicht gekannten wirtschaftlichen Krise, die an anderer Stelle ausführlicher diskutiert wird. Zwar waren die Wirtschaftsflaute und systemimmanenten Beschränkungen der nordkoreanischen Wirtschaft schon vor Kim Il Sungs Tod zu einem Problem geworden, doch setzte in den 80er Jahren dann entgültig eine Stagnation ein, aus der in den 90er Jahren dann die schwerwiegenste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes erwuchs. Ausgelöst wurde die Krise durch eine Kombination aus verschiedenen Faktoren, allen voran den strukturellen Mängeln einer versagenden Planwirtschaft und einer Reihe von schwerwiegenden Naturkatastrophen Mitte der 90er Jahre. Hinzu kam, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion und osteuropäischer kommunistischer Staaten Nordkorea in eine zunehmende politische und wirtschaftliche Isolation manövrierte. Sichtbarster Ausdruck der Krise waren und sind die „vier großen Mängel“: Nahrungsmittelmangel, Gütermangel, Energiemangel, Zahlungsmittelmangel. Zusammen mit den zwischen 1995 und 1997 einsetzenden Naturkatastrophen führte die wirtschaftliche Krise zu den bis dato schwerwiegensten Hungersnöten in der Geschichte des Landes, welche zahlreiche Menschen das Leben kostete. Wie Rüdiger Frank zutreffend ausführt, wird das Ausmaß der Krise Mitte der 90er Jahre nicht zuleztzt dadurch deutlich, dass Nordkorea Mitte der 90er Jahre die internationale Gemeinschaft öffentlich um Unterstützung bat – ein bis dato einmaliger Vorgang in Nordkorea. Die zentrale Frage, die sich in diesem Zusammenhang nun stellte, war, wie Kim Jong Il auf diese dramatische Herausforderung reagieren würde. Während viele Beobachter davon ausgingen, dass Kim Jong Il nichts anderes übrig bleiben würde, als umfassende Reformmaßnahmen umzusetzen, setzte dieser vielmehr eine Reihe von wirtschaftlichen Anpassungsmaßnahmen um. Diese zurückhaltenden Maßnahmen zeigen nicht nur, wie vorsichtig und misstrauisch die nordkoreanische Führung gegenüber einem Wandel ala China ist; es zeigte auch die Besorgnis der Führung vor den potentiellen negativen Folgen eines ökonomischen Reformprogrammes für das herrschende Regime.
Der „anstrengende Marsch“ (1995-2000)
Der sogenannte „anstrengende Marsch“, der 1995 begann, bezeichnet eine übergreifende Krise in der nordkoreanischen Gesellschaft, die von der schwersten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes hervorgerufen wurde. Der Ausdruck „anstrengender Marsch“ sollte ursprünglich einen Vergleich mit Kim Il Sungs anti-japanischem Kampf nahelegen. Als ersten „anstrengenden Marsch“ in Nordkorea bezeichnet man den blutigen, 100 Tage währenden entbehrungsreichen Marsch, der von Kim Il Sung während seiner Zeit als Guerillakämpfer angeführt wurde.1 Die nordkoreanische Führung gab den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und dem Hunger die Bezeichnung „anstrengender Marsch“ in der Hoffnung, die Menschen damit zum Durchhalten und zum Meistern der Situation anzuhalten. Hierbei bediente man sich des historischen Musters, dass die vorangegangenen „anstrengenden Märsche“ erfolgreich gemeistert werden konnten. Ein weiterer Grund für die Verwendung der Terminus „anstrengender Marsch“ in der gegebenen Situation war, dass man damit zu „Anstrengungen zum Schutze des Vorsitzenden“ aufrief, und dies in dem Sinne, dass das erfolgreiche Meistern der wirtschaftlichen Probleme der Sicherheit des Regimes dienlich wäre. Kim Jong Il sagte bei einem Besuch in China Ende März 2000, dass „der anstrengende Marsch“ vorüber sei. In einem zweiseitigen Artikel in der Rodong Sinmun vom 3. Oktober heißt es: „Kein Volk und keine Nation in der Geschichte der Menschheit hat eine größere Zeit der Gefahr überstanden.“ Obwohl der „anstrengende Marsch“ jener Zeit die gefährlichste der Krisen war, die jemals das nordkoreanische Regime in Gefahr brachten, und obwohl diese Zeit eine Zeit unaussprechlichen Elends für die meisten Nordkoreaner war, diente sie letztendlich auch der Festigung der Ein-Mann-Herrschaft unter Kim Jong Il.<br/>
„Sŏngun Chongch’i“
Ein besonderes Merkmal der Herrschaft Kim Jong-Ils ist die augenscheinliche Kräfteverschiebung zugunsten des Militärs und der damit einhergehenden Schwächung der Partei. Wie bereits dargestellt, regierte Kim Jong Il insbesondere in der Funktion des Vorsitzenden der Nationalen Verteidigungskommission, dem nach der Verfassung von 1998 „höchsten Amt im Staat.“ Wörtlich heißt es in der Verfassung, dass der Vorsitzende der NDC „die Befehlsgewalt über alle politischen, militärischen und wirtschaftlichen Kräfte“ innehabe. Gottfried-Karl Kindermann spricht vor diesem Hintergrund zutreffend von einem „zugunsten des Militärs neu strukturierten politischen Unterbaus des Herrschaftssystems“, welches Kim Jong Il alsbald auch ideologisch unterfütterte. Der ideologische Ausdruck dieser Umgestaltung war die Idee bzw. Ideologie des „Sŏngun Chŏngch’i“ (선군정치), das sich mit „Militär-Zuerst-Politik“ übersetzen lässt. Die Ideologie wurde zu einer Zeit etabliert, in der Kim Jong Il zum Generalsekretär der KWP gewählt wurde. Ab dem Jahr 1998 wurde der „Militär zuerst“-Gedanke ein fester Bestandteil der Terminologie in offiziellen Dokumenten und in den Medien Nordkoreas. Der Begriff „Militär zuerst-System“ wurde bei einer Sitzung der OVV im September 1998 öffentlich gemacht. Kim Jong Ils „Militär-Zuerst“-Politik stellte eine doppelte Strategie dar, die zum einen die Sicherheit des Regimes selbst garantieren, zum anderen jedoch auch wirtschaftliches Wachstum sichern sollte. Ein zentraler Gedanke und gleichermaßen Endziel dieses Konzeptes war die Errichtung eines „militärisch starken und wohlhabenden Staates“ (강성대국). Ein System des „Militärs an erster Stelle“ wurde also als Mittel erachtet, um ein starkes und wohlhabendes Land zu schaffen. Die „Militär-Zuerst“-Doktrin, wie sie von Nordkorea definiert wird, meint „die Einräumung der höchsten Priorität für das Militär und den damit einhergehenden Zuwachs an Stärke“, was wiederum „das Vermögen der Volksarmee mit der Revolution und anderen damit verbundenen Anstrengungen voranzuschreiten“ steigern wird (Rodong Sinmun). Das Konzept des „Militär-Zuerst“-Systems ging einher mit Kim Jong Ils Konsolidierung seines Regimes. Dieses System erreichte seine vorherrschende Stellung im nordkoreanischen Staatsgefüge nach einer Rede Kim Jong Ils im Oktober 1997, in der er verkündete, dass „Egal wie schwierig die wirtschaftliche Lage ist: Stärkt das Militär zuerst.“ Die Umsetzung dieses Prinzips bedeutet, dass sich die gesamte Bevölkerung am Lebensstil der Streitkräfte, ihrer Kampf- und Opferbereitschaft und deren militärischer Ethik orientieren müsse. Die Ideologie wurde insbesondere im Zuge der sich verschärfenden Auseinandersetzung mit der USA im Rahmen der zweiten Nuklearkrise, also seit 2003, propagiert: Nur aufgrund der Militär-Zuerst-Politik, so heißt es in den nordkoreanischen Medien, sei es Nordkorea gelungen, die Kraftprobe mit der Supermacht USA zu bestehen. Gleichzeitig dient die Ideologie dazu, eine Art ständige Wachsamkeit und Kampfbereitschaft – und damit einen konstanten Zustand der Anspannung – aufrecht zu erhalten, in dem eine konstante Wachsamkeit gegen „imperialistische Vergiftungsversuche“ und gegen Angriffe von außen propagiert wird. Darüber hinaus diente die Militär-Zuerst-Politik auch als Legitimierungsansatz für die nukleare Aufrüstung des Staates: Da das Militär nun als das Zentrum des Staates gelte, müsse auch in wirtschaftlicher Hinsicht der Vorrang der Verteidigungsindustrie anerkannt werden.
1 Im Dezember des Jahres 1938 führte Kim Il Sung eine Einheit von Unabhängigkeitskämpfern in etwa 20 Kämpfen gegen die japanische Armee und erreichte schließlich die Grenzregion des Flusses Yalu im März 1939. Später wurde dann der sogenannte „Widerstandsvorfall“ im August 1956, bei dem Dissidenten gegen Kim Il Sungs Herrschaft aufbegehrten, als zweiter „anstrengender Marsch“ bezeichnet. Aus diesem Grunde kann man den „anstrengenden Marsch“ des Jahres 1995 als dritten „anstrengenden Marsch“ sehen.