Mathias Foit

Of Towns and Villages: Non-Metropolitan Queer Urbanisms of Weimar Germany
Zuallererst soll dieses Promotionsvorhaben eine Forschungslücke in der Geschichte der ersten deutschen „Homosexuellenbewegung“ behandeln (1897-1933).[10] Seit den 1990ern sind zahlreiche Studien zum queeren Leben in deutschen Städten erschienen, die meisten betreffen allerdings die üblichen Metropolen Berlin, Hamburg und Köln. Kleinere Städte (ganz zu schweigen vom ländlichen Raum) haben sehr wenig Aufmerksamkeit gefunden, wenngleich sich das langsam ändert, nachweislich am Beispiel der neulich herausgegebenen Veröffentlichung zur queeren Geschichte Tübingens.[11] Als Paradebeispiel gelten die Städte der ehemaligen deutschen Ostgebiete, darunter Nieder- und Oberschlesien, Pommern und Ostpreußen, die nach Deutschlands Niederlage im Zweiten Weltkrieg und den Konferenzen der „Großen Drei“, die die Weltordnung der Nachkriegszeit bestimmt haben, in den Besitz anderer Länder (vorwiegend Polen) gelangt sind. Aufgrund einer einzigartigen Mischung von technischer und politischer Motivation[12] sind jene Regionen in der Wissenschaft „vergessen“ worden, und die eher spärliche Forschung dazu besteht aus einer einzigen Arbeit[13] über das queere Leben in Breslau (heute Wrocław in Polen) der Zwischenkriegszeit und einer geringen Anzahl an Artikeln, deren Inhalt in einem mittelbaren Zusammenhang zu der Stadt steht (meist durch eine konkrete Person, die dort gelebt oder gewirkt hat).[14] Ziel der anvisierten Dissertation ist es, diese Lücke zu füllen, indem die bislang unerforschte queere Geschichte ehemaliger deutscher Ostgebiete ausgegraben wird, und zwar mit Fokus auf queere Räume (also wo sich queere Menschen begegnet und zusammengetroffen sowie wo sie Sex miteinander gehabt haben) und politische Selbstorganisierung (welche Gruppierungen gegründet worden sind und welches Programm sie verfolgt haben). Dies erfolgt durch Einnahme einer queergeografischen Perspektive auf die Untersuchung von Raum und sozialen Verhältnissen und wird zudem auf den mittlerweile beträchtlichen Forschungen im Bereich der historischen queeren Geografie aufgebaut. Zentral für mein Verständnis von Städten und derer prägenden Wirkung auf queere Körper, Sexualitäten und queeres Begehren ist Jack/Judith Halberstams Konzept von Metronormativität: die Allgegenwart des Urbanen in queerer Wissenschaft sowie das progressivistische Narrativ, nach dem die Stadt zum Endziel der geistigen und geografischen Reise jeder queeren Person wird—eine Art Gelobtem Land, wo Identitäten und Begehren völlig ausgelebt werden dürfen.[15] Dadurch, dass Halberstams Theorie durch Überarbeitungen und Kritiken—vor allem von Scott Herring,[16] Philip Hubbard[17] und Julie Podmore[18]—ergänzt wird, entsteht ein theoretisches Modell, anhand dessen sich die Vielgleisigkeit der Entwicklung queeren sozialen, kulturellen und politischen Lebens in unterschiedlichen Teilen des Deutschen Reichs erklären lässt. In anderen Worten, ich möchte die verschiedenen queeren Urbanismen in deutschen Klein- und Mittelstädten der Weimarer Zeit (1919-1933) betrachten, um die materiellen und soziokulturellen Determinanten, die das Möglichkeitsspektrum queerer Menschen in einem urbanen Milieu bestimmen, zu untersuchen. Mein vorläufiges Fazit ist, dass sie stets idiosynkratisch, tief in lokalen Kontexten verwurzelt und der metronormativen Formel „je größer die Stadt, desto größer die Freiheit“ zuwiderlaufend sind. Nicht immer schafft die Stadt Möglichkeiten oder wirkt befreiend, sondern kann auch einengend sein —zum Beispiel, durch polizeiliche Kontrolle, Überwachung oder Repressionen—wobei deren genaues Ausmaß von vielen lokalen Umständen, darunter sowohl soziopolitischen als auch materiellen/geografischen Faktoren wie urbaner Topografie, abhängig ist. Im Endeffekt kann eine queere Geschichte ehemaliger deutscher Ostgebiete neben einem Mapping von bislang unbekanntem akademischen Terrain zu den Geistes- und Sozialwissenschaften allgemein dadurch beitragen, dass sie einen nuancierten und empirisch belegten Ansatz zu Metronormativität und der fortdauernden Debatte über die Zentralität des Urbanen in queerer Wissenschaft bietet.
Die im Promotionsvorhaben verwendeten Primärquellen umfassen die ungefähr zwanzig queeren Zeitschriften des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik, beginnend mit dem (höchstwahrscheinlich) ältesten queeren Magazin der Welt, Dem Eigenen, das 1896 zum ersten Mal herausgegeben wurde. Darüber hinaus habe ich Archivrecherchen in den in der Doktorarbeit zu besprechenden Städten durchgeführt.
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[1] I refer here to the periodisation propounded by Andreas Pretzel and Volker Weiß in Ohnmacht und Aufbegehren. Homosexuelle Männer in der frühen Bundesrepublik, Männerschwarm Verlag, 2010, although they have used the term “homosexual movement” [Homosexuellenbewegung]. I prefer the word “queer” to account for the fact that it was not just homosexual men and women who were part of the movement.
[2] Blattner, Evamarie, et al., Queer durch Tübingen: Geschichten vom Leben, Lieben und Kämpfen, Verlag Universitätsstadt Tübingen, Fachbereich Kunst und Kultur, 2021.
[3] I have elaborated these elsewhere. See Mathias Foit, "Recovered, or Not Recovered, That Is the Question, or Whose History Is It? Questions of Ownership and Nationalism in (Queer) History”, Work in Progress, Work on Progress: Beiträge kritischer Wissenschaft, Doktorand*innen-Jahrbuch 2020 der Rosa-Luxemburg Stiftung, eds. Gerbsch et al., VSA-Verlag, 2020, pp. 201-203.
[4] Raimund Wolfert, “Auf den Spuren der ‘Invertierten’ im Breslau der zwanziger und dreißiger Jahre“, Invertito, 2007, no. 9, pp. 93-135.
[5] See, for example, Dorota Kurpiers’s paper on contact ads by residents of the German province of Silesia in the queer press of the Weimar era, “’Przyjaciel poszukiwany’: Anonse ze Śląska w tygodniku ’Die Freundschaft‘ w latach 1919-1921“, Kwartalnik Opolski, 2013, no. 1, pp. 85-108; Jens Dobler, “Fritz Flato (1895–1949) – ein Anwalt der frühen Homosexuellenbewegung“, Recht und Politik, 2017, no. 4, pp. 497-498; idem, “Rechtsanwalt Fritz Flato (1895-1949)“, Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, 2011, no. 46/47, pp. 21–41; Wolfert, “‘Spezialist für psychologische Grenzzustände‘: Erich Bohn, Breslauer Obmann des WhK“, Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, 2009, no. 43/44, pp. 35-42.
[6] Jack/Judith Halberstam, In a Queer Time & Place: Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York UP, 2005.
[7] Scott Herring, Another Country: Queer Anti-Urbanism, NYU Press, 2010.
[8] Phil Hubbard, Cities and Sexualities, Routledge, 2012.
[9] Julie Podmore, “Disaggregating Sexual Metronormativities: Looking Back at 'Lesbian' Urbanisms”, The Routledge Research Companion to Geographies of Sex and Sexualities, eds. Gavin Brown and Kath Browne, Routledge, 2016, pp. 21-28.
[10] Ich beziehe mich hierbei auf die von Andreas Pretzel und Volker Weiß in Ohnmacht und Aufbegehren. Homosexuelle Männer in der frühen Bundesrepublik, Männerschwarm Verlag, 2010, vorgelegte Periodisierung, obwohl ich selber den Ausdruck “queere Bewegung“ präferiere, um auf die Tatsache zu verweisen, dass es sich dabei eben nicht nur um homosexuelle Männer und Frauen handelt.
[11] Blattner, Evamarie, et al., Queer durch Tübingen: Geschichten vom Leben, Lieben und Kämpfen, Verlag Universitätsstadt Tübingen, Fachbereich Kunst und Kultur, 2021.
[12] Die erläutere ich anderweitig. Siehe dazu: Mathias Foit, "Recovered, or Not Recovered, That Is the Question, or Whose History Is It? Questions of Ownership and Nationalism in (Queer) History”, Work in Progress, Work on Progress: Beiträge kritischer Wissenschaft, Doktorand*innen-Jahrbuch 2020 der Rosa-Luxemburg Stiftung, hrsg. Gerbsch et al., VSA-Verlag, 2020, S. 201-203.
[13] Raimund Wolfert, “Auf den Spuren der ‘Invertierten’ im Breslau der zwanziger und dreißiger Jahre“, Invertito, 2007, no. 9, S. 93-135.
[14] Siehe dazu: Dorota Kurpiers’ Aufsatz über schlesische Kontaktanzeigen in der queeren Presse der Weimarer Zeit, “’Przyjaciel poszukiwany’: Anonse ze Śląska w tygodniku ’Die Freundschaft‘ w latach 1919-1921“, Kwartalnik Opolski, 2013, no. 1, S. 85-108; Jens Dobler, “Fritz Flato (1895–1949) – ein Anwalt der frühen Homosexuellenbewegung“, Recht und Politik, 2017, no. 4, S. 497-498; idem, “Rechtsanwalt Fritz Flato (1895-1949)“, Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, 2011, no. 46/47, S. 21–41; Wolfert, “‘Spezialist für psychologische Grenzzustände‘: Erich Bohn, Breslauer Obmann des WhK“, Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, 2009, no. 43/44, S. 35-42.
[15] Jack/Judith Halberstam, In a Queer Time & Place: Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York UP, 2005.
[16] Scott Herring, Another Country: Queer Anti-Urbanism, NYU Press, 2010.
[17] Phil Hubbard, Cities and Sexualities, Routledge, 2012.
[18] Julie Podmore, “Disaggregating Sexual Metronormativities: Looking Back at 'Lesbian' Urbanisms”, The Routledge Research Companion to Geographies of Sex and Sexualities, hrsg. Gavin Brown and Kath Browne, Routledge, 2016, S. 21-28.
Mathias Foit, geboren 1994 in Gleiwitz, Polen, studierte von 2012 bis 2017 englische Philologie und Amerikanistik (BA und MA) an der Universität Breslau, University of South Wales und an der Freien Universität Berlin. Seine Abschlussarbeit Life, „A Movie with No Point, No Happy Ending”: Belief, Death and the Meaning of Life in the Late Films of Woody Allen wurde mit dem M.A. Thesis Preis des Polnischen Vereins für Amerikanische Studien (Polish Association for American Studies) für die beste Masterarbeit im Bereich Amerikanistik im Jahr 2018 ausgezeichnet. Er arbeitet auch als Übersetzer.
Die Dissertation ist 2023 mit dem Titel "Queer Urbanisms in Wilhelmine and Weimar Germany. Of Towns and Villages" bei Palgrave Macmillan erschienen.