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Band 48: Energie - Post und Telekommunikation - Verkehr (2016)

Prof. Dr. Eun-Jeung Lee

Titel
Band 48: Energie - Post und Telekommunikation - Verkehr
Verfasser
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee
Mitwirkende
Marvin Martin / Arne Bartzsch, Alexander Pfennig, Birgit Wienand, Daniel Schumacher, Hoon Jung
Art
Text

Energie – Post und Telekommunikation – Verkehr

 

Marvin Martin

in Zusammenarbeit mit Arne Bartzsch, Alexander Pfennig, Birgit Wienand und Daniel Schumacher

 

 

 

 

Die Bundesregierung zog 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung in dem jährlich seit 1997 herausgegebenen „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit“ beim infrastruk-turellen Aufbau der neuen Bundesländer eine positive Bilanz:

 

Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP), das den Gesamtwert aller Wirtschafts-leistungen nach Abzug der Preissteigerung misst, hat sich seit 1991 mehr als verdoppelt. Wettbewerbsfähige Unternehmen und Arbeitsplätze sind entstanden, die Verkehrsinfrastruktur wurde grundlegend erneuert und ausgebaut, die Wohnsituation hat sich spürbar verbessert und der Verfall der Innenstädte wurde gestoppt. Der Aufbau Ost, der Aufbau einer sozialen und ökologisch orientierten Marktwirtschaft in den ostdeutschen Ländern, ist insgesamt gelungen.[1]

 

Ebenso suggeriert die wiederholte Forderung einiger Politiker, nach dem Auslaufen des Solidarpakts II im Jahr 2019 bei Strukturförderungen in Zukunft keinen Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland zu machen, dass viel beim Aufbau Ost erreicht wurde.[2] War der Aufbau der Infrastruktur in den neuen Bundesländern von daher eine fast reibungslose „Erfolgsgeschichte“? Diesen Eindruck kann man nur rückblickend bekommen. Denn bei diesem Eindruck wird einerseits übersehen, welche Schwierigkeiten beim Anpassungsprozess der neuen Bundesländer auftauchten. Andererseits wird übersehen, wie unterschiedlich dieser Prozess in den einzelnen Infrastrukturbereichen verlief und welche Unterschiede noch heute bestehen. Kurz nach der Wiedervereinigung sah die Situation völlig anders aus.[3] Es war zu diesem Zeitpunkt unklar, ob die deutsche Wiedervereinigung in Hinblick auf die Infrastruktur ohne größere Schwierigkeiten gelingen würde. Dieser Band widmet sich daher vor allem der Umbruchszeit nach der deutschen Wiedervereinigung bis zur Mitte der 1990er Jahre. Er zeigt insbesondere die Perspektive der unmittelbar Betroffenen, der neuen Bundesländer, auf. Die Dokumente dieses Bandes verdeutlichen, welche Probleme und Herausforderungen kurz nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 identifiziert wurden, welche Lösungsvorschläge gemacht wurden und welche Entscheidungen letztendlich getroffen wurden. Dieser Band behandelt folgende Infrastrukturbereiche: Energie, Post und Telekommunikation, Verkehr und Liegenschaften bzw. Wohnungen.

 

1.    Die Ausgangslage bis zur deutschen Wiedervereinigung

 

Der erste Abschnitt des Bandes, „Deutsch-deutsche Zusammenarbeit bis 1989“, verdeutlicht zunächst die Ausgangslage vor dem Fall der Berliner Mauer. Die westdeutsche Ostpolitik Anfang der 1970er Jahre brachte unter dem Leitspruch „Wandel durch Annäherung“ eine gewisse Normalisierung der politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Der Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR schrieb fest, dass beide Staaten „normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung“ entwickeln sollten (vgl. Dokument Nr. 7). Die Annäherungspolitik hatte neben dem Grundlagenvertrag weitere Abkommen zur Folge, die sich auch auf die infrastrukturelle Zusammenarbeit beider Staaten auswirkte. Im Bereich des Post- und Fernmeldewesens wurde beispielsweise verhandelt, neue Telefonleitungen zwischen BRD und DDR herzustellen und die Laufzeiten des Postverkehrs zu reduzieren (vgl. Dokument Nr. 2). Ebenso wurden verschiedene Einreiseerleichterungen beschlossen. Dazu zählen die Öffnung weiterer Grenzübergänge in Berlin, aber auch die Einrichtung von Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in West-Berlin, in denen Anträge für Reisen in die DDR eingereicht werden konnten (vgl. Dokument Nr. 4, 6). Somit gab es bereits vor dem Fall der Berliner Mauer eine deutsch-deutsche Zusammenarbeit in einigen Infrastrukturbereichen, die insgesamt den Alltag der Menschen erleichterten.

 

Diese Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten konnte jedoch nicht verhindern, dass sich die Infrastruktur in der DDR und der BRD äußerst unterschiedlich entwickelte. Vierzig Jahre Planwirtschaft auf der einen Seite und soziale Marktwirtschaft auf der anderen führten zu einer großen Diskrepanz. Da der Fokus in der DDR auf die unmittel-bare industrielle Produktion gelegt wurde, wurden Infrastrukturmaßnahmen vernachlässigt.[4] Die „Materialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern“ von 1995 geben einen Einblick, wie marode die Infrastruktur Ostdeutschlands zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung war. 1988 gab es bei der Reichsbahn 1.180 Langsamfahr-strecken, die insgesamt 1.700 km ausmachten. In ähnlicher Weise waren 58 % des Straßen-netzes durch „größere Schäden bis hin zum völligen Zerfall der Straßenbefestigung“ gekenn-zeichnet. In der Wohnungspolitik hatte die DDR-Regierung vor allem auf den Bau von Neubauwohnungen an den Stadträndern gesetzt, während viele historische Innenstädte mangels Investitionen zerfielen. Trotz dieser wohnungspolitischen Anstrengungen waren 1989 24 % der Wohnungen ohne Innen-WC und 18 % ohne Bad oder Dusche.[5] Nur 16 % der Privathaushalte in der DDR hatten einen Telefonanschluss, während es in der Bundesrepublik 93 % waren.[6] Diese ostdeutsche Quote entsprach dem gesamtdeutschen Niveau der 1920er und 1930er Jahre.[7]

 

2.    Verkehr und Post- und Telekommunikationswesen

 

Nachdem die Berliner Mauer gefallen war, bereiteten die letzten beiden DDR-Regierungen unter Hans Modrow und Lothar de Maizière die Angleichung des Telekommunikation-, Post- und Verkehrswesens an das bundesdeutsche System vor. Zu diesem Zweck trafen sich im Dezember 1989 der bundesdeutsche Minister für Post- und Telekommunikation, Christian Schwarz-Schilling, und der DDR-Minister für Post- und Fernmeldewesen, Klaus Wolf, und vereinbarten, dass eine gemeinsame Regierungskommission gebildet werden sollte. Als Folge dieser Besprechungen wurde im Januar 1990 die deutsch-deutsche Arbeitsgruppe „Post-verkehr“ gegründet. Diese Arbeitsgruppe hatte zur Aufgabe, die Strukturen der beiden deutschen Post- und Telekommunikationssysteme zu vereinheitlichen (vgl. Dokumente Nr. 30 und 31). Nach der Bildung der ersten und letzten frei gewählten DDR-Regierung unter de Maizière wurde an die Arbeit der Vorgängerregierung angeknüpft und eine „Projektorgani-sation Postunion“ gegründet, in der die Arbeitsgruppe „Postverkehr“ integriert wurde. Zum Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 wurde zudem eine Gebührenanpassung für Post- und Telekommunikationsleistungen beschlossen (vgl. Doku-ment Nr. 36 und 37). Zur Verbesserung der ostdeutschen Telekommunikationsinfrastruktur vereinbarte die Deutsche Post der DDR außerdem in Abstimmung mit der Bundesregierung noch vor der deutschen Einheit ein Entwicklungsprogramm namens „Telekom 2000“ (vgl. Dokumente Nr. 38, 41, 50). Mit der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 wurden die beiden Telekommunikations- und Postministerien vereinigt (vgl. die Rede des Chefs der Deutschen Bundespost-Telekom und den Zeitzeugenbericht seines Assistenten, Dokument Nr. 38 und 39). Die Grundlagen für diese Vereinigung wurden durch die Zusam-menarbeit der beiden deutschen Regierungen nach dem Fall der Berliner Mauer gelegt.

 

Eine ähnliche Zusammenarbeit gab es auch beim Verkehrswesen. Am 19. und 20. Dezember 1989 traf Bundeskanzler Helmut Kohl den neuen DDR-Ministerratsvorsitzenden Hans Modrow in Dresden. Als Ergebnis der Regierungsgespräche bildete sich am 9. Januar 1990 die gemein-same Kommission „Verkehrswege“, der Vertreter beider Verkehrsministerien angehörten.[8] Die Kommission verfolgte das Ziel, kurz- und längerfristige Maßnahmen zur Verbesserung des Verkehrs zwischen der BRD und der DDR abzustimmen. Zu den kurz-fristigen Maßnahmen gehörte insbesondere die Wiederherstellung der durch die deutsche Teilung unterbrochenen Straßen- und Schienenverbindungen (vgl. Dokumente Nr. 51 und 52). Nachdem die deutsche Wiedervereinigung vollzogen wurde, beschloss die Bundes-regierung am 9. April 1991 auf der Grundlage der Arbeiten der Kommission „Verkehrswege“ die „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“. Dieses Investitionsprogramm, welches heute größtenteils abgeschlossen ist, dient der Wiederherstellung leistungsfähiger Verkehrswege zwischen Ost- und Westdeutschland und umfasst 17 Verkehrsprojekte mit einem Volumen von ca. 38,7 Mrd. Euro (vgl. Band 29, Dokument Nr. 29).

 

Beim Aus- und Aufbau der ostdeutschen Infrastruktur ging es im Wesentlichen darum, das planwirtschaftliche System der DDR in ein privatwirtschaftliches umzugestalten. Ironischer-weise erwies es sich für das Post- und Telekommunikationswesen sowie das Schienenver-kehrswesen als vorteilhaft, dass diese Infrastrukturbereiche in DDR und BRD von zentral-staatlichen Monopolen gelenkt wurden. In der BRD wurde seit den 1980er Jahren diskutiert, ob die Bahn und Post dereguliert bzw. privatisiert werden sollte, d.h. private Unternehmen hätten Teile der Infrastrukturaufgabe des Staates übernommen, für die Bereitstellung und Aufrechterhaltung eines Telekommunikations- und Schienennetzes zu sorgen. Dies hätte eine Vereinigung mit dem zentralstaatlichen Post- und Bahnmonopol der DDR erschwert. Im Sinne der Privatisierungsbestrebungen trat am 1. Juli 1989 in der BRD die Postreform I in Kraft. Die Postreform I trennte hoheitliche und unternehmerische Aufgaben; insgesamt blieb jedoch das Telekommunikationsmonopol zunächst erhalten. Erst mit der Postreform II im Jahr 1995 sollte sich dies ändern. Für die Vereinigung des Post-, Telekommunikations- und Schienenverkehrswesens von BRD und DDR war es deshalb Anfang der 1990er Jahre von Vorteil, dass die Privatisierungs-bestrebungen in der BRD noch nicht weit vorangeschritten waren (vgl. Band 29, Einleitung: Infrastruktur und „Stadtumbau-Ost“ – Probleme für Planung und Prognose, S. 9 f.).

 

3.    Deindustrialisierung

 

Im Falle des Schienenverkehrswesens und des Post- und Telekommunikationswesens begünstigte das Vorhandensein von Staatsmonopolen den Ausbau der Infrastruktur. Für den größten Teil der Industrie der ehemaligen DDR war die deutsche Wiedervereinigung jedoch ein tiefer Einschnitt. Mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 wurde das westdeutsche privatwirtschaftliche System auf das planwirtschaftliche System in Ostdeutschland übertragen. Die veralteten vom internationalen Weltmarkt abgeschotteten Industriebetriebe Ostdeutschlands trafen auf hochspezialisierte und weltweit agierende Wirt-schaftsunternehmen im Westen Deutschlands. Aufgrund der hohen Produktionskosten und niedrigen Produktqualität konnten die ostdeutschen Industriebetriebe nicht mit den west-deutschen Wirtschaftsunternehmen konkurrieren; die industrielle Produktion der DDR brach größtenteils zusammen. 1992 machte der ostdeutsche Anteil an der gesamtdeutschen indu-striellen Wertschöpfung gerade einmal 3,5 % aus.[9] Die Folge der Übernahme des west-deutschen Wirtschaftssystems war ein regelrechter „Deindustrialisierungsschock“.[10]

 

Gleichzeitig war mit der Deindustrialisierung Ostdeutschlands eine starke Erhöhung der Arbeitslosigkeit verbunden. Verglichen zu marktwirtschaftlichen Industrieländern war der Anteil der Erwerbstätigen im Industriebereich übermäßig hoch.[11] Zudem war ein Merkmal der DDR-Wirtschaft, dass die einzelnen Regionen des Landes monostrukturiert waren, d.h., die Regionen wurden von nur wenigen Wirtschaftszweigen dominiert. So war für die Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns der Schiffbau der entscheidende Wirtschaftszweig, für die Gebiete Halle-Bitterfeld-Merseburg die Chemieindustrie, in Grenzgebieten Sachsens und Brandenburgs die Textil- und Bekleidungsindustrie und für Halle, Leipzig, Chemnitz und die Niederlausitz der Braunkohlebergbau und die Energieerzeugung.[12] Der Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie traf die ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgrund dieser wirtschaftlichen Konzentration auf das produzierende Gewerbe besonders hart. Anfang der 1990er Jahre stieg die Arbeitslosenquote von 8,6 % im Januar 1991 auf 17 % im Januar 1992 und auf 15,1 % im Januar 1993 sprunghaft an.[13]

 

Dieser schwierige Anpassungsprozess spiegelt sich in den Dokumenten dieses Bandes wieder. Beispielsweise betonte der brandenburgische Landtagsabgeordnete Karl-Heinz Kretschmer (CDU) 1993, dass sich die Summe der geförderten Braunkohle von 310 Millionen Tonnen im Jahr 1989 auf ca. 100 Millionen Tonnen vier Jahre später reduzierte. 1989 war die Braunkohle mit 68 % der wichtigste Primärenergieträger in den neuen Bundesländern (vgl. Dokument Nr. 23, S. 6499). Nach dem Minister für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie des Landes Brandenburg, Walter Hirche (F.D.P), hat sich die Anzahl der im Bergbau Beschäftigten in Brandenburg von 52.000 vor der Wende auf 24.000 Mitte des Jahres 1993 verringert (vgl. Dokument Nr. 22, S. 6275). Als Antwort auf diesen starken Rückgang der Braunkohle-förderung verfolgte Hirche eine „Zwei-Wege-Strategie“: Die brandenburgische Regierung hielt an einer jährlichen Förderung von 60 Millionen Tonnen Braunkohle im brandenbur-gischen Teil der Lausitz fest; zur selben Zeit sollten aber auch andere Wirtschaftsbereiche wie der Tourismus gefördert werden (Dokument Nr. 23, S. 6505). Das Ziel war, von der „Mono-struktur Energie und Braunkohle“ zu einer „diversifizierten Industrie- und Kulturlandschaft“ zu kommen (Dokument Nr. 21, S. 4631). Auf diese Weise wollte der Minister eine „Sozial-verwüstung in der Lausitz“ verhindern (Dokument Nr. 23, S. 6505).


 

4.    Wohnungen und Liegenschaften

 

Ein besonderes Problem nach der deutschen Wiedervereinigung stellte die Wohnungssituation in den neuen Bundesländern dar. Kurz nach der Wiedervereinigung gab es unrealistisch hohe Erwartungen hinsichtlich eines Wirtschaftsaufschwungs in den neuen Bundesländern.[14] Beispielsweise drückte der Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns, Georg Diederich, in einer aktuellen Stunde des Landtages trotz der derzeitigen schwierigen Lage seine Zuversicht aus, dass er mit der Wohnungspolitik Mecklenburg-Vorpommerns den „Schlüssel für einen baldigen Aufschwung“ verbinde und dass er einen „Bauboom“ erwarte (Dokument Nr. 121, S. 678). Im Rückblick werden diese hohen Erwartungen überwiegend als Fehleinschätzung gewertet. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre kam es zwar in der Tat zu einem regelrechten Boom in der Bauwirtschaft; die reale Bruttowertschöpfung stieg im ostdeutschen Baugewerbe zwischen 1991 und 1994 im Jahresdurchschnitt um 22 % an. Ab 1995 folgten jedoch eine massive Schrumpfung der Bauwirtschaft und ein Preisverfall.[15] Der ostdeutsche Immobilien-boom der ersten Hälfte der 1990er Jahre wird deshalb häufig als „klassisches Beispiel für massive Fehlinvestitionen“ oder als „Wiedervereinigungsblase“ gewertet.[16]

 

In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung stellte sich die Situation für die Zeitzeugen dagegen anders dar. Die Dokumente dieses Bandes verdeutlichen, dass die Zeitzeugen insbe-sondere die bereits angesprochene schlechte Wohnungssituation im Auge hatten. In vielen Landtagsdebatten wird auf die negative Ausgangslage, durch die Wohnungspolitik der DDR verursacht, hingewiesen. So sprach das sachsen-anhaltische Ministerium für Raumordnung, Städtebau und Wohnungswesen in seiner Antwort auf eine Große Anfrage Anfang 1993 über „ein katastrophales Erbe 40jähriger verfehlter sozialistischer Wohnungspolitik“ (Dokument Nr. 146, S. 1). In Thüringen wurde davon ausgegangen, dass es ca. 75.000 bis 100.000 Wohnungssuchende gebe, wobei der Bau neuer Wohnungen nicht ausgleichend wirke (vgl. Dokumente Nr. 131, 136, 155).

 

Das grundsätzliche Problem war, dass die Mieteneinnahmen der Vermieter die Kosten nicht deckten. Auf der einen Seite gab es die betriebswirtschaftliche Notwendigkeit, die Mieten zu erhöhen, um nicht nur die Kosten, sondern auch Wohnungsmodernisierungen und -sanie-rungen zu finanzieren. Auf der anderen Seite bestand die politische Absicht, die Mieten nur langsam und sozialverträglich zu erhöhen (vgl. Dokument Nr. 120, 137).[17] In der DDR waren die Mieten stark subventioniert worden und auch nach dem Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wurden die Mietpreise nicht gleich freigegeben. Im Einigungs-vertrag wurde festgelegt, dass die Mietpreise bis maximal Ende 1991 auf dem bisherigen, niedrigen Niveau verbleiben sollten.[18] Für die Zeit danach war die Bundes-regierung befugt, „den höchstzulässigen Mietzins unter Berücksichtigung der Einkommensentwicklung schrittweise […] zu erhöhen […]“.[19]

 

Die Bundesregierung machte mit der Ersten und Zweiten Grundmietenverordnung ab dem 01.10.1991 bzw. 01.01.1993 von dieser Möglichkeit Gebrauch. Nach der Ersten Grund-mietenverordnung konnten die Mieten um durchschnittlich 1 DM pro Quadratmeter Wohn-fläche monatlich angehoben werden, wohingegen es nach der Zweiten Grundmietenverord-nung 1,2 DM pro Quadratmeter Wohnfläche waren. Dazu kamen diverse Differenzie-rungen, die je nach Ausstattung und Zustand der Wohnungen Ab- oder Zuschläge zuließen. Im Schnitt verdoppelte sich die Wohnkostenbelastung (d.h. der Anteil der Wohnkosten am verfügbaren Einkommen) in Ostdeutschland im Zeitraum von 1991-1992, wodurch sich die Einnahme-situation der Wohnungsunternehmen deutlich verbesserte. Die Einführung des Wohngeldes in den neuen Bundesländern und Ost-Berlin ab dem 01.01.1991 wirkte wiederum den gestie-genen Kosten der Mieter entgegen. Bürger mit geringen Einkommen konnten diese Sozial-leistung beantragen, die nach dem Wohngeldgesetz von 1970 Bürgern mit geringen Ein-kommen einen Zuschuss zur Miete (Mietzuschuss) oder zu den Kosten selbst genutzten Wohneigentums (Lastenzuschuss) gewährte. Insgesamt blieb die durchschnittliche Wohn-kostenbelastung in Ostdeutschland auch nach der Einführung der beiden Grundmietenverord-nungen deutlich unter dem westdeutschen Durchschnitt.[20] Inwieweit die Grundmietenverord-nungen im Einklang mit den Bestimmungen des Einigungsvertrages waren, wurde wiederholt in den Landtagen der neuen Bundesländer diskutiert (vgl. beispielsweise die Debatte im Sächsischen Landtag nach dem Beschluss der Zweiten Grundmietenverordnung, Dokument Nr. 144).

 

Für die neuen Bundesländer stellte sich des Weiteren die Problematik der Nachnutzung der ehemaligen militärischen Liegenschaften der Sowjetarmee in Ostdeutschland und der Natio-nalen Volksarmee der DDR. Artikel 21 des Einigungsvertrages bestimmte, dass diese Liegen-schaften an den Bund gehen. Doch die neuen Bundesländer wollten die nicht von der Bundes-wehr genutzten Schieß-, Truppen- und Militärflugplätze an die Länder und Kommunen über-eignen lassen (vgl. Dokumente Nr. 122, 128, 129, 141). Die ostdeutschen Länder erhofften sich nicht zuletzt, dass diese Einrichtungen für wohnungspolitische oder gewerbliche Zwecke genutzt werden könnten (vgl. Dokumente Nr. 130 und 136). Die ehemaligen militärisch genutzten Liegenschaften sollten somit möglichst einer zivilen Nutzung zugeführt werden.

 

5.    Die ostdeutsche Infrastruktur nach 25 Jahren deutsche Einheit

 

Nach über 25 Jahren deutsche Einheit ist der Auf- und Ausbau der ostdeutschen Infrastruktur erheblich fortgeschritten. Wie der anfangs zitierte „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit“ erläuterte, hat sich das äußere Erscheinungsbild der ostdeutschen Städte, die Qualität der Wohnungen und die Verkehrsinfrastruktur in spürbaren Maße verbessert. Doch im selben Jahresbericht werden auch Einschränkungen gemacht. Trotz der positiven Entwicklung unter-scheidet sich die Wirtschaftskraft der neuen Bundesländer immer noch deutlich von jener der alten Bundesländer. Das Bruttoinlandsprodukt der neuen Bundesländer entspricht ca. 67 % des westdeutschen Wertes. Auch die Arbeitslosenquote verringerte sich in Ostdeutschland zwar von 14,8 % im Jahr 1994 auf 9,8 % im Jahr 2014. Dennoch ist diese im Vergleich zu Westdeutschland weiterhin vier Prozent größer.[21] Diese abgewogene Bilanz des Jahres-berichtes macht deutlich, dass der infrastrukturelle Auf- und Ausbau Ostdeutschlands keine reibungslose „Erfolgsgeschichte“ war. Auch nach über 25 Jahren deutsche Einheit sind trotz umfangreicher Infrastrukturmaßnahmen weiterhin Unterschiede zwischen West- und Ost-deutschland zu verzeichnen.


[1] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. 2015. Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2015. https://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/Publikationen/jahresbericht-bundesregierung-stand-deutsche-einheit-2015,property=pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf. Abrufdatum: 05.12.2016. S. 24.

[2] Vgl. Gabriel will Soli auch im Westen ausgeben. In: Süddeutsche Zeitung, 10.06.2016. http://www. sueddeutsche.de/wirtschaft/solidaritaetszuschlag-gabriel-will-soli-auch-im-westen-ausgeben-1.3028318. Abruf-datum: 05.12. 2016.

[3] Jessen, Ralph. 2014. Telekommunikation in der Wiedervereinigung – Historische Voraussetzungen und poli-tische Rahmenbedingungen. In: Kinkel, Klaus (Hrsg.). 2014. Grenzenlose Lei(s)tung. Die deutsche Einheit und der Einsatz der Telekom beim »Aufbau Ost«. München: Deutsche Verlags-Anstalt. S. 15-29, hier S. 15.

[4] Vgl. ebd. S. 17.

[5] Deutscher Bundestag. 1995. Materialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern. Bonn: Unterrichtung durch die Bundesregierung, Drucksache 13/2280, S. 94 f.

[6] Vgl. Jessen, Ralph. Telekommunikation in der Wiedervereinigung. S. 20.

[7] Vgl. Ritter, Gerhard A. 2008. Die deutsche Wiedervereinigung. In: Historische Zeitschrift, 286 (2) S. 289-339, hier S. 298.

[8] Vgl. Jürgen Huber. 2011. Von der Trennung zur Einheit: Der weite Weg zu den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit. In: Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs und -bau GmbH (DEGES). 2011. 20 Jahre 1991 – 2011. Wege sind unser Ziel. Bd. 2. Berlin: allprint media GmbH. S. 3-27, hier S. 11.

[9] Vgl. Paqué, Karl-Heinz. 2010. Die Bilanz. Eine Wirtschaftliche Analyse Der Deutschen Einheit. Bonn: Bundes-zentrale für Politische Bildung. S. 124 f.

[10] Rödder, Andreas. 2011. Geschichte der deutschen Wiedervereinigung. München: Verlag C.H.Beck. S. 97.

[11] Vgl. Fischer, Alexander. 1994. Der industrielle Strukturwandel in den neuen Bundesländern (Reihe Wirt-schafts- und Sozialwissenschaften, Band 9). Weiden, Regensburg: eurotrans-Verlag. S. 46.

[12] Vgl. ebd. S. 38 f.

[13] Vgl. ebd. S. 50.

[14] Vgl. Ritter, Gerhard A. Die deutsche Wiedervereinigung. S. 328 f.

[15] Vgl. Paqué, Karl-Heinz. 2010. Die Bilanz. S. 99-104.

[16] Ebd. S. 104.

[17] Vgl. Sander, Birgit. 1994. Anpassungsprozesse in der ostdeutschen Wohnungswirtschaft. Analyse und Bewertung. Kiel: Institut für Weltwirtschaft Februar 1994. S. 7.

[18] Vgl. ebd. S. 11.

[19] Bundesgesetzblatt, Teil II, 28.09.1990, Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag, Anlage I, Kapitel XIV: Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau; S. 1126

[20] Vgl. ebd. S. 26-35.

[21] Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Jahresbericht. S. 27, 43.

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