Band 39: Hochschule und Forschung (2015)
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee
Alexander Pfennig
Jean Yhee
in Zusammenarbeit mit Arne Bartzsch, Daniel Schumacher,
Dung Vu Tien, Hanan El-Asmer und Katharina Müller
Mit dem am 31.08.1990 unterzeichneten Einigungsvertrag begann ein Prozess der Anpassung politischer, ökonomischer und sozialer Bedingungen in Ostdeutschland an die westdeutschen Bedingungen. Neben vielen anderen Regelungen sah der Vertrag vor, die Struktur des Bildungswesens in Westdeutschland auf Ostdeutschland zu übertragen (Dokumente Nr. 5, 16). Das westdeutsche Bildungssystem diente also als Modell für die Transformation des ost-deutschen Hochschulwesens.[2]
Dabei ging es den Regierungen von DDR und Bundesrepublik darum, dass das Bildungs-wesen einen wesentlichen Beitrag zum politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erneuerungsprozess in Ostdeutschland leisten sollte (Dokument Nr. 47). Dafür sei eine Modernisierung in allen Bildungsbereichen notwendig. Die vollständige Übertragung von Bundesrecht aus dem Bildungsbereich auf Ostdeutschland schaffe die Voraussetzung für eine schnelle Verwirklichung der dringenden Reformen im ostdeutschen Bildungswesen. Dazu gehöre auch die im Einigungsvertrag vorgesehene Einbeziehung Ostdeutschlands in die gemeinsame Bildungsplanung und Forschungsförderung von Bund und Bundesländern.[3]
Die außeruniversitäre Forschung, insbesondere die Institute der Akademie der Wissen-schaften der Deutschen Demokratischen Republik, wurde vom Wissenschaftsrat[4] evaluiert (Dokumente Nr. 1, 2, 11, 34). Forschungspersonal und -strukturen wurden reduziert und vielfach aufgelöst. Die verbliebenen Forschungsgruppen wurden zum Teil in die Universi-täten integriert (Dokumente Nr. 43, 46). In der überwiegenden Zahl überdauerten sie jedoch durch eine Eingliederung in bestehende oder neu geschaffene außeruniversitäre Forschungs-institute, die einem Zusammenschluss angehören, der seit 1997 als Wissenschaftsgemein-schaft Gottfried Wilhelm Leibniz e.V. (Leibniz-Gemeinschaft) bekannt ist.
Die wesentlichen Aktivitäten der ostdeutschen Hochschulerneuerung können in sechs Punkten zusammengefasst werden (Dokument Nr. 27):
1. Entpolitisierung: Schließung aller Fachbereiche für Marxismus-Leninismus sowie aller politischen Hochschulen (von Partei, Polizei und Militär); Evaluation der politischen Akti-vitäten des wissenschaftlichen Personals; Abwicklung und gegebenenfalls Neugründung (mit neuem Personal) aller Fachbereiche, deren wissenschaftliche Grundlage enge Verbin-dungen zum politischen System aufwiesen – insbesondere Ökonomie, Jura und Sozial-wissenschaften.
2. Reorganisation und Evaluation der außeruniversitären Forschung: Auflösung vieler Institute der Akademie der Wissenschaften der DDR; Bildung außeruniversitärer Forschungsgruppen und Institute, deren wissenschaftliche Leistungen positiv evaluiert worden waren; Reintegration des Forschungspersonals, das nicht entlassen wurde, in die Universitäten; Wiederbelebung der Forschung an den Universitäten.
3. Gründung von Universitäten/Hochschulen und Fachhochschulen: Neben der Umwandlung bislang spezialisierter Hochschulen erfolgte auch eine Reihe von Neugründungen (Doku-mente Nr. 8, 13, 19, 23).
4. Umstrukturierung der Fächer und Disziplinen: Zusammensetzung, Größe und Curricula wurden westdeutschen Standards angepasst, mit Spielräumen für Innovation. Die hoch-gradige Spezialisierung wurde aufgehoben.
5. Reform der Personalstruktur: politische und wissenschaftliche Bewertung des Personals (Dokument Nr. 3) und Auflösung der Arbeitsverträge bei negativen Ergebnissen. Bei posi-tivem Ergebnis bestand die Option, sich auf ausgeschriebene Stellen zu bewerben oder in Einzelfällen im Rahmen einer Forschungsgruppe mit besonderem Status weiterzuarbeiten. Versetzungen in den vorgezogenen Ruhestand waren weit verbreitet.[5]
6. Infrastruktur: Renovierung/Instandsetzung von Hochschulbauten, Akquise bestehender Gebäude, Planung und Errichtung von Neubauten, Erneuerung/Ausweitung der tech-nischen Ausstattung und der Bestände der Hochschulbibliotheken (Dokumente Nr. 7, 17, 18).
Das Lehrangebot an den ostdeutschen Hochschulen wurde mit nachhaltiger Unterstützung westdeutscher und ausländischer Gastwissenschaftlicher gesichert. Die ostdeutschen Hoch-schulen waren bemüht, zunächst den Studienanfängern und später allen ihren Studenten ein konkurrenzfähiges System anzubieten. Eine Vielzahl westdeutscher Wissenschaftler nahm Kontakt zu ostdeutschen Hochschulen auf, um dort als Gäste in Lehre, Forschung und Orga-nisation den Erneuerungsprozess helfend zu begleiten und mitzugestalten.
Wesentlich finanziert wurden diese Aktivitäten ab dem Wintersemester 1990/1991 durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Dort waren bis Mitte 1990 mehr als 1.000 Anträge auf Teil- oder Vollzeitdozenturen eingegangen, von denen knapp die Hälfte umgesetzt wurde. Am 20.05.1990, als sich die Entwicklung zur Vollendung der deutschen Einheit abzeichnete, wurde das Sonderprogramm „Hochschulförderung DDR“ aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft aufgelegt und vom DAAD ausge-schrieben. Wichtigster Bestandteil war die Förderung von Wissenschaftlern aus der Bundes-republik zu Lehraufgaben an Hochschulen der DDR. Als Förderungszeitraum wurde zunächst das Hochschuljahr 1990/1991 ins Auge gefasst.
Die Ausschreibung des DAAD unterschied zwischen Vollzeit- und Teilzeit-Dozenten. Voll-zeit-Dozenturen implizierten einen Arbeitsplatzwechsel der beteiligten Hochschullehrer; Teilzeit-Dozenturen waren als Zwischenlösung konzipiert, die es den beteiligten Wissen-schaftlern ermöglichen sollten, neben den Verpflichtungen an der Heimathochschule zusätzlich Veranstaltungen anzubieten.
Beim DAAD gingen etwa 450 Einzelanträge auf Förderung von Vollzeit-Dozenturen ein, über die in vier Auswahlsitzungen im August, September, Oktober und Dezember 1990 ent-schieden wurde. An den Sitzungen nahmen insgesamt 14 Hochschullehrer als Kommissions-mitglieder teil. Durchschnittlich wurden zwei von drei Anträgen abgelehnt. Mit Beginn des Wintersemesters 1990/1991 nahmen 62 Vollzeit-Dozenten ihre Tätigkeit an den Gasthoch-schulen auf. Die DDR existierte inzwischen nicht mehr; das Programm erhielt seine endgül-tige Bezeichnung „Hochschulförderung Ostdeutschland“.
Von den 62 Vollzeit-Dozenten des Wintersemesters 1990/1991 entschieden sich 55 dafür, ein weiteres Semester an ihrer Gasthochschule zu bleiben. Die Finanzmittel des Bundes-ministeriums für Bildung und Wissenschaft erlaubten die Förderung weiterer 52 Vollzeit-Dozenten, so dass im Sommersemester 1991 107 Vollzeit-Dozenten durch dieses Programm an ostdeutschen Hochschulen tätig waren. Bei den Auswahlentscheidungen der Kommission bestand Konsens darüber, dass die Qualifikation der Bewerber das dominante Kriterium sein sollte. Daneben flossen weitere Kriterien wie z.B. regionale Verteilung ein; Fächerquoten gab es nicht. Fachliche Schwerpunkte bildeten sich vor allem in den Sprach- und Kulturwissen-schaften.
Im Bereich der Teilzeit-Dozenturen wurden im Herbst 1990 mehr als 600 Einzelanträge ein-gereicht, die von derselben Gutachterkommission beurteilt wurden wie die Anträge auf Realisierung von Vollzeit-Dozenturen. Die Ablehnungsquote lag für die Teilzeit-Dozenturen nur bei etwa 30 Prozent. Fachliche Schwerpunkte ergaben sich vor allem bei den Wirtschafts-wissenschaften. Die Teilzeit-Dozenten realisierten ihre Lehrveranstaltungen an den ost-deutschen Hochschulen etwa zu gleichen Anteilen als Dauer-Pendler (im wöchentlichen oder vierzehntägigen Rhythmus) oder in Form von Kompakt-Veranstaltungen (z.B. Blocksemi-nare). Anders als bei den Vollzeit-Dozenten bestand für die Teilzeit-Dozenten keine Berichts-pflicht gegenüber dem DAAD. Nachdem die Berichte der Vollzeit-Dozenten auf erhebliches Interesse stießen, bat der DAAD auch einen repräsentativen Querschnitt von etwa 100 Teilzeit-Dozenten, ihre Erfahrungen in kurzen Berichten zu schildern. 60 Personen kamen dieser Aufforderung nach.
Das DAAD-Programm „Hochschulförderung Ostdeutschland“ hat sich als ein Grundstein für das Erneuerungsprogramm für Hochschule und Forschung in den neuen Ländern heraus-gestellt. Die vom DAAD geförderten Dozenten bildeten die größte Gruppe von Wissen-schaftlern, welche die von der Politik geforderte Durchmischung ost- und westdeutscher Wissenschaft tatsächlich vollzog. Neben der inhaltlichen Neuorientierung der Lehre an ostdeutschen Hochschulen war mit dem DAAD-Programm zugleich intendiert, die Attrak-tivität des tertiären Bildungsbereichs in Ostdeutschland durch wissenschaftliche Übersiedler in West-Ost-Richtung zu heben.
Der Umbruch in der ostdeutschen Hochschullandschaft erforderte den Einsatz umfangreicher Personal- und Finanzmittel, um die ostdeutschen Bedingungen und Strukturen des Hoch-schulwesens so weit wie möglich an den westdeutschen Stand anzupassen, obwohl auch dieser reformbedürftig war (Dokumente Nr. 12, 16). Die Frage einer dualen Reform des ost-deutschen und des westdeutschen Hochschulsystems ist unter Experten und politischen Akteuren damals häufig diskutiert worden. Es gibt unterschiedliche Standpunkte bezüglich der Frage, ob das westdeutsche Hochschulsystem eine historische Chance für Reformen verpasst habe. Es wird jedoch oft die Einschätzung geteilt, dass die Aufgabe der Erneuerung und Umstrukturierung des ostdeutschen Hochschulsystems bei paralleler Reform des west-deutschen Hochschulsystems nicht zu bewältigen gewesen wäre.
In diesem Zusammenhang sollte die Rolle des ostdeutschen Hochschulwesens als Heraus-forderung und Stimulus für Reformen und Veränderungen des gesamten deutschen Hoch-schulsystems nicht unterschätzt werden. Insbesondere drei Faktoren haben dazu beigetragen:
1. Der Prozess der Transformation des ostdeutschen Hochschulwesens ist von vielen Hoch-schuleinrichtungen dort aktiv dazu genutzt worden, Innovationen in den Bereichen der Hochschulleitung, der Lehre und der Entwicklung der Curricula einzuführen.
2. Die in der DDR bestehende Tradition der Lehrorientierung und der guten Betreuung von Studenten bestimmt nach wie vor das Verhalten und das Selbstverständnis des wissen-schaftlichen Personals in Ostdeutschland.
3. Die in Ostdeutschland neu etablierten Strukturen sind weniger verfestigt, so dass im All-gemeinen von einer größeren Offenheit für Experimente und Reformen ausgegangen werden kann.
Auf zwei weitere Herausforderungen und wechselseitige Einflüsse soll ebenfalls eingegangen werden: Einerseits wirkte die rigorose Evaluation der Qualität wissenschaftlicher Arbeit an den ostdeutschen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, ein-schließlich der Akademie der Wissenschaften der DDR, die unter breiter Einbeziehung west-deutscher Wissenschaftler stattfand, in die westdeutschen Hochschulen zurück. Insbesondere der Widerstand von Hochschullehrern gegen externe Lehr- und Forschungsevaluation schwand, nachdem eine so breite Beteiligung an der Evaluation in Ostdeutschland erfolgt war. Andererseits hat der strukturelle Transfer des westdeutschen Hochschulsystems nicht zu identischen Entwicklungen in den Formen und Inhalten von Lehre, Studium und Forschung geführt. Einige der interessantesten und vielversprechendsten Impulse in der Organisation von Lehre und Studium gehen von ostdeutschen Hochschulen aus und stellen Modelle guter Praxis dar, mit denen auch westdeutsche Hochschulen experimentieren können. Insgesamt konnte ab Mitte der neunziger Jahre eine neue Dynamik beobachtet werden, die nach und nach das gesamte deutsche Hochschulsystem erfasste und neuen Antrieb für Reformen und Innovationen gab.
[1] Für diese Einleitung wurden mehrere, leicht veränderte Passagen übernommen aus Kehm, Barbara M. 2004. Hochschulen in Deutschland. Entwicklung, Probleme und Perspektiven. Bonn: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“. B 25/2004. 14.06.2004. S. 10–12; und Muszynski, Bernhard. Hrsg. 1993. Wissenstransfer in Deutschland. Erfahrungen und Perspektiven bei der Integration der gesamt-deutschen Hochschullandschaft. Opladen: Leske + Budrich.
[2] Vgl. Mayntz, Renate (Hrsg.). 1994. Aufbruch und Reform von oben. Ostdeutsche Universitäten im Trans-formationsprozess. Frankfurt am Main: Campus-Verlag; Buck-Bechler, Gertraude und Jahn, Heidrun (Hrsg.). 1994. Hochschulerneuerung in den neuen Bundesländern. Bilanz nach vier Jahren. Weinheim: Verlagsgruppe Julius Beltz GmbH & Co. KG; Schramm, Hilde. 1993. Hochschule im Umbruch. Zwischenbilanz Ost. Berlin: BasisDruck Verlag.
[3] Deutscher Bundestag. 1990. Denkschrift zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag). Bonn: Drucksache 11/7760. S. 217 f.
[4] Der Wissenschaftsrat ist das wichtigste wissenschaftspolitische Beratungsgremium in Deutschland. Er wurde am 05.09.1957 gegründet und berät Bund und Länder in Fragen der inhaltlichen und strukturellen Weiter-entwicklung des Hochschulsystems sowie der staatlichen Förderung von Forschungseinrichtungen.
[5] Vgl. Kehm, Barbara und Teichler, Ulrich (Hrsg.). 1996. Vergleichende Hochschulforschung. Eine Zwischen-bilanz. Kassel: Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung. Werkstattbericht Nr. 50.