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Band 36: Arbeit und Soziales (2014)

Prof. Dr. Eun-Jeung Lee

Titel
Band 36: Arbeit und Soziales
Verfasser
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee
Mitwirkende
Arne Bartzsch, Alexander Pfennig / Daniel Schumacher, Hoon Jung
Schlagwörter
Arbeit, Gesellschaft


Der Umbau der Sozialsysteme

im Prozess der deutschen Wiedervereinigung

  

Arne Bartzsch 

in Zusammenarbeit mit Alexander Pfennig, Daniel Schumacher,

Dung Vu Tien und Katharina Müller

 

 

Die Krise des Sozialsystems in der DDR Ende der 1980er

 

Das System der sozialen Absicherung in der ehem. DDR wurde und wird oft positiv gesehen. Es gab für die Bürger ein gesetzliches Recht auf Arbeit, billigen Wohnraum, umfassende und günstige Gesundheitsversorgung und ein geregeltes Rentensystem. Dieses Sozialsystem kannte offiziell keine Arbeitslosigkeit und keine Sozialbedürftigkeit. „Sozial“ wurde als analog zu „Sozialistisch“ betrachtet. Die sozialistische DDR schrieb sich auf die Fahne, die sozialen Probleme des Kapitalismus überwunden zu haben. Sozialpolitik des Staates zum Abfangen sozialer Schwierigkeiten sei eine „Lazarettstation des Kapitalismus“, hieß es bis in die 1960er Jahre. Später wurde immerhin eine sozialistische Sozialpolitik akzeptiert und 1976 die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ betont. Dies bedeutete in der Praxis, dass die „Werktätigen“ unter der Fürsorge ihrer Betriebe standen. Diese boten außer Arbeit (Einkommen) in der Regel noch Wohnraum, Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung, Freizeit- und Kulturangebote u.a.m. Wo die einzelnen Betriebe dies nicht leisten konnten, war man in ein Kollektiv eingebunden. Teile der Aufgaben übernahm zudem die Gewerkschaft (FDGB). Diese Übernahme von Sozialleistungen war gesetzlich festgeschrieben. Dieses System schien soweit zu funktionieren, dass es nur ansatzweise Gesetze bzw. staatliche Institutionen gab, die notfalls eine entsprechende Versorgung gewährten bzw. regelten oder organisierten. Demzufolge hatte das staatliche Sozialsystem des Ostens nur etwa zehn Prozent des Normenbestandes (Personal, Infrastruktur etc.) der alten Bundesrepublik.

 

Den zweiten Schwerpunkt im Sozialsystem der DDR bildete die Sozialversicherung (SV). Bei ihr handelte es sich um eine Einheitsversicherung, in der Renten-, Kranken- und Unfallversicherung integriert waren (eine Arbeitslosenversicherung fehlte, da es offiziell keine Arbeitslosigkeit gab). Das Leistungsspektrum umfasste ambulante sowie stationäre ärztliche und zahnärztliche Behandlung, Arzneien, Heil- und Hilfsmittel, Zahnersatz, Kuren zu prophylaktischen sowie zu Heil- und Genesungszwecken einschließlich Rehabili­tations­maßnahmen, Kranken- und Ausfallgelder, die bei Krankheit, unfallbedingter Arbeits­unfähigkeit, beruflich bedingter Gesundheitsschädigung oder Quarantäne gezahlt wurden. Müttern stand Schwangerschafts- und Wochengeld zu. Unterstützungszahlungen erfolgten für die Pflege erkrankter Kinder oder nicht berufstätiger Ehegatten. Bei vorzeitiger Arbeitsunfähigkeit oder mit Erreichen der Altersgrenze wurden Unfall-, Invaliden-, Alters- und Hinterbliebenenrenten gezahlt. Es gab Blindengeld, Alterspflegegeld und Bestattungsbeihilfen. Die SV betreute ca. 90% der DDR-Bevölkerung.

 

Es gab kein gegliedertes System wie in der Bundesrepublik mit nach Aufgaben getrennten Trägern. Die Trägerschaft der SV in der DDR war allerdings aufgeteilt zum einen auf die Sozialversicherung beim FDGB für Arbeiter, Angestellte und Freiberufler und zum anderen auf die Deutsche Versicherungs-Anstalt (DVA) für Mitglieder der Genossenschaften. Die Finanzierung der SV erfolgte zum überwiegenden Teil aus Beiträgen der Betriebe und aus dem Staatshaushalt. Die Beiträge der Versicherten betrugen seit Anfang der 1970er kontinuierlich ca. 12,5% des Einkommens (zum Vergleich BRD 1970: 26,5%, 1985: 35,1%).

 

Probleme im Sozialsystem der DDR traten ab spätestens Mitte der 1980er Jahre zunehmend an die Oberfläche. Dies betraf am offensichtlichsten die Versorgungsprobleme bei Kranken­häusern und im Gesundheitssystem. Auch wenn die Grundversorgung in der Ambulanz und in den Polikliniken eigentlich recht gut war, fehlten hier immer mehr leistungsfähige bzw. höher entwickelte Gerätschaften sowie Ausrüstung und Medikamente. Aber auch in den Jahren davor gab es permanente soziale Problemlagen, hauptsächlich bei einer Gruppe, die allerdings wenig Einfluss und Öffentlichkeit hatte: die Rentner. 1970 lebten 65% der Rentnerhaushalte an oder unterhalb der Armutsgrenze; 1988 – also einige Jahre nach der Einführung des Zusatz­rentensystems 1971 – waren es noch 45%. Diese Notlagen wurden oft innerhalb der Familien abgefangen. Ein Grundgefühl der Enttäuschung in der älteren Bevölkerung, dass die eigene Lebensleistung derart magere Früchte trug, blieb dennoch. Auch das Problem der Arbeitslosigkeit in der DDR war schon lange gewachsen, bevor es kurz vor der Wieder­vereinigung offiziell anerkannt wurde. In den Betrieben und Kombinaten war über die Jahre vielfach ein Personalüberhang angewachsen, der die wirtschaftliche Rentabilität sehr stark belastete. Da dies zum Teil durch staatliche Subventionen an die Betriebe ausgeglichen wurde, kann man von der Existenz indirekter Arbeitslosenhilfe sprechen.

 

Überhaupt erfüllten staatliche Subventionen in der DDR vielfach die Funktion eines sozialpolitischen Instrumentes.  Preisstützungen für Waren und Dienstleistungen betrugen im 1988 20% des Staatshaushaltes. Dies entspricht der Höhe der Staatsausgaben für Sozial­versicherung, Gesundheits- und Sozialwesen. Die Subventionen für Nahrungsmittel waren mit knapp 32 Mrd. Mark nur geringfügig niedriger als deren gesamte Umsatzsumme im Einzelhandel (38,2 Mrd. Mark). Ähnliches galt für den stark subventionierten Wohnraum. Diese Subventionen verzerrten nicht nur die volks- und betriebswirtschaftlichen Bilanzen, sondern schufen in der Bevölkerung ein Gefühl von billiger Versorgung, wobei zumeist außer Acht gelassen wurde, wie diese staatlichen „Stützungen“ eigentlich finanziert wurden. Der Wegfall dieser Subventionen beim Übergang zum marktwirtschaftlichen System wurde daher von Vielen als wesentliche Verschlechterung der sozialen Sicherung gesehen bzw. als neue Sozialbedürftigkeit, ohne dass beachtet wurde, dass hierbei oft nur eine Umlagerung der Subventionen in die Transferleistungen der Sozialversicherungssysteme stattgefunden hatte.

 

 

Reformansätze 1990 und Annäherung an bundesdeutsche Modelle

 

Die Regierung der DDR stand Ende der 1980er Jahre vor dem Dilemma, dass man einerseits die zunehmenden volkswirtschaftlichen Schwierigkeiten der Subventionspolitik erkannte und die damit verbundenen Probleme des Staatshaushaltes, und dass man andererseits jedoch eine Abkehr von dieser Politik aus politisch dogmatischen Gründen und aus Angst vor dem sozialen Unfrieden vermeiden wollte. Die Reaktion bestand zunächst aus einer Beibehaltung des Systems, sowie aus stärkeren Bemühungen um ausländische Kredite. Hinsichtlich der Verbesserung des Sozialsystems führte dies kaum zu befriedigenden Lösungen. Ende November 1988 wurden beispielsweise zwar erhebliche Rentenerhöhungen beschlossen. Gleichzeitig erhöhten sich für die Rentner (wie für die übrigen DDR-Bürger) die Schwierigkeiten durch die immer schlechter werdende Versorgung mit alltäglichen Produkten. Auch die Probleme der Arbeitslosigkeit blieben weiterhin verdeckt, d.h. großenteils der Bewältigung durch die Betriebe überlassen. Noch Anfang Februar 1990 wird bei der „Verordnung über die Gewährung staatlicher Unterstützung und betrieblicher Ausgleichs­zahlung an Bürger während der Zeit der Arbeitsvermittlung“ (Dokument Nr. 67) deren Verantwortlichkeit formuliert, auch wenn daneben nun erstmals eine direkte staatliche Unterstützung eingerichtet wird. Bezeichnend ist, dass man weiterhin den Begriff „arbeitslose“ Bürger vermeidet.

 

Wie eine Führungskraft in div. Ämtern für Arbeit in Berlin und Potsdam berichtet, ging man bereits im Frühjahr 1989 Vorplanungen zu Reformmaßnahmen zur Arbeitsverwaltung an und suchte entsprechenden Rat von westdeutscher Seite. Man verfügte bereits über Kontakte u.a. zum bundesdeutschen Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IBA). (Dokument Nr. 63) Nach dem Mauerfall wurden derartige Bemühungen schnell verstärkt vorangetrieben, auf beiden Seiten der Grenze. In der Bundesrepublik hatte man bereits mit einer zunehmenden Zahl arbeitssuchender DDR-Bürger zu tun und war interessiert daran, die sozialen Gründe der Übersiedlung möglichst in der DDR selbst abzubauen. (Dokument Nr. 72) Anfang Februar 1990 trafen sich Mitarbeiter des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung mit Kollegen des DDR-Ministeriums für Arbeit und Löhne zwecks Sondierung zur Zusammenarbeit beim Aufbau der DDR-Arbeitsverwaltung.  Auf Ebene von Gemeinden und Bezirken sollten Partnerschaften von Arbeitsämtern geschlossen werden. Fortbildungs­maßnahmen und Unterstützung beim Aufbau der EDV wurden vereinbart. (Dokument Nr. 64) Am 8.2.1990 verabschiedete der Ministerrat der DDR neben o.g. Verordnung zur Arbeitslosenunterstützung weitere Verordnungen zur Dämpfung der Arbeitslosigkeit, wie die Verordnungen zum Vorruhestandsgeld und zur Umschulung; entsprechende Durchführungs­bestimmungen folgten eine Woche darauf. (Dokumente Nr. 67, 68, 70, 71)

 

Hinsichtlich der Reform des Sozialsystems hegte man in der DDR aber anscheinend auch Befürchtungen in Abhängigkeit von der Bundesrepublik zu geraten und suchte Alternativen. Nachdem Ministerpräsident Modrow sich am 24.11.1989 mit dem österreichischen Bundeskanzler getroffen hatte, schickte das Ministerium für Arbeit und Löhne vom 9.-12.1.1990 eine Delegation nach Österreich. Man ließ sich dort über Themen wie Beschäftigungs­politik, dem Zusammenwirken von staatlichen Institutionen mit Unternehmer­verbänden und Gewerkschaften, der Struktur der Arbeitsämter sowie Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen beraten. Befürchtungen, dass durch Übernahme des westdeutschen kapitalistischen Systems eine drastische Verschlechterung bzw. ein Verlust des „sozialen Besitzstandes“ eintreten würde, waren auch in der Bevölkerung allgemein verbreitet. Um dagegen einen eigenen, DDR-spezifischen Reformansatz zu stellen, wurde Anfang März 1990 durch den Zentralen Runden Tisch „Grundlinien und Standpunkte für eine Sozialcharta“ vorgestellt (in Anlehnung an die europäische „Sozialcharta“ von 1991). Diese waren erarbeitet worden auf Vorschlag des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) zusammen mit dem Ministerium für Arbeit und Löhne, der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), den Gewerkschaften, dem Ministerium für Gesundheitswesen, Experten der Sektion Rechtswissenschaft der Humboldt-Universität und Experten des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften; außerdem wurden Experten aus der Bundesrepublik hinzugezogen. Dieser Katalog wurde am 7.3.1990 von der Volkskammer verabschiedet und sollte in die kommenden deutsch-deutschen und internationalen Verhandlungen eingebracht und dem Bundestag vorgelegt werden. (Dokument Nr. 2)

 

Nicht aufgeführt hinsichtlich der Teilnahme an der Formulierung der „Sozialcharta“ sind das Finanz- oder das Wirtschaftsministerium. Dies ist deswegen besonders bemerkenswert, weil am gleichen Tag der Verabschiedung der „Sozialcharta“ durch die Volkskammer erstmals die Bundesrepublik der DDR die Wirtschafts- und Währungsunion in Aussicht stellte.[1]  Auch wenn dieser Zusammenhang wohl kaum geplant gewesen war, so war er doch keineswegs ganz zufällig – wie letztendlich die Entwicklung hin zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zeigt. Das oben beschriebene Dilemma der DDR-Regierung zwischen der Sozialversorgung und der Finanzbeschaffung weist darauf hin, dass diese Themen notwendigerweise parallel behandelt werden mussten. Dies war auch bei den Diskussionen zur Sozialpolitik in der Bundesrepublik zu jener Zeit der Fall. So wurde im Sozialbericht des BMA 1990 insbesondere die finanzielle Konsolidierung des Systems der sozialen Sicherung, wie auch die Zunahme der Beschäftigung aufgrund wachsender Wirtschaft herausgestellt.[2] (Dokument Nr. 11A) Die im Sozialbericht geforderte „Stärkung der Selbsthilfe“ steht deutlich im Kontrast zu den idealistischen Forderungen der „Sozialcharta“. Bei den ersten Vorschlägen zur Währungs- und Wirtschaftsunion fehlte jedenfalls noch der soziale Teil. Im Bundesministerium für Finanzen etwa gab es Bestrebungen, „einige Teile des bundesdeutschen Arbeits- und Sozialrechts für eine Übergangszeit nicht anzuwenden“, um den Prozess der ökonomischen Transformation zu erleichtern.[3]  Dies stieß vor allem in der DDR aber auch in der BRD auf großen Widerstand; im Westen vor allem von den Sozialdemokraten und den Gewerkschaften. Sowohl zur Wahrung des sozialen Friedens, aber auch zum Werteerhalt der „Sozialen Marktwirtschaft“ sah man die absolute Notwendigkeit, den Umbruch in der DDR sozial abzufedern und Präzedenzfällen für den Abbau des Sozialstaats entgegen zu wirken. Nicht zuletzt wurde von Seiten des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm, zur Integrierung der Sozialfragen gedrängt. Dieser schrieb am 9.2.1990 in einer Vorlage an Bundeskanzler Kohl: „Für uns gehört zu einer Währungsunion auch eine Sozialunion. Wir sind uns im klaren darüber, daß die mit dem gemeinsamen Währungsraum verbundenen tiefgreifenden ökonomischen Veränderungen der sozialen Gestaltung und Flankierung bedürfen.“ (Dokument Nr. 1) Blüm schlägt vor, einen gemeinsamen Ausschuss zur Klärung der politischen Fragen einer Sozialunion zu bilden, dessen Vorsitz die Arbeits- und Sozialminister beider Staaten übernehmen sollen.

 

Blüm hatte erst kurz zuvor in der Bundesrepublik größere Reformen im Sozialsystem auf den Weg gebracht, wobei gerade der Frage der Finanzen wesentliche Bedeutung zukam. Genau am Tag des Mauerfalls am 9.11.1989 wurde im Deutschen Bundestag das „Rentenreformgesetz 1992“ verabschiedet. In diesem wurde die Sicherung eines angemessenen Lebensstandards im Alter nach einem vollen Berufsleben aufgegeben und die Sicherung der Beitragsstabilität zum Hauptziel der Rentenpolitik erklärt. Fast ein Jahr vorher (am 20.12.1988) war das „Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen“ verabschiedet worden. Neben der Übernahme der Krankenversicherungen in das Sozialgesetzbuch V waren hier Beschränkungen der Kosten­übernahmen und die Erweiterung der Selbstbeteiligung Hauptthemen. Vorausgegangen waren teilweise starke Auseinandersetzungen sowohl zwischen Regierung und Opposition wie auch bezüglich der jeweiligen Kostenübernahmen zwischen Bund und Ländern. Der Effekt auf die Überlegungen hinsichtlich der Reform des DDR-Sozialsystems war zum einen, dass finanzpolitische und wirtschaftliche Themen streng integriert betrachtet wurden. Und zum anderen bestand nach der anstrengenden Kompromissfindung zwischen Parteien, Ländern und Bund eine gewisse Abneigung gegen erneute Reformierungen des Sozialsystems. Die Entwicklung von Chancen durch die Übernahme von Vorteilen des DDR-Systems etwa, wie sie im Westen von einigen Sozialdemokraten und Grünen und von großen Teile der DDR-Bevölkerung gefordert wurde, fand nur wenig Nährboden. Man wollte – gemäß dem Leitmotiv Konrad Adenauers – „keine Experimente“ und favorisierte, auch aus Gründen der Dringlichkeit, prinzipiell eine Übernahme des bundesdeutschen Sozialsystems durch die DDR.

 

 

Verfassungsänderungen, Staatsverträge und gesetzliche Regelungen

 

Änderungen der Verfassung der DDR bildeten die formale Grundlage für die Übernahme des westdeutschen Sozialsystems, d.h. besonders des Sozialversicherungssystems. Eine der konkretesten Grundlagen für eine weitergehende, allgemeine neue Verfassungsänderung der DDR war der Entwurf des Runden Tisches vom 4.4.1990, in dem auch einige der Ideen  der Sozialcharta aufgenommen wurden. Allerdings fand dieser Entwurf über eine Absichtserklärung in den Koalitionsvereinbarungen der neugewählten Regierung von de Maizières hinaus keine reale Berücksichtigung in der Gesetzgebung. Am 17.6.1990 verabschiedete die Volkskammer lediglich ein „Verfassungsgrundsätzegesetz“, in dem Tarifparteien legitimiert und der „Schutz der Arbeit“ statiert werden. (Dokument Nr. 89) Die grundlegenden Änderungen basierten schließlich auf dem Vertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (Staatsvertrag) vom 18.5.1990, der am 21.6.1990 von der Volkskammer per Verfassungsgesetz bestätigt wurde (Dokument Nr. 7) und auf dem Einigungsvertrag (EV) vom 31.8.1990, bestätigt als Verfassungsgesetz am 20.9.1990. (Dokument Nr. 15).

 

Im Staatvertrag wurde neben der einheitlichen Währung die „Soziale Marktwirtschaft“ in der DDR rechtlich etabliert, „als Grundlage für die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung“, die durch „eine entsprechende Arbeitsrechtsordnung und ein auf den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs beruhendes umfassendes System der sozialen Sicherung“ charakterisiert ist. Kapitel IV definiert Bestimmungen speziell zur Sozialunion, u.a. die Etablierung von Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitskampfrecht, Betriebsverfassung, Unternehmensmitbestimmung und Kündigungsschutz entsprechend BRD-Recht, oder die Einführung der Sozialhilfe sowie eines gegliederten Systems der Sozialversicherung mit unabhängigen Trägern der Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeits­losen­versicherung. Renten-, Kranken- und Unfallversicherungen sollten bis Ende 1990 von einem gemeinsamen Träger verwaltet werden, bis am 1.1.1991 die neu zu gründenden einzelnen Träger ihre Sparten übernehmen sollten. Für die Arbeitslosenversicherung war die Zentrale Arbeitsverwaltung (ZentrAV) zuständig. Außerdem erhält das Arbeits­förderungs­gesetz (AFG) der BRD Geltung. Der Einigungsvertrag beinhaltet weiter diverse Bestimmungen etwa zur Überleitung (inkl. Fristen) und zu Leistungen der Renten- und Krankenkassen.

 

Mit bzw. sofort nach der verfassungsmäßigen Bestätigung der WWSU folgte die Verab­schiedung diverser Gesetze zum Rechtsangleichung des Sozialsystems in der DDR: Das sogn. „Mantelgesetz“ über das Inkraftsetzen von Rechtsvorschriften der BRD (Dokument Nr. 8), mit welchem Grundlagen des BRD-Arbeitsrechts wie das Tarifvertragsgesetz, das Betriebs-verfassungsgesetz u.a. übernommen wurden; das „Sozialhilfegesetz“ (Dokument Nr. 133), welches den Anspruch auf Sozialhilfe festigte; das „Arbeitsförderungsgesetz“ (AFG, Dokument Nr. 83), mit Bestimmungen zu Arbeitsverwaltung und Arbeitslosenversicherung; und das „Gesetz über die Sozialversicherung“ (SVG), das die Aufteilung der Sozialversicherung in die Versicherungszweige Kranken-, Renten- und Unfallversicherung regelte. (Dokument Nr. 10) Bei der Zusammenstellung und Formulierung dieser Gesetzes­pakete standen dem DDR-Ministerium für Arbeit und Soziales Beamte des BMA sowie der westdeutschen Sozialversicherungsträger zur Seite, worüber sich Ministerin Regine Hildebrandt sehr positiv äußerte und anfängliche Kritik wegen westlicher „Aufpasserei“ abwies.[4]

 

Mit Übernahme der Sozialen Marktwirtschaft in der DDR durch den Staatsvertrag war ein erster Schritt zur Deutschen Einheit getan. Die Arbeit und die Verhandlungen zu den Sozialgesetzen hatten in Ost wie West Positionen und Möglichkeiten verdeutlicht und, wenn überhaupt, nur einen sehr schmalen eigenen Weg für die DDR gelassen. Möglichen Alternativen zum bundesdeutschen System, wie etwa eine gesonderte Tarifpolitik oder eine Aufbauhilfe durch das Instrument der Lohnsubvention, welche gleichzeitig die Arbeitslosenversicherung entlasten sollte[5], waren zum Großteil eine Absage erteilt worden. Gründe dafür waren (abgesehen von jeweiligen Positionen zur Sozialen Markwirtschaft) sowohl idealistischer Natur – gemäß „Wir sind ein Volk“ (d.h. mit einheitlichen Tarifen) – wie auch pragmatischer: Die Etablierung eines Zwischenrechts hätte wesent­liche Mehrarbeit und damit Zeit gekostet, die angesichts des international sich öffnenden „window of opportunity“ für eine Wiedervereinigung nicht zur Verfügung stand. Man übernahm daher prinzipiell eher bundesdeutsche Regelungen, zu denen man vorläufige Ausnahmen formulierte. Die Übertragung des Arbeits- und Sozial­versicherungs­rechts auf die DDR (bzw. NBL) profitierte von dieser Lösung. Länger währende Auseinandersetzungen beispielsweise zwischen dem BMA und dem BMF (also im Prinzip zu der Frage, ob die Finanzierung der Überleitungskosten durch den Steuerzahler oder den Sozialbeitragszahler übernommen werden soll) wurden zumindest abgekürzt.

Durch den Staatsvertrag waren die wichtigsten Regelungen bzgl. der Sozialsysteme bereits erfolgt. Für die Erarbeitung des Einigungsvertrags blieben allerdings noch einige Fragen offen, über die zwischen BMA und MfAS verhandelt wurde. Dies betraf etwa Details zum Arbeitsrecht (das AFG war in einer modifizierten Version in der DDR eingeführt worden), außerdem die Rationalisierungsabkommen, mit denen die DDR-Regierung versucht hatte, einen Kündigungsschutz bzw. Sozialplan zu installieren, sowie Regelungen zum Vorruhestand und Altersübergangsgeld. Diskussionen bzgl. der Rentenversicherung gab es in Bezug auf die Weiterführung des Sozialzuschlags, welchen Rentner zum Preisausgleich bekamen. Die Regelung des großen Themenpakets der Überleitung der Renten wurde auf Ende 1991 verschoben. Kaum umstritten war die generelle Übernahme des Kranken­versicherungs­sytems. Dessen Leistungsrecht allerdings, das aufgrund der Einkommenslage im Beitrittsgebiet erheblich abweichen würde, war Punkt starker Auseinandersetzungen, beispielsweise zur Vergütung der Ärzte, die nur 40% (im EV einigte man sich auf 45%) des West-Betrags für Behandlungen bekommen sollten, sowie zur Absenkung der Preise für Arzneimittel (45%), die von Pharma-Herstellern sowie Groß- und Einzelhandel zu tragen war. Um die Infrastruktur des Gesundheitswesens einigermaßen funktionstüchtig zu erhalten bzw. zu machen, wurden Krankenhäusern Kostenübernahmen für Investitionen zugesagt, und den Polikliniken einen Erhalt bis Ende 1995 zugestanden. Außerdem sollte den Krankenkassen ausnahmsweise erlaubt werden, Kredite zur Deckung von Investitionskosten aufzunehmen. Die Kompromisse zu diesen Punkten wurden dann im Kapitel VII Artikel 30 „Arbeit und Soziales“ formuliert, sowie die Details zu den rechtlichen Überleitungen in den jeweiligen Anlagen.

 

Der Aufbau der Institutionen des bundesdeutschen Sozialsystems in den Neuen Bundesländern

 

Beim Start in die Deutsche Einheit war der Aufbau der Sozialverwaltung in den Neuen Bundesländern rechtlich gemäß bundesdeutschen Muster festgelegt worden. Allerdings war in der Praxis Vieles bezüglich der Umstrukturierung des Sozialsystems bereits vorgreifend zu Staats- und Einigungsvertrag angegangen worden. Besonders galt dies für den Aufbau der Arbeitsverwaltung in der DDR. Dies war der Bereich, wo es am stärksten direkt in der Bevölkerung „brannte“, und wo es bereits im Frühjahr 1990 eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen gab. (z.B. Dokumente 65-67, 70,71) Außerdem waren bereits am 6.2.1990 in Gesprächen zwischen BMA und MfAS grundlegenden Punkte besprochen worden, einschließlich umfassender Maßnahmen zur Aufbauhilfe. (Dokument Nr. 64) So waren bereits zum Abschluss des Einigungs­vertrags vielerorts Beamte der Bundesanstalt für Arbeit bis hin zu Mitarbeitern örtlicher Arbeitsämter in der DDR beratend tätig. Und man orientierte sich dabei zum großen Teil an bundesdeutschen Standards und Strukturen. (z.B. Dokumente Nr. 72, 87, 88) Bei der Kranken- und der Rentenversicherung etwa ging es dagegen um einen programmatischen Systemwechsel, der vergleichs­weise eher sozialpolitische sowie verwaltungs- und finanztechnische Bedeutung hatte. Hier gab der Staatsvertrag ein klareres Zeichen der Zäsur und ein Signal für umfassende Strukturveränderungen.

 

In vielen Fällen waren somit wichtige Institutionen bzw. die Grundlage für deren Errichtung bereits vor der offiziellen Wiedervereinigung geschaffen worden. Es gab allerdings sowohl hinsichtlich der Institutionen wie auch der Leistungen noch einige Übergangsregelungen, denen im EV eine Frist gesetzt worden war. Besonders betraf dies die Rentenversicherungsträger und ihre Leistungen. Gemäß EV wurde der Träger der DDR-Sozialversicherung in eine "Überleitungs­anstalt Sozialversicherung" umgewandelt, die bis 31.12.1991 die Aufgaben der Renten- und Unfallversicherung übernehmen sollte. (Band 17 Dokumente Nr. 2-9 und 15) Bis dahin waren in den neuen Bundesländern Landesversicherungsanstalten zu bilden und Regionalstellen einzurichten, sowie die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) auf das Beitrittsgebiet zu erweitern. (u.a. Dokument Nr. 53) Die Überleitung der Renten war bis zum gleichen Datum auf gesetzliche Grundlage zu stellen. Bei der Gesundheitsversorgung war der Startschuss für die Krankenkassen durch das Kassenerrichtungsgesetz vom 13.9.1990 gegeben. (Dokument Nr. 127) Demnach hatten jeder Bezirk der DDR sowie Ost-Berlin je eine Ortskrankenkasse zu errichten. (Band 17 Dokumente Nr. 16-27) Daneben wurden Ersatz-, Innungs- und private Kassen zugelassen, so dass ein Wettbewerb um den neuen Markt einsetzte. Bei der medizinischen Versorgung kämpften Ärzte und Gesundheitseinrichtungen entweder um den Erhalt ihrer Existenz oder um gute Startpositionen für den Neuaufbau einer solchen. (Dokumente Nr. 121-126) Am weitesten fortgeschritten war wohl der institutionelle Aufbau der Arbeitsverwaltung. Bereits während der Regierung de Maizière hatte man, mit Hilfe der Bundesanstalt für Arbeit 38 Arbeitsämter und 161 Nebenstellen errichtet, die bereits weitgehend ihre Aufgaben ausübten.

Die Zentralen der jeweiligen Träger bzw. die zuständigen Bundesanstalten organisierten vom Westen aus den Aufbau der entsprechenden Institutionen in den Neuen Bundesländern gemäß bundesdeutschem Muster. Häufig funktionierte dies analog zur Verwaltungshilfe beim Aufbau der Landes- und Regionalverwaltungen durch Ost-West-Partnerschaften. Diese Partnerschaften wurden zumeist entsprechend der Verwaltungs- bzw. Regionalebenen geschlossen. Gelegentlich war dies Anlass zur Bildung von grenzüberschreitenden Regionalkoalitionen. So kooperierten die Landesversicherungsanstalten (LVAen) der nördlichen Länder Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Bremen (mit teils überschneidenden Bezirken) beim Aufbau der LVA Mecklenburg-Vorpommern. (z.B. Dokumente Nr. 26 und 34) Diese Kooperation führte bei der Reform 2005 schließlich zum Zusammenschluss zur Deutschen Renten­versicherung Nord. Ein anderes Beispiel ist die Kooperation der „Wirtschaftsräume“ Braunschweig und Magdeburg, die über die Aufbauhilfe der Arbeitsverwaltung hinaus eine gemeinsame Förderung ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ins Programm nahmen. (Dokumente Nr. 73 und 112)

Was die Etablierung aller Institutionen gleichermaßen betraf, war der immense Bedarf sowohl an Fachpersonal generell wie auch an Experten aus dem Westen, die mit den jeweiligen Systemen vertraut waren. Die Sozialversicherungsträger aus den alten Ländern waren gefordert, für den Aufbau ihrer Institutionen in den Neuen Bundesländern entsprechend Personal zu entsenden (wozu u.a. von BMI und BMF entsprechende Richtlinien erlassen worden waren; Dokument 5), bzw. die Aus- und Fortbildung von Personal vor Ort zu organisieren. Um das Fachpersonal aus der Sozialversicherung der ehemaligen DDR gab es einen regelrechten Wettbewerb, bei dem die Krankenkassen gegenüber der Rentenversicherung einen kleinen Vorsprung hatten. Eine Beschäftigung in den AOK-Ortsbüros beispielsweise ersparte Vielen einen Ortswechsel, wie er etwa bei Anstellung in den LVAen in der Regel notwendig war. Probleme zeigten sich zum einen bei der fachlichen Qualifikation. Besonders schwierig war es darüber hinaus, die leitenden Positionen zu besetzen. Viele Aufbauhelfer beklagten diesen Zustand, wie z.B. der Errichtungsbeauftragte der LVA Mecklenburg-Vorpommern, Bernd Thiele: „Es gab keinen Stellvertreter, keine drei Abteilungsleiter im Range von A16, keine sieben Leiter A15, keine neun Leiter A14 und keine Leiter A13. Der ranghöchste Mitarbeiter war ein Amtmann im Range von A11. Jeder „klitzekleine Kram“ lief über [meinen] Schreibtisch, da [ich] der einzige Zeichnungsberechtigte war.“ (Dokument Nr. 24; siehe etwa auch Dokumente Nr. 45,46 und 95). Die Belastung für die (für die großen Aufgaben relativ wenigen) Aufbauhelfer aus dem Westen – „Errichtungsbeauftragte“, „Konsulenten“ u.dgl. – war demzufolge immens. Anträge an die Zentralen für die Entsendung zusätzlichen Personals aus den alten Bundesländern hatten in der Regel wenig Erfolg, da auch hier die Kapazitäten begrenzt waren. Auch auf höherer institutioneller Ebene sorgte dieses Problem für Unstimmigkeiten, wie Anfragen der BA an das BMA zeigen. (Dokumente Nr. 85) Des Weiteren waren gerade viele höhere Bedienstete der ehem. DDR durch Zugehörigkeit zum MfS/AfNS belastet; eine Tatsache, die zunächst sehr unterschiedlich behandelt wurde (Prinzip vs. Pragmatik). Spätestens die Proteste aus der Bevölkerung und die Regelüberprüfungen in den Institutionen führten letztendlich zur Bereinigung. (z.B. Dokumente Nr. 98, 110, 114)

Die Aufstellungen zum Personalbedarf nahmen in jedem Fall eine vorrangige Stellung bei der Planung ein, und in der Folge auch die Fortbildungsmaßnahmen. Letztere waren zum Teil in großem Ausmaß bereits durch Lehrgänge von DDR-Angestellten in den entsprechenden Institutionen in den alten Bundesländern eingeleitet worden. Dies wurde nach der Wiedervereinigung verstärkt fortgeführt. (z.B. Dokumente 40-42, 45 und 46)

Ähnliches galt hinsichtlich der Infrastruktur. Das Finden geeigneter Räumlichkeiten für die neuen Institutionen war ein weiteres Hauptproblem. Zum einen galt dies hinsichtlich der politischen Entscheidungen darüber, welche Stadt als Sitz ausgewählt wurde. Der regionale wirtschaftliche Aspekt sorgte für viel kommunale Lobbyarbeit und regionalpolitischer Aushandlung. In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise war der Hauptsitz der zu gründenden LVA zunächst sehr umkämpft; sowohl Rostock wie auch Schwerin und Neubrandenburg zeigten starkes Interesse. Aufgrund der parallelen Diskussion über den künftigen Sitz der Landeshauptstadt zogen Rostock und Schwerin sich aus der Bewerbung zurück, so dass Neubrandenburg den Zuschlag für die LVA bekam. (Dokument Nr. 24) Zum anderen waren 1990/91 geeignete Immobilien für größere Institutionen Mangelware, da diese, soweit überhaupt vorhanden, oft in miserablem Zustand waren, oder da ihre Eigentümerschaft nicht geklärt war. Einen relativ großen Fundus an Immobilien bot die sich in Abwicklung befindliche NVA. So war Minister für Abrüstung und Verteidigung Eppelmann noch zu seiner Amtszeit mit dem Vorsitzenden des VDR, Kolb, über Liegenschaften der NVA geflogen, damit dieser sich ein Bild machen und geeignete Immobilien für die Rentenversicherung auswählen konnte. Auch mit der Treuhand wurden diesbezüglich Vereinbarungen getroffen. Mit ihr stand man vor allem von Seiten der Arbeitsverwaltung in engem Kontakt, um Sozialmaßnahmen bei anstehenden Konkursen zu organisieren. (Dokument Nr. 104)

 

Überleitung und Anpassung der Sozialsysteme und ihrer Leistungen

Die Überleitung der Sozialversicherungen bedeutete generell den Aufbau der Institutionen in den NBL und der Anpassung der Leistungen. Im Beitrittsgebiet trat man den existierenden bundesdeutschen Dachverbänden bei. Der Leistungskatalog wurde im Prinzip übernommen, ggf. an einigen Stellen spezifiziert. Dies war in Bezug auf Arbeitsverwaltung und Gesundheitssystem strukturell gesehen relativ eindeutig. Bei der Arbeitsverwaltung war es hauptsächlich die Masse der freigesetzten Arbeitnehmer, die den verstärkten Einsatz von Maßnahmen erforderte, wie die verstärkte Anwendung von Kurzarbeit und Vorruhestand bzw. von aktiven und passiven Arbeitsförderungen. Es bedeutete allerdings hauptsächlich einen quantitativen und weniger einen qualitativen Unterschied zum System in den alten Bundesländern. Auch bei den Krankenkassen gab es gemäß EV einige Änderungen im Leistungsrecht, wodurch die Versicherten wie auch die Kassen im Osten entlastet werden sollten. Diese Differenz zu den Leistungen in den alten Bundesländern war etwas problematisch, da beispielsweise Leistungen im Osten anders abgerechnet wurden und Ärzte dadurch ein wesentlich geringeres Einkommen hatten – was wiederum deren Abwanderungstendenz verstärkte. Aber auch dies war prinzipiell kein strukturelles Problem und war auf allmähliche Angleichung angelegt.

Etwas komplizierter war die Angelegenheit bei der Rentenversicherung, was sich etwa darin zeigt, dass im EV hierzu keine Regelungen aufgenommen wurden, sondern nur eine Frist für spätere Gesetzesregelungen gesetzt wurde (bis 31.12.1991). Die speziellen Probleme bei der Rentenversicherung lagen hauptsächlich in der Langfristigkeit ihrer Verpflichtungen und in der schwierigen Übertragbarkeit dieser auf das neue Rentensystem. Die Umrechnung der Renteneinzahlungen in DDR-Mark war nicht einfach durch den Kurs der Währungsumstellung zu bewältigen, sondern musste außerdem die Übertragung der individuellen Beitrags- bzw. Leistungspunkte, die Einwicklung der Lebenskosten wie auch die allgemeine Einkommens­entwicklung einbeziehen. Dies erforderte Grundsatzentscheidungen und im Endeffekt weitgehende Subventionierung durch den Staat, oder aber einen entsprechenden West-Ost-Transfer durch die Rentenkassen. (Dokumente Nr. 43, 47) Außerdem problematisch war die Übertragung der Ansprüche und Anwartschaften aus den verschiedenen Rentensystemen der DDR, besonders der Sonder- und Zusatzsysteme. Obwohl im Staatsvertrag wie im EV die Schließung dieser beschlossen war, waren die Regelungen zur Leistungsübertragung noch lang umstritten.

Mit dem ausführlichen Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) vom 25.7.1991 (Dokument Nr. 48) wurden diese Fragen schließlich rechtlich geregelt. Es sorgte für eine schrittweise Angleichung der Renten in den NBL an das West-Niveau, was allerdings für Viele zu schleppend war bzw. ist. So wurde die Rentenangleichung regelmäßig Thema von Gesetzentwürfen und Bundestagsdebatten, wie z.B. noch 2010 und 2013 (Dokumente Nr. 56, 61 und 62)

Vor allem die Begrenzung von Ansprüchen aus den Sonder- und Zusatzsystemen für Mitarbeiter des MfS/AfNS bewirkte eine lange politische und rechtliche Auseinandersetzung. Nach Einsprüchen gegen diesbezügliche Regelungen nicht nur von jenen Mitarbeitern sondern auch von anderen in diesen Rentensystemen Versicherten, wie Richter, Klinik-Ärzte u.a., kam es zur Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen entsprechende Regelungen des RÜG und besonders dessen Art. 5, dem „Gesetz zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets (Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz - AAÜG)“. Umstritten war vor allem auch, ob die Bundesregierung im Fall des RÜG überhaupt befugt war, durch ein Gesetz bestimmte Regelungen entgegen den EV (als Staatsvertrag) zu ändern. Die Bundesregierung argumentierte dagegen, dass dadurch dass die DDR nicht mehr existiere, kein Vertrag zwischen Staaten mehr gegeben sei, sondern der EV den Status eines normalen Gesetzes erhalten hätte, welches geändert werden könne. Das BVerfG widersprach allerdings den Begrenzungen der Rentenzahlungen bzw. der anzurechnenden Beitragsbemessungsgrenzen für die Sonder- und Zusatzsysteme aufgrund des Besitzschutzes. Das AAÜG musste daraufhin modifiziert werden. (Dokumente Nr. 57 – 60)

 

Angleichung der sozialen Standards

Im Sozialbericht 1993 (Dokument Nr. 22A) statiert die Bundesregierung:

 

Im Vordergrund der Politik der Bundesregierung stand und steht der Aufbau in den neuen Ländern. Für die Sozialpolitik bedeutete dies nicht nur, das bewährte System der sozialen Sicherung in den neuen Ländern rechtlich und verwaltungsmäßig zu etablieren, sondern zunächst und vor allem die Menschen in der Umbruchphase sozial abzusichern. Denn der unumgängliche Strukturbruch hat viele Menschen existenziell betroffen. Eine dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes verpflichtete Politik mußte deshalb dafür sorgen, daß mit Beginn der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 sowohl die Weichen für den wirtschaftlichen Aufholprozeß gestellt wurden, als auch daß die mit dem Strukturbruch verbundenen Lasten sozialverträglich blieben. Vor allem die aktive Arbeitsmarktpolitik, die Leistungen der sozialen Sicherungssysteme und die wohnungsmarktpolitischen Maßnahmen haben dazu beigetragen, den Systemwechsel sozialverträglich zu gestalten und damit auch seine Akzeptanz zu sichern.

 

Dass der wirtschaftliche Aufholprozess in den neuen Bundesländern nicht ausreichte, um eine gänzliche Angleichung der Sozialstandards von Ost und West zu erreichen, wird vor allem an den Zahlen zur Arbeitslosigkeit sichtbar, die im Osten langfristig ca. doppelt so hoch sind wie im Westen. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Zahlen zur Armutsquote, die in den neuen Bundesländern permanent etwa 130-140% des Westwertes erreicht.

Die von Kohl proklamierten „blühenden Landschaften“ blieben vielerorts aus, und die Akzeptanz der sozialen Sicherung in der Bevölkerung war und ist in großen Teilen negativ. Vor allem aber erwies sich die Finanzierung der Angleichung des ostdeutschen Sozialstandards im Laufe der Deutschen Einheit als keineswegs sicher und als ständige Belastung des Bundeshaushalts, wie die Bundesregierung in ihrem Sozialbericht bereits 1993 bestätigt:

Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde der ostdeutschen Volkswirtschaft ein sehr leistungsfähiges soziales Sicherungssystem zugeordnet, das zudem als Folge der mit der Transformation verbundenen beschäftigungspolitischen Problemen überdurchschnittlich in Anspruch genommen wird. Die hierfür notwendigen Finanzierungsmittel erwirtschafteten allerdings die neuen Länder bei weitem noch nicht aus eigener Kraft. Von 204,3 Mrd. DM, die zur Finanzierung der Sozialleistungen in den neuen Ländern aufgewendet wurden, konnten 1993 nur 76,4 % aus eigenem Finanzaufkommen aufgebracht werden. Der Rest wurde durch West-Ost-Transfers der Arbeitslosen- und Rentenversicherung finanziert.

 

Im Sozialbericht 2001 – bemerkenswerterweise dem letzten, in dem die Sozialleistungen der Neuen Länder gesondert betrachtet und in Statistiken berücksichtigt werden – bemerkt die Bundesregierung:

Der Anteil des West-Ost-Transfers an der Finanzierung sozialer Leistungen in den neuen Ländern ist nach einem Höchststand von 26,8 % 1993 auf 21,4 % im Jahr 2000 zurückgegangen; für das Jahr 2005 wird mit einem Anteil von 21,1 % gerechnet.

 

Aufschluss gibt in diesem Zusammenhang außerdem die in dem Bericht aufgeführte Tabelle zur Sozialleistungsquote:

             

Diese Zahlen sowie die Tabelle der Sozialleistungsquoten können als Orientierung für den Stand der Finanzierung der Sozialstandards in Ost- und Westdeutschland genommen werden – was allerdings nicht direkt auf die tatsächlichen Leistungen übertragbar ist. Hierfür sind die Übersichten aus dem Sozialbericht 2001 hilfreich:

  

Auch die Pro-Kopf-Leistungen errechnen sich aus den Durchschnittsausgaben für die gesamte Bevölkerung. Hier werden die Unterschiede in volkswirtschaftlicher Berechnung deutlich. Das Niveau der individuellen Bezüge wird hieraus allerdings nicht ersichtlich. Hier kann als Maßstab beispielsweise das Rentenniveau genommen werden. Gerhard A. Ritter bemerkt in diesem Zusammenhang:

 

„Insgesamt haben Umfragen im Osten ergeben, dass die meisten Menschen eine Verbesserung ihrer persönlichen materiellen Situation nach der Vereinigung feststellen; gleichzeitig beurteilen sie aber die allgemeine Situation schlechter als ihre individuelle Situation und beklagen vor allem den Verlust an sozialer Sicherheit und sozialer Geborgenheit, die die DDR auf einem allerdings niedrigen Niveau gewährleistete. Sie erwarten noch stärker als die Menschen in Westdeutschland vor allem vom Staat, dass er diese Defizite behebt.“[6]

 

Der Auf- bzw. Umbau der Institutionen der Sozialsysteme in den Neuen Bundesländern kann immerhin – unabhängig von den individuellen Zufriedenheiten und den Unterschieden bei den jeweiligen Leistungen – wohl als vollendet betrachtet werden. 


[1] Gemäß Beschluss in der Kabinettssitzung vom 7.3.1990

[2] Obschon der „Sozialbericht 1990“ am 28.06.1990 dem Bundesrat vorgelegt wurde – d.h. über einem Monat nach Unterzeichnung des Staatsvertrags zur WWSU – werden zwar die Regelungen der Sozialunion vorgestellt, bei den detaillierten Ausführungen zu den konkreten Statistiken und Maßnahmen jedoch finden weder Sozialunion noch zukünftige Wiedervereinigung überhaupt Erwähnung. Hier zitierte Textstellen darum nicht im Ausschnitt dieses Dokuments.

[3] Vgl. Ritter 2006

[4] Vgl. Ritter 2006

[5] Lohnsubventionen wurden z.B. von Ökonomen wie Akerlof proklamiert und der Bundesregierung vorgeschlagen (Dokument Nr. 120)

[6] Ritter 2006, S, 395f

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