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Band 15: Justiz und Verwaltung (2010)

Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig

Titel
Band 15: Justiz und Verwaltung
Verfasser
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig
Mitwirkende
Hye-Jin Choi, Alexander Pfennig / Christian Schulten, Hoon Jung
Schlagwörter
Justiz, Politik, Verwaltung


Einleitung zur Problematik der Übertragung des Rechts- und Verwaltungssystems

Werner Pfennig

 

 

„Ich entsinne mich an ein Gespräch mit Staatssekretär Franz Kroppenstedt vom Bundes-justizministerium, der sich auf den Standpunkt stellte, die Verwaltungsentscheidungen der DDR taugten alle nicht viel. Worauf ich ihm im Spaß antwortete, dann solle man sie doch aufheben, dann hätten wir ungefähr 5 Millionen nichtige Ehen.“

(Lothar de Maizière)[1]

 

 

Menschen befolgen Gesetze und amtliche Anweisungen hauptsächlich aus folgenden Gründen:

·         weil der Staat deren Beachtung mit einem Sanktionsinstrumentarium durchsetzen kann (Polizei, Gerichte, Strafen),

·         der Sinn und Nutzen von Gesetzen wird unmittelbar eingesehen (Verkehrsregeln),

·         die Zustimmung erfolgt nicht aus vollster Überzeugung, aber der Nutzen wird meist anerkannt, es gibt eine Einsicht in die Notwendigkeit (Steuerrecht),

·         es gibt eine Gewöhnung an Gesetze und einen Mangel an praktizierbaren Alternativen.

 

Bei einer grundlegenden Veränderung, d. h. einem Systemwechsel, sollte das Neue von der überwiegenden Mehrheit der Betroffenen als das Bessere empfunden werden können und nicht als „Siegerjustiz“ neuer „Kolonialherren.“ Dies gilt allgemein, für Deutschland und zukünftige Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel.

 

Bei der Übertragung des bundesdeutschen Rechtssystems auf das Beitrittsgebiet am 3. Oktober 1990 gab es keine Alternative für die Bevölkerung der (früheren) DDR; eine Gewöhnung hatte sich nicht einstellen können und die Kenntnis über das neue System sowie Erfahrungen mit ihm waren gering bis nicht vorhanden. Diese Zustandsbeschreibung traf nicht nur auf die Bevölkerung zu, auch juristischem Personal der neuen Bundesländer war das nun übernommene und von ihnen zu praktizierende System weitgehend unbekannt.

 

In der DDR existierte keine Gewaltenteilung, das Justizsystem wurde als Instrument des Klassenkampfes und der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft empfunden. Richter waren „linientreue“ Mitglieder der Staatspartei.

Im Strafgesetzbuch standen sehr auslegbare Formulierungen, die dazu dienen sollten, abweichendes politisches Verhalten zu unterbinden, bzw. zu bestrafen, so z. B.: § 106 „staatsfeindliche Hetze“, § 215 gegen „Rowdytum“ und § 249 gegen „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten.“

 

In der DDR gab es keine eigenständige Bewährungshilfe, allerdings blieb bei einer nicht zu langen Gefängnisstrafe der Arbeitsplatz in der Regel erhalten, nach verbüßter Strafe konnte auf ihn zurückgekehrt werden und das „Kollektiv der Werktätigen“ war dann für die Resozialisierung zuständig. Kleinere Delikte (zum Beispiel Prügeleien, Beleidigungen, Ladendiebstähle) wurden durch Konflikt- und Schiedskommissionen geahndet; bei Akzeptanz der Strafe (des Tadels) galt diese nicht als Vorstrafe.

 

Ein erwähnenswerter Aspekt ist die in der DDR vorherrschende Haltung gegenüber „Volkseigentum.“ Das sozialistische Eigentum sollte Grundlage der Produktion, des Wohlergehens der Gesellschaft sein und sich deshalb einer besonderen Wertschätzung aller erfreuen, was aber nicht der Fall war. Die Entfremdung des Einzelnen von dieser Art von Eigentum bewirkte vielmehr eine Art kollektiver Verantwortungslosigkeit: Volkseigentum wurde nicht als des Volkes Eigentum betrachtet, sondern als Niemandes Eigentum, für das sich keiner recht verantwortlich fühlte. Diese Einstellung hatte Auswirkungen auf die Kriminalität. Die moralische Hemmschwelle beim Diebstahl von Volkseigentum war beträchtlich tiefer als beim Diebstahl von Privateigentum. Das ist bemerkenswert, denn Diebstahl von Volkseigentum wurde viel schärfer geahndet.

 

Wenn es Anlass gibt, den deutschen Einigungsprozess einzuschätzen, entstehen auch oft Diskussionen über den Charakter der DDR, die sich auf die Frage verengen, ob sie ein Unrechtsstaat gewesen sei? Die Charakterisierung bezieht sich meist auf die Staatspartei; im Einigungsvertrag steht „SED-Unrechts-Regime“, andere sprechen von „SED-Diktatur.“ Unrechtsstaat ist umfassender, kein juristischer, aber ein eindeutig politisch wertender Begriff. Viele, die in der früheren DDR lebten, sehen in ihm eine ungerechtfertigte Kritik an sich selbst, obwohl sich die Bezeichnung eindeutig auf den Staat und nicht auf die Staatsbürger bezieht. Diese Differenzierung wird in Debatten kaum vorgenommen, denn Kritik am Regime wird als personenbezogene Kritik empfunden. Die Nachfolgeorganisation der SED, die PDS bzw. Die Linke, ist besonders bemüht zu behaupten, es gebe eine solche, die gesamte DDR-Bevölkerung herabwürdigende, Gleichsetzung, weil die berechtigte Kritik daran in ihrem politischen Interesse liegt.

 

Es gab in der DDR Bereiche von Recht und Verwaltung, die rechtsstaatliche Kriterien erfüllten, deshalb wird in differenzierteren Äußerungen eher davon gesprochen, die DDR sei insgesamt ein „Nichtrechtsstaat“ gewesen.

 

Bereits die Währungsunion vom 1. Juli 1990 machte eine teilweise Rechtsangleichung erforderlich und es war offenkundig, dass mit dem Beitritt eine Übernahme des Rechtssystems erfolgen würde, Tempo und Umfang standen allerdings nicht von Beginn an fest. Lothar de Maizière hat diesbezügliche Überlegungen, schnelle Veränderungen und die damalige Atmosphäre (1990) anschaulich geschildert.

 

„Bei Verhandlungsbeginn des Einigungsvertrages waren beide Seiten noch davon ausgegangen, dass, ähnlich wie bei dem Vertrag über die Währungsunion, zwei Rechtsordnungen in Deutschland eine längere Zeit nebeneinander bestehen würden und erst im Zuge der Zeit die völlige Rechtsangleichung erfolgen würde. Diese Systematik, die Günther Krause und Wolfgang Schäuble vereinbart hatten und bevorzugten, wurde während der Sommerpause gekippt, weil sowohl Klaus Kinkel als der verhandlungsführende Justizstaatssekretär, der Minister war dauerhaft erkrankt, als auch Theo Waigel die Auffassung vertraten, zwei Rechtsordnungen nebeneinander könnten nicht bestehen. Theo Waigel war der Meinung, dass er die Verantwortung für eine gemeinsame deutsche Währung und Wirtschaft auf Dauer nur im absolut gleichen Rechtsrahmen tragen könne.

Diese Änderung in der Systematik hat die beiden Verhandlungsführer nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub sehr verärgert. Ich bin mir aus heutiger Sicht nicht sicher, ob es nicht doch richtig war, so wie geschehen zu verfahren, denn wenn ich mir das Gesetzestempo des Deutschen Bundestages der folgenden Jahre ansehe, hätte es wahrscheinlich zwei Jahrzehnte gebraucht, bis wir eine volle Rechtseinheit hergestellt hätten. Andererseits wäre vielleicht manche Aufbaumaßnahme im Osten leichter gewesen, wenn manche allzu bürokratische Regelung dem nicht entgegengestanden hätte.“[2]

 

 

1. Wie vollzog sich die Übernahme des Rechts- und Verwaltungssystems?

 

Ein Ziel der Rechtseinheit war auch die möglichst rasche und umfassende Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland. Der Einigungsvertrag enthält Bestimmungen über die Rechtsangleichung und widmet sich auch der Frage, wann DDR-Recht weiter gültig sein kann. (Dokument 3)

Dabei stellte sich die Frage nach Tempo, Prioritäten, Überleitungsverfahren sowie Ausnahmen (am Beispiel von Thüringen schildert das Dokument 8).

Um die Dringlichkeit einschätzen zu können wurden Kriterien aufgestellt:

·         Besondere politische Bedeutung,

·         sachliche Notwendigkeit

·         Rechtliche Vorgaben,

·         Anpassungsverpflichtung aus Völker- und EU-Recht,

·         sachspezifische Besonderheiten,

·         finanzielle Auswirkungen. (Dokument 4)

 

Das Bundesministerium der Justiz hatte eine Arbeitsgruppe „Rechtsfragen, insbesondere Rechtsangleichung“ im Rahmen des Kabinettsausschusses „Deutsche Einheit“ gebildet. (Dokument 2) Außerdem richtete das Ministerium eine Abteilung ein, die sich mit Recht und Unrecht in der DDR beschäftigte (siehe Organigramm).

Nach dem 3. Oktober 1990 unterstützte das Ministerium die neuen Bundesländer bei der Frage, welche Gesetze und Vorschriften der ehemaligen DDR noch Gültigkeit haben, indem es dafür eine spezielle Datenbank einrichtete. (Dokument 6)

Der Aufbau eines Rechtsstaats in den neuen Bundesländern wurde in den Jahren 1991-94 mit Bundesmitteln in Höhe von 297,5 Millionen DM unterstützt. (Dokument 23)

 

Bei der Rechtsangleichung und der Übernahme des Rechtssystems der Bundesrepublik durch das beitretende Territorium können drei Ebenen unterschieden werden:

1.      Übernahme des Bundesrechts für das Beitrittsgebiet          nationale Ebene

2.      Übernahme des „EU-Rechts“                                               europäische Ebene

3.      Übernahme völkerrechtlicher Verträge                                 globale Ebene

 

Auf nationaler Ebene:

·         Orientierung an dem System der Bundesrepublik ab Frühjahr 1990 und ab dem 3. Oktober dann Umwandlung des zentralen Systems der DDR in das föderale der Bundesrepublik, auch mit Hilfe von „Leihbeamten“ aus dem Westen und durch Partnerschaften zwischen Bundesländern, Städten und Gemeinden.

·         Kompetenzzuweisungen zwischen Bund und Ländern.

·         Übergangsbestimmungen bis zur Konstituierung der neuen Länder und Wahl von deren Ministerpräsidenten.

·         Die Regelung für Berlin sah vor: „Bis zur Bildung einer gesamtberliner Landesregierung nimmt der Senat von Berlin gemeinsam mit dem Magistrat die Aufgaben der gesamtberliner Landesregierung wahr.“ (Artikel 16) Beide Stadtregierungen sollten also zusammenwirken, wobei im entsprechenden Artikel der Senat von Berlin (West) an erster Stelle genannt wurde.

·         Fortgeltung von gerichtlichen Entscheidungen und Verwaltungsakten der DDR, sie können in Kraft gesetzt und vollstreckt werden, aber es gibt die Möglichkeit der Überprüfung der Vereinbarkeit nach rechtsstaatlichen Grundsätzen.

·         Übergangsregelungen für die Landesverwaltungen.

·         Regelungen für Angehörige des öffentlichen Dienstes.

·         Strafrechtlich Verurteilte können eine Aufhebung des Urteils beantragen (Kassation).

·         Generelle Möglichkeit der Rehabilitierung und einer angemessenen Entschädigung (In Berlin hatten bis zum Sommer 2010 insgesamt 10.745 Menschen einen Antrag auf Sonderrenten als politisch Verfolgte der DDR gestellt. Davon wurden bis Ende Juli 7.525 positiv entschieden. Ehemalige politische Häftlinge aus der DDR können seit 2007 eine monatliche Pension von 250 Euro erhalten.)

 

Auf europäischer Ebene:

·         Schon mit Errichtung der Währungsunion galten Bestimmungen der EU (z. B. im Agrarsektor).

·         Mit der Wiedervereinigung galten ab dem 3. Oktober 1990 Verträge über die Europäischen Gemeinschaften auch für das Beitrittsgebiet, allerdings wurden Ausnahmeregelungen vereinbart, sie „… sollten den verwaltungsmäßigen Bedürfnissen Rechnung tragen und der Vermeidung wirtschaftlicher Schwierigkeiten dienen.“ (Artikel 10)

 

 

Auf globaler Ebene:

·         Als über die deutsche Einigung verhandelt wurde, bestand noch die DDR und es galten somit die von ihr geschlossenen internationalen Vertrage und eingegangenen Verpflichtungen.

·         Diese Vertragslage sollte mit der DDR-Regierung besprochen werden und sie sollte Fortgeltung, Anpassung oder Erlöschen möglichst noch bis zum 3. Oktober 1990 regeln. Zumindest sollten in diesem Zeitraum Konsultationen mit den jeweiligen Vertragspartnern stattfinden.

·         Ansonsten übernahm das Beitrittsgebiet alle von der Bundesrepublik geschlossenen Verträge.

 

Rechtseinheit bedeutet nicht nur Übernahme eines neuen Systems und die Beibehaltung von Elementen eines alten, es ist auch Änderung von Institutionen und Verfahren, d. h. Änderung der Rechtspraxis. Rechtspraxis wird von Personen betrieben, also bedeutet Rechtseinheit auch Überprüfung, Übernahme, Schulung aber ebenfalls auch Rückstufung und Entlassung von Personal. Für Beamte und Angestellte ist die Anerkennung ihrer hauptberuflichen Tätigkeit im öffentlichen Dienst wichtig wegen der Eingruppierung und Besoldung, bzw. später wegen Versorgungsbezügen und Pensionen. Für diese Anerkennung galt, dass die Tätigkeit in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sein muss.

Anerkannt wurden frühere Tätigkeiten:

·         auf allen Ebenen der öffentlichen Verwaltung der ehemaligen DDR (von Ministerien bis zur Gemeindeverwaltung, auch öffentliche Aufgaben, die von Kirchen wahrgenommen wurden),

·         Dienst bei der Polizei und Feuerwehr,

·         Dienst bei der Nationalen Volksarmee, außer Politoffiziere,

·         Tätigkeit im Bildungsbereich, d. h. Kindergärten, auch kirchliche, Schulen und Universitäten

Nicht anerkannt wurden Tätigkeiten bei den Grenztruppen der DDR und beim Ministerium für Staatssicherheit. (Dokument 40)

 

Viele Gesetze und Verordnungen der DDR wurden abgeschafft oder verändert, andere Bereiche mussten neu gestaltet werden, so z. B. die Rechtspflege (Dokumente 5, 11, 13 und 20).

 

Die DDR hatte sich im Jahre 1990 um Reformen bemüht, so auch im Justizwesen. Änderungen wurden z. B. auch beim Zivilgesetzbuch angestrebt (Dokument 24) und in Dokument 25 schildert Lothar de Maizière die Vereinheitlichung des Zivilrechts im deutschen Vereinigungsprozess.

Einige Gesetze blieben in Kraft oder verloren erst nach einem gewissen Zeitraum ihre Gültigkeit, was hilfreich war für den Übergang. So blieb z. B. das Rechtsanwaltsgesetz der DDR vom 13. September noch mehrere Jahre gültig (Dokument 14).

 

Das Bundesministerium der Justiz übernahm Funktionen und Institutionen aus dem Rechtssystem der DDR (Dokument 12), so z. B.:

·         das Ministerium der Justiz der DDR; 1990 wurden von diesem Ministerium 87 Beschäftigte, darunter 26 Juristen zunächst befristet übernommen.

·         Das Oberste Gericht der DDR,

·         die Generalstaatsanwaltschaft. Diese Institution und die Militäroberstaatsanwaltschaft wurden aufgelöst und die Zuständigkeit ging auf den Generalbundesanwalt der Bundesrepublik Deutschland über (Dokument 7). Bereits in der DDR war das Personal im Justizbereich, so bei Staatsanwaltschaften, überprüft worden. (Dokumente 12 und 17)

·         Das Patentamt der DDR; von den 530 Mitarbeitern wurden 404 weiterbeschäftigt.

 

Urteilsüberprüfung

Es kam zur Gründung unabhängiger Ausschüsse, die aus mindestens einem Juristen aus den alten Bundesländern und einem Gefängnisgeistlichen bestehen sollten und deren Aufgabe es war, Strafurteile von DDR-Gerichten zu überprüfen und Gefangene zu beraten. (Dokumente 9 und 10 geben einen Überblick über die Arbeit dieser Ausschüsse und deren Empfehlungen.)

 

Überprüfung von Personal

Die Überprüfung von juristischem Personal und damit zusammenhängend die Verfahren zur Entscheidung über Weiterverwendung und Einstufung waren nicht einheitlich. Die im neuen Bundesland Brandenburg angewandte Praxis war, diplomatisch ausgedrückt, mehr verständnisvoll und konsensorientiert als anderswo. Richterwahlausschüsse hatten fast überall weniger als die Hälfte der Staatsanwälte im Dienst belassen, in Brandenburg waren es 55 Prozent. Besonders deutlich ist der Kontrast bei Richtern im Ländervergleich Berlin: Brandenburg, in Brandenburg blieben 45 Prozent auf ihrem Posten, in Berlin lediglich 11 Prozent.

Diese Zahlen machen deutlich, dass die Regelungen für Bewerbungen ehemaliger DDR-Richter in den neuen Bundesländern unterschiedlich waren, das „Beispiel Berlin“ schildert Dokument 18. Für die, die übernommen wurden und Neueingestellte gab es berufsbegleitende Fortbildungskurse: insgesamt 12 Lehrgänge, jeweils eine Woche pro Monat über einen Gesamtzeitraum von einem Jahr. (Dokumente 19 und 22 schildern Fortbildungsmaßnahmen in den einzelnen Bundesländern, Dokument 21 Maßnahmen für Bereichsrechtspfleger.)

 

 

2. Welche hauptsächlichen Probleme gab es?

 

Ähnlich anderen Bereichen im Einigungsprozess, so gab es auch bei Justiz und Verwaltung:

·         zu wenig Zeit,

·         zu wenig Vorbereitung,

·         einen Mangel an Kenntnissen über die jeweils andere Seite, auch unter juristischem Personal,

·         einen Mangel an Erfahrungen mit dem „westlichen System“ bei der DDR-Bevölkerung generell,

·         wenig Sensibilität für persönlich Betroffene.

In der DDR existierte zwangsläufig ein anderes Umfeld; in der BRD war das Rechts- und Verwaltungssystem über Jahrzehnte gewachsen, es gab Routine, Präzedenzfälle, höchstrichterliche Entscheidungen; all das, bezogen auf das Rechts- und Verwaltungswesen der BRD, fehlte in der DDR.

 

Neue Aufgaben und geringe Finanzausstattung

Die völlige Umstellung auf das neue System war besonders schwierig für Städte und Gemeinden: Sie mussten eine Fülle von neuen Aufgaben übernehmen, hatten aber zunehmend weniger Geld.

·         Mehr Personal wurde erforderlich und das übernommene Personal musste umgeschult werden.

·         Neue Investitionen, neue Büroflächen, neue Ausstattung (EDV, Computer) waren unerlässlich, aber zugleich musste sparsam gewirtschaftet werden, war Haushaltskonsolidierung ein sehr zu beachtendes Gebot.

Diese Problematik illustriert eine Vereinbarung der Stadt Erfurt mit der Gewerkschaft und dem Personalrat (Dokument 29), zur Lage in Berlin siehe Dokument 26.

 

Systemwechsel, Leihbeamte und Partnerschaften

Um eine schnelle Systemübertragung zu ermöglichen, um den Mangel an Kenntnissen zu reduzieren und das wechselseitige Wissen zu verbessern wurden Partnerschaften zwischen Verwaltungen auf unterschiedlichsten Ebenen geschaffen, so z. B. zwischen Brandenburg und Nordrhein-Westfalen.

Am 17. Mai 1990 hatte die Volkskammer der DDR die Wiedereinführung der kommunalen Selbstverwaltung beschlossen und am 22. Juli die Neugründung der 1952 untergegangenen Länder.

Diese Umstrukturierung allein schon war eine große Aufgabe, ab 3. Oktober 1990 kam dann noch ein fast kompletter Systemwechsel hinzu. Die Verwaltung der 7.753 ostdeutschen Städte und Gemeinden sowie der 179 Landkreise mussten umgebaut (Dokument 30) und die Verwaltung auf der Ebene der Landesregierungen musste völlig neu geschaffen werden. Im Jahre 1992 waren auf allen Ebenen der Verwaltung in den neuen Ländern rund 1,7 Millionen Menschen tätig, von ihnen kamen 35.000 Mitarbeiter aus dem Westen, rund 10.000 von ihnen waren in Landes- und Kommunalverwaltungen abgeordnet oder versetzt worden.

Der Bund hatte im Beitrittsgebiet etwa 4.200 Behörden aufzubauen:

·         darunter fast 200 der eigentlichen Bundesverwaltung,

·         mehr als 1.200 im Verteidigungsbereich,

·         ca. 100 Grenzschutzstellen,

·         jeweils 1.300 Dienststellen bei Post und Bahn, wo die meisten Personen aus ähnlichen Funktionen der ehemaligen DDR übernommen wurden.

 

Im Rahmen von Partnerschaften vermittelten westdeutsche Landesregierungen 8.500 Mitarbeiter und rund 1.500 kamen aus Bundesbehörden. Diese partnerschaftliche Kooperation war sehr hilfreich, machte aber am Anfang auch die großen Unterschiede deutlich; sie bereitete vielen „Leihbeamten“ aus dem Westen erhebliche Eingewöhnungsschwierigkeiten, was Auswirkungen auf das Klima der Zusammenarbeit hatte. (Dokument 30)

Ein westdeutscher Beamter des Innenministeriums beschrieb dieses Spannungsverhältnis: „Der Drang der Westbeamten nach Perfektionismus hat bisweilen den Aufbau gebremst; es wurde zu viel und zu detailliert geregelt. Die übernommenen Ostbeamten haben juristisch nicht so perfekt entschieden, aber ihr Laden lief.“ (Dokument 30, S. 1)

 

Wie zu erwarten war ein großes Problem die Übernahme von DDR Personal, insbesondere die fachlich begründete bzw. erforderliche Rückstufung und die politische Überprüfung (Zusammenarbeit mit der „Stasi“). Besonders in den frühen 1990er Jahren gab es eine Reihe von Veränderungen, die sich diesem Problem widmeten und mit denen zugleich versucht wurde, den Vereinigungs- und Angleichungsprozess zu beschleunigen. Dazu gehörten u. a.:

·         neues Dienstrecht,

·         Übergangsregelungen (Dokument 40),

·         Sonderkündigungsrecht (Dokument 39),

·         Regelungen für Probe- und Bewährungszeiten (Dokument 32).

 

Es gab begründete Befürchtungen, dass politisch belastete Richter und Staatsanwälte nach ihrer Entlassung in den Anwaltsberuf überwechseln könnten; um dies zu erschweren wurde im Juli 1992 das „Gesetz zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Berufung ehrenamtlicher Richter“ beschlossen. (Dokument 14, siehe auch Dokumente 15 und 16)

 

Regelung von Eigentumsfragen

Besonders schwierig war es in Bereichen, wo der Regelungsbedarf groß und die Sachkompetenz sowie das erforderliche Personal gering waren. Da in der DDR Privatbesitz nur eine untergeordnete Rolle spielte, war das Grundbuchwesen ein Bereich mit außerordentlich großem Nachholbedarf und viel zu wenig Personal (Dokument 28). Weil es hier nicht nur um persönlichen Besitz und Eigentum ging, sondern die Eigentumsfrage auch große Bedeutung für Investitionstätigkeit hatte, bemühten sich die neuen Bundesländer um eine schnelle Verbesserung. Der Ministerpräsident von Brandenburg berichtete von Erfolgen: Seit 1992 bis zum September 1994 „konnten annähernd 600.000 Anträge erledigt werden. Monatlich etwa 20.000 Antragseingängen stehen heute bereits ca. 21.000 Erledigungen gegenüber. Rückstände werden weiter abgebaut, wichtige Investitionsvorhaben mit Vorrang behandelt. Auch im Handelsregisterbereich erreichen wir investitionsfördernde kürzere Bearbeitungszeiten.“

Dieses Zitat aus einer Regierungserklärung vom September 1994 ist naturgemäß positiv und es hat tatsächlich beachtliche Fortschritte gegeben, dennoch sind auch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch eine Fülle ungeklärter Eigentumsfragen zu lösen.

 

 

3. Was könnte für Korea relevant sein?

 

Wie auch in den anderen Bänden des Projekts kann diese Frage kaum und dann nur mit großer Vorsicht beantwortet werden. Eine konkrete Voraussage bezüglich Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel ist nicht möglich.

Es wird viel davon abhängen, ob es zu einem Zusammenbruch des nordkoreanischen Regimes kommt, zu einer systemfestigenden, umfassenden Reform, zu einer langsamen Annäherung an die Republik Korea, zu einer Entwicklung ähnlich wie in Deutschland oder zu anderen Szenarien. All das hat Rückwirkungen auf Stabilität, Machtausübung, das Ansehen staatlicher Autorität und die Bereitschaft zur Mitwirkung durch die Bevölkerung. Hier wird es nicht nur um den großen Rahmen, gebildet durch Verfassung und Gesetze, gehen, denn auch im alltäglichen Bereich sind Veränderungen in Nordkorea unvermeidbar, so zum Beispiel eine Fülle privatrechtlicher Dienstverhältnisse. (Zur Entwicklung in Deutschland siehe Dokument 26)

 

Grundsätzlicher Unterschied

Das System Nordkoreas entzieht sich weitgehend einer zutreffenden Typisierung, obwohl oft versucht wird, seinen Charakter zu definieren (ob nun Kimilsungismus, Byzantinismus, altstalinistische Diktatur, usw.). Ein Merkmal ist gewiss die quasi-militärische Durchorganisation der gesamten Gesellschaft. Das Rechtssystem ist nicht unabhängig, es folgt nicht allgemein anerkannten rechtsstaatlichen Prinzipien und etwaige in Verfassung und Gesetzen verbriefte Rechte sind kaum einklagbar. Erschwerend kommt eine seit langer Zeit vorherrschende Mentalität hinzu: Wer angeklagt ist, wird schon schuldig sein, sonst wäre er ja nicht angeklagt.

Eine Vereinigung müsste auch einen völligen Wandel des Rechtssystems beinhalten. Das gilt ebenfalls für die Verwaltung. Ähnlich den Verhältnissen in der DDR, so herrscht auch in Nordkorea eine „Kaderverwaltung“, die in eine problemorientierte, bürgernahe Verwaltung transformiert werden muss. Was dann notwendig wird, ist eine Entwicklung vom „Staatsfunktionär zum Beamten einer rechtsstaatlichen Verwaltung.“[3]

 

In einer Übergangsphase und bei einer Vereinigung ähnlich der Entwicklung in Deutschland wird gründlich und unvoreingenommen zu prüfen sein:

·         Was muss sofort geändert werden?

·         Was kann weiterbestehen?

·         Wer vom vorhandenen Personal kann übernommen werden?

·         Wie sind die zu behandeln, die nicht übernommen werden?

 

Noch viel stärker als die ehemalige DDR ist Nordkorea ein System, das durch Mangelwirtschaft gekennzeichnet ist. Die ihm innewohnenden Sachzwänge bewirken bei vielen Menschen ein Talent zur Anpassung und zur Improvisation; Verhaltensweisen, die in einer Umbruch- und Übergangsphase genutzt werden sollten.

 

Rehabilitierungen

Ein sensibler Punkt ist sicher die Rehabilitierung und Entschädigung von politischen Gefangenen und politisch Verfolgten. Hier wird es auf sorgfältige Definitionen ankommen und auf an der Praxis des Nordens orientierte Kategorien, denn viele Strafen und Einweisungen in Lager sind nicht unbedingt über formelle Gerichtsverfahren erfolgt. Generell sollte die Möglichkeit der Rehabilitierung und angemessenen Entschädigung bestehen, wobei es nicht leicht sein dürfte, akzeptable und praktikable Vorstellungen für „Angemessenheit“ zu entwickeln.

Ähnlich wie in Deutschland wäre es wohl sinnvoll, unabhängige Ausschüsse für die Überprüfung von Urteilen und Beratung von Häftlingen zu etablieren. Sicher werden Entschädigungen für Insassen von Arbeitslagern und deren Wiedereingliederung in eine neue Gesellschaft eine große Aufgabe sein.

 

Haltung gegenüber Eigentumsformen

Eine Frage, die ich nicht beantworten kann, bezieht sich auf die Einstellung dem Eigentum gegenüber in Nordkorea. Eigentlich sind es drei Fragen:

1.      Da fast alles Volkseigentum ist, wird das wenige, was noch Privateigentum ist, deshalb besonders geschätzt?

2.      Gibt es eine ähnliche Haltung wie damals in der DDR, dass Diebstahl von Volkseigentum von vielen als nicht besonders verwerflich angesehen wurde, denn es gehörte ja niemandem?

3.      Wie wird sich die Bevölkerung des Nordens verhalten, wenn es im Rahmen von Privatisierungen zu einer massiven Ausweitung von Privateigentum kommen sollte und Unterschiede bei Besitzverhältnissen drastisch deutlich werden?

Egal wie die Antworten ausfallen, es ist auf jeden Fall ein wichtiger Bereich des Rechtssystems. So starr das System auch nach außen erscheinen mag, Nordkorea hat sich in den letzten Jahren verändert; im Gegensatz zu früher spielt Geld eine Rolle und es gibt „Reformkorruption.“

 

Gesetzestext und Praxis

In allen politischen Systemen existiert eine Differenz zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit, zwischen dem Wortlaut sowie Geist von Gesetzen und politischer Praxis.

Je geringer die Differenz, desto freier ist eine Gesellschaft, desto größer ist der Grad an demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten für die Bevölkerung. Selbst in Diktaturen gibt es Verfassungen, deren Text akzeptabel ist, die aber in der Praxis keine Anwendung finden. Auch in Nordkorea könnte es Bestimmungen geben, die bei anderen politischen Rahmenbedingungen eine positive Anwendung ermöglichen.

Es wird in einer Übergangsphase und danach darauf ankommen, solche Bestimmungen zu finden und auch Institutionen sowie Personen zu finden, die diese Verordnungen dann in einem demokratischen Sinne nutzen können. Lange Zeit schien dies in der DDR nicht möglich zu sein und Außenstehende hatten keine Kenntnis über solche Institutionen und Akteure, was sich dann ab 1989 schnell änderte. Mit dem Beispiel der Versammlungsordnung und Kirchen in der DDR soll dies erläutert werden.

 

Einige dieser Bereiche konnten politisch genutzt werden. Die Versammlungsordnung der DDR sah auf dem Papier akzeptabel aus, wurde in der Praxis aber sehr restriktiv gehandhabt; eigentlich konnten nur die SED und ihre Massenorganisationen Versammlungen abhalten. Allerdings war es den Kirchen erlaubt, selbstverantwortlich Gottesdienste und Zusammenkünfte durchzuführen. In der Bürgerbewegung und bei der Opposition generell spielten Pfarrer eine besondere Rolle. Sie waren finanziell nicht vom Staat, d. h. von der SED abhängig, denn sie wurden von der Kirche bezahlt, hatten eine Dienstwohnung, verfügten über Versammlungsräume, Telefon und Vervielfältigungsmöglichkeiten (Rundbriefe für die Gemeinde). Im Rahmen der Friedens- und Ökologiebewegung wurden kirchliche Veranstaltungen thematisch angereichert und erhielten einen politisch-oppositionellen Akzent. In der Übergangsphase 1989 und 1990 wurden Kirchen zu Zentren politischer Aktivität mit großer Mobilisierungsfähigkeit. Viele Pfarrer wurden Mitglieder der Volkskammer bzw. Minister in der Regierung von Lothar de Maizière.

 

Bevor die Friedens- und Ökologiebewegung der DDR ins Bewusstsein der eigenen Öffentlichkeit und des Auslands trat, vermochten sich nur wenige Menschen vorzustellen, dass es eine solche Bewegung und sie tragende Institutionen geben könne. Ob ähnliche Entwicklungen auch in Nordkorea möglich sein könnten, kann ich nicht prognostizieren; die Möglichkeit ist dennoch nicht völlig auszuschließen. Es wäre ratsam, solche „Agenten des Wechsels“ und der Veränderung zu identifizieren und sie zu unterstützen. Zusammen mit positiven Kräften (Reformer, Pragmatiker) bei einem Elitendissens in der nordkoreanischen Führung wären solche Gruppierungen wichtige Kooperationspartner für den Süden und das unterstützende Ausland.


[1] de Maizière, Lothar: Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen. Meine Geschichte der deutschen Einheit. Freiburg im Breisgau: Herder, 2010, S. 289.

[2]A.a.O., S. 287f.

[3] So der Titel eines Aufsatzes von Joachim Vollmuth: Vom Staatsfunktionär zum Beamten einer rechtsstaatlichen Verwaltung - Zu den Anforderungen an Qualifizierungsprogramme in den neuen Bundesländern – . Die Öffentliche Verwaltung, Mai 1992, Heft 9. S. 376-385.

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