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Band 05: Strukturveränderungen (2010)

Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig

Titel
Band 05: Strukturveränderungen
Verfasser
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig
Mitwirkende
Sugeen Park, Alexander Pfennig / Christian Schulten, Hoon Jung
Schlagwörter
Verwaltung


Strukturveränderungen:

Parteien, neue Bundesländer, neue Gemeinden, neue Hauptstadt


Werner Pfennig

 

 

Struktur sind die Aspekte eines Systems, die sich nur langsam verändern und dies unter beträchtlichen Kosten; wenn sie sich verändern, dann mit großen Konsequenzen für andere Teile des Systems.

(Karl W. Deutsch)

 

 

Wenn sich Strukturen ungeplant, unerwartet und plötzlich verändern, dann ist dies fast immer mit hohen Kosten verbunden, was nicht nur finanziell gemeint ist und besonders auf die umfassende Übertragung von Strukturen von einem auf ein anderes System zutrifft. Mit Sicherheit sind Parteien wesentliche Teile einer Struktur, die SED war für die DDR das tragende und dominierende Element.

 

In diesem Band werden drei Strukturelemente behandelt:

·         Parteien und hier vor allem der Wandlungsprozess der SED,

·         Veränderungen auf Länder- und kommunaler Ebene, d.h. der Neuaufbau der Verwaltung, dort wo die Bevölkerung am direktesten mit staatlichen Strukturen in Berührung kommt,

·         Hauptstadtfrage; ein Aspekt von nationaler Symbolik, der für Identifikation und Selbstwertgefühl eine wichtige Rolle spielt.

 

 

1.       Welche Strukturen wurden verändert und wie?

 

1.1    Parteien

Die DDR war formal kein Einparteienstaat, so wie die Volksrepublik China es auch nicht ist; in beiden Fällen dominierte bzw. dominiert aber eine Partei, daher fällt es schwer, eine deutliche Trennung zwischen Partei und Staat zu erkennen.

 

Von besonderem Interesse ist die Entwicklung der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschland) über die PDS hin zur Partei „Die Linke.“ Innerhalb von einem kurzen Zeitraum hat sie fast schon dramatisch zu nennende Wandlungen durchgemacht.

Eine früher annähernd absolut dominierende Partei:

·         verlor „ihren“ Staat und fast alle ihre Mitglieder,

·         versuchte sich zu reformieren,

·         durchlitt Reformen, die das eigene Selbstverständnis auf Zerreißproben stellte, so. z. B. der Verzicht auf die verfassungsmäßig garantierte „führende Stellung in Staat und Gesellschaft“,

·         konnte im wiedervereinigten Deutschland sich von einer auf den Osten konzentrierten Gruppierung zu einer halbwegs gesamtdeutschen Partei entwickeln und eine Kritik am früheren System der DDR wie eine Kritik an deren ehemaligen Bewohnern erscheinen zu lassen, (Dokument 10: Beschluss des Parteivorstandes der PDS zur Vorbereitung gesamtdeutscher Wahlen, Dokument 12: Erklärung des Präsidiums der PDS zur MfS- Problematik)

·         erreichte eine Neupositionierung, mit der sie innerhalb eines demokratischen Systems eine wichtige Rolle in einem Fünf-Parteiensystem spielt und in einigen Bundesländern Regierungsverantwortung übernommen hat.

 

Abgesehen von deutschen Spezifika ist diese Entwicklung der ehemaligen SED auch deshalb ein interessanter Fall, weil sich hier zeigt, wie nach einer Reform- und Anpassungsphase frühere Parteikader und Angehörige der Funktionselite durchaus wieder eine Rolle spielen können.

 

1.2    Blockparteien

Unter Führung der SED agierten in der Nationalen Front noch vier Parteien in der DDR, die allerdings kein politisch unabhängiges Eigenleben führten und den Machtanspruch der dominierenden Partei in keinster Weise in Frage stellten. Es waren die:

Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU)

Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD)

Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD)

National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD)

 

Tabelle 1

Gerundete Mitgliederzahlen der Blockparteien in der DDR, 1949 bis 1987

 

 

1949

Ca. 1965

1977

1982

1987

Zuwachs

1977-1987

CDU

211 200

*

101 000

115 000

120 000

140 000

22 %

LDPD

184 000

 

65 000

74 000

82 000

106 500

44 %

DBD

23 300

 

84 000

91 000

103 000

115 000

27 %

NDPD

35 000

 

79 000

84 000

91 000

110 000

31 %

Gesamt

422 500

 

329 000

364 000

396 000

471 500

30 %

* 1948 (Quellen: Lapp, Peter Joachim. 1988: Die „befreundeten Parteien“ der SED. DDR-Blockparteien heute. Köln, S. 143. Weber, Jürgen, Hrsg. 1994: Der SED-Staat: Neues über eine vergangene Diktatur. München, S. 112)


 

1.3    Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)

Parteien, auch in autoritären Staaten, agieren in einem sozio-ökonomischen Umfeld, das sich verändert. Ein Problem der SED-Führung war, dass sie diese Veränderungen entweder:

·         nicht zu Kenntnis nahm,

·         sie zu spät erkannte,

·         ihre Bedeutung, ihre Brisanz sowie die Konsequenzen falsch einschätzte;

oder dass sie auf diese Veränderungen:

·         zu spät reagierte,

·         nicht angemessen reagierte,

·         ihre Reaktionen die Veränderungen noch beschleunigten.

 

Eine entscheidende Etappe in der Entwicklung/Beschleunigung struktureller Veränderungen war die Kommunalwahl am 7. Mai 1989. Bereits im Vorfeld dieser Wahlen hätte die SED-Führung sehen können, wie sich Unmutpotenziale in der Bevölkerung verstärkten und bündelten. Im Zusammenhang mit Wahlen gab es in der DDR die Möglichkeit, Eingaben an die Behörden zu machen. Im Vergleich zum Jahr 1986 war die Zahl dieser Eingaben vor der Kommunalwahl 1989 um über 51 Prozent gestiegen, ein Indikator für Unzufriedenheit und die Bereitschaft, sich zu beschweren. Es ging in erster Linie um Wohn- und Versorgungsprobleme, aber die wachsende Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung hätte für die SED-Führung erkennbar sein müssen. Diese Stimmung konkretisierte sich in einer Zeit nachlassender Kontrollfähigkeit der Staatsmacht, in der Bevölkerung wuchs die Bereitschaft sich zu äußern, zu organisieren und es kam zu verschiedenen Formen punktueller Zusammenarbeit, so z. B. zur Organisation von Wahlkontrollen.

 

Dem Ministerrat der DDR (Kabinett) war diese Stimmung bekannt, wie aus einer Information vom Frühjahr 1989 hervorgeht: „Vielfach sind es immer wieder individuelle Wünsche, wie die Einrichtung eines Fernsprechanschlusses, das Abonnement von Tageszeitungen und Zeitschriften, der Kauf von Möbeln sowie Wartezeiten auf einen Pkw … Solche Argumente, daß zur Zeit keine volkswirtschaftlichen Möglichkeiten gegeben sind, solche Probleme zu lösen, akzeptieren die Bürger in den meisten Fällen nicht mehr, da diese Mängel seit Jahren bestehen.“[1]

 

Im Jahre 1989 wurden beide, die Reformnotwendigkeit und Reformunfähigkeit des DDR-Systems, offenkundig. Oppositionelle Gruppen kündigten an, zur nächsten Volkskammerwahl eine „Grüne Liste“ aufzustellen, denn eine Reform getragen von den etablierten Parteien der DDR schien unmöglich. Das Ziel war nicht mehr eine Liberalisierung des Systems, sondern der Aufbau einer Opposition. Es trafen zwei Gruppen zusammen; jene, die das System grundlegend verändern wollten und jene, die der Meinung waren, das System müsse letztlich überwunden werden. Sie kooperierten im Frühjahr 1989 und waren mit der Wahlkontrolle bei der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 erfolgreich, weshalb der Wahlbetrug offenkundig wurde.

 

Die SED schätzte Lage falsch ein. Sie reagierte nicht auf den bewiesenen Vorwurf der massiven Wahlfälschung, d.h. den Verstoß gegen „eigene“ Gesetze.

 

Das bewirkte (Dokument 2: Außerordentlicher Parteitag):

·         Unverständnis und Proteste in der Bevölkerung,

·         Verunsicherung in unteren Parteirängen,

·         die stärkere Formierung von systemimmanenten Reformkräften in der SED,

·         aber auch hartes Durchgreifen auf Befehl der Parteiführung, was allerdings zu vermehrten Demonstrationen und Solidarisierungsbewegungen führte,

·         Probleme bei den Blockparteien, weiterhin loyal zur SED zu stehen,

·         bei vielen, vor allem jungen Leuten, die Einschätzung, man müsse entweder rebellieren (was gefährlich war) oder die DDR verlassen; im Jahre 1989 stieg die Zahl der Anträge auf Übersiedlung in die Bundesrepublik drastisch an,

·         aber auch bei vielen die Überzeugung, dass Weggang keine Alternative sei, sondern sich in der DDR etwas ändern müsse und dass dazu nun realistische Möglichkeiten bestünden.

 

Fehleinschätzungen und deren für die SED negative Konsequenzen

Die Wahlfälschungen und die Reaktion der SED darauf trugen zu einer entscheidenden Veränderung bei:

·         individuelle Zivilcourage wurde gebündelt und

·         es begann eine Entwicklung hin zu einem an Zivilgesellschaft orientiertem Handeln.

 

Die Bevölkerung und die SED, beide hatten keine Erfahrungen mit pluralistischer Parteiendemokratie und einem partizipatorischen Demokratieverständnis. Der Demokratiebegriff der SED sah anstelle von selbstbestimmter Mitwirkung nur Konsultation vor. Der überwiegende Teil der Bevölkerung kannte keine freien Wahlen, denn die letzten solchen Wahlen in diesem Teil Deutschlands hatten im September 1932 stattgefunden. Auch die Führung besaß nur begrenzte Erfahrungen, für sie war Opposition gleichbedeutend mit Gefahr, weil sie keine praktischen Erkenntnisse mit konstruktiver aber noch immer systemimmanenter Opposition hatte und sie sich wegen der vorherrschenden Ideologie eine solche auch konkret nicht vorstellen konnte. Somit waren ihr alle Wege hin zu einer grundlegenden Reform verbaut. Eine aufschlussreiche Darstellung der internen Einschätzungen und Reflektion über den Charakter der Partei in der Umbruchphase, über ihr Innenleben, stammt von Max Klein (Dokument 4: Persönliche Erinnerungen an den außerordentlichen Parteitag der SED am 09./10.12. und 15./16.12.1989).

 

Als sich die starre Haltung änderte und sich die Erkenntnis durchsetzte, dass einschneidende Reformen notwendig seien, war es bereits zu spät. Die neue Führung der SED unter Gregor Gysi versuchte ab Dezember 1989 einen Kurswechsel, gab den verfassungsgemäßen Führungsanspruch auf und am 4. Februar 1990 folgte nicht nur eine Umbenennung in Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), sondern auch ein programmatisches Bekennen zu Gewaltenteilung und Parteienpluralismus (Dokument 3: Statut der SED/PDS- Partei des Demokratischen Sozialismus).



Eile schien in der Tat geboten:

·         die SED hatte im Oktober 1989 noch 2,3 Millionen Mitglieder,

·         im Mai 1990 waren es dann nur noch 450 000,

·         95 % der früheren Mitglieder traten letztlich aus der Partei aus und wurden bzw. blieben nicht Mitglied der PDS (siehe Schaubild),

·         die Parteiführung glaubte auch, die Zeit nutzen zu müssen, um noch möglichst geordnet einen Teil ihrer Immobilien zu veräußern oder in andere Eigentumsverhältnisse überführen zu können (Dokument 44: Maßnahmen zur Sicherung des Parteivermögens der SED-PDS; Dokument 45 a-c und Dokument 46 a-h).

 

Abgesehen von Parteiausschlüssen hatten die massiven Parteiaustritte vielfältige Gründe; die Hauptmotive waren:

·         Anhänger der „reinen Lehre“ sahen in der neuen Ausrichtung der Partei einen Verrat am Marxismus-Leninismus und der bisherigen Praxis im „real existierenden Sozialismus“ der DDR.

·         Opportunisten sahen keine zwingende Notwendigkeit mehr für eine Mitgliedschaft, weil diese die weitere Karriere beeinträchtigen könnte und es nun erfolgversprechendere Alternativen gab.

·         Reformkräfte waren enttäuscht und wollten zeitlichen Abstand gewinnen, sehen wie die Partei sich entwickelt und dann später über ein mehr direktes parteipolitisches Engagement entscheiden.

 

Ministerpräsident Hans Modrow gründete Anfang Februar 1990 unter Einbeziehung der Opposition eine „Regierung der Nationalen Verantwortung“. In dieser Zeit drohte der SED-PDS nicht nur der Verlust der Macht, sondern der Untergang der DDR überhaupt, das Ende „ihres“ Staates. Gysi und Modrow wollten von der DDR retten, was noch zu retten war; sie kalkulierten auch eine Wahlniederlage ein, wohl in der Hoffnung, dass der PDS wegen ihrer finanziellen und organisatorischen Stärke eine (baldige) Rückkehr an die Macht gelingen könnte.

 

Wenig Fachkenntnis, auswärtige Hilfe

In dieser äußerst wichtigen Umbruchphase (1989-90) waren die Gewichte ungleich verteilt. Bürgerbewegungen hatten eine Fülle von Ideen und engagierten sich mutig in zahlreichen Initiativen aber sie hatten keine adäquaten Finanzen, Organisationen und Kommunikationsnetze. Die Blockparteien verfügten zwar noch über Geld und eine gewisse Infrastruktur, aber in eigenständiger politischer Arbeit waren sie nicht hinreichend geübt. Die LDPD erarbeitete den Entwurf eines neuen Wahlgesetzes, den sie Anfang Dezember 1989 der Volkskammer und dem Runden Tisch vorlegte. (Den Runden Tisch bildeten Vertreter von 14 Parteien und Gruppierungen, er diente den Bürgerbewegungen als Plattform.) Kurz nach Öffnung der Mauer (November 1989) fuhr ein Mitglied der Partei nach Berlin-West, besorgte sich juristische Fachliteratur und schuf über eine Bekannte einen Kontakt zu einem hohen Beamten in der Senatsinnenverwaltung, der langjähriger Leiter des Wahlamtes war. Diese ersten Kontakte waren privater Natur, wurden aber bald durch offizielle Parteikontakte ergänzt, wobei sich die führenden Parteien der Bundesrepublik schnell engagierten.

 

Auch die Bürgerbewegungen machten politische Entwürfe, sie betonten plebiszitäre Elemente, verschiedene Formen von Basisdemokratie und waren durch eine Abneigung gegenüber Macht und Institutionen gekennzeichnet. Diese Aversion gründete sich auf die in der DDR gemachten Erfahrung mit mächtigen Institutionen und sie bestand auch wegen nicht gemachter Erfahrung mit Machtkontrolle in einem Rechtsstaat. Wegen der völlig anderen Sozialisation in der DDR gab es generell einen großen Mangel an Kenntnissen über Pluralismus und Gewaltenteilung; eingeübt war: anpassen, nicht auffallen, Schaffung von privaten Freiräumen aber nicht Organisation öffentlicher Diskussionsforen. Die Bürgerbewegungen waren organisatorisch völlig überfordert und hatten bei den vorgezogenen Wahlen (18. März 1990) kaum Chancen.

 

Eindeutig stärkster Akteur in dem ungleichen Kräfteverhältnis war die SED-PDS.

Im Oktober 1989 verfügte die SED über:

·         44 000 hauptamtliche Mitarbeiter,

·         jährliche Einnahmen von rund 1,5 Milliarden Mark (der DDR),

·         Bankguthaben von 6,2 Milliarden Mark (Kontostand zum 31. Dezember 1989), davon standen 2,75 Milliarden dem ZK der SED und nach dem 7. Dezember 1989 dem Parteivorstand der SED-PDS direkt zu Verfügung,

·         Devisen in Höhe von 87 Millionen,

·         ein mobiles Anlagevermögen (Büros, Kraftfahrzeuge, usw.) in Höhe von 464 Millionen DM (der DDR),

·         außerdem standen der gesamte Staatsapparat und die Medien mehr oder weniger der Partei zur Verfügung.

 

1.4    Bürgerbewegungen und Initiativen

Wenn auch der Einfluss der Bürgerbewegungen aus der „alten DDR“ auf der nationalen Ebene nach der Wiedervereinigung gering ist, so lohnt es dennoch, sich mit ihnen zu beschäftigen, denn gerade in der Übergangsphase gab es eine Fülle von Vereinsgründungen, Bemühungen um die Schaffung von Netzwerken und vor allem zahlreiche Initiativen unterschiedlichster Art. Einige Beispiele:

·         Bemühungen um Neugründungen und historische Wiederbelebungen, z.B. USPD (Dokument 34 Einige Gedanken über die Gründung der USPD),

·         Wiederbelebungsversuche für die KPD (Dokument 35 Diskussionspapier der Initiative zur Wiedergründung der KPD),

·         Versuch, den Zusammenschluss einer demokratischen Linken zu erreichen (Dokument 37 Aufruf zur Vereinigung aller linken Demokraten),

·         Aufruf zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften (Dokument 33 Gründungsaufruf zur Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft),

·         Bemühungen, keine rechtsradikalen Organisationen/Parteien (Die Republikaner) auf dem Territorium der DDR zuzulassen (Dokument 36 Antrag des Präsidiums der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik)

·         Die Nelken (Dokument 32: Die Nelken Gründungsgruppe für eine marxistische Partei)

·         Das Bürgerkomitee Normannenstraße zur Überwachung der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (Dokument 38: Bürgerkomitee Normannenstraße)

·         Die Grüne Liga (Dokument 39: Gründungsaufruf für eine „Grüne Liga“)

·         Lila Offensive, d.h. Unterstützung der Frauenbewegung (Dokument 16: Lila Offensive Standortbestimmung)

·         Viele Bewegungen, die nicht als Partei erstarren, sondern als überparteiliche Vereinigung weiterhin tätig sein wollten, wie die Gruppe der 20 in Dresden (Dokument 15: Erklärung der „Gruppe der 20“ in der Stadt Dresden)

·         Initiative Frieden und Menschenrechte (Dokument 13: Aufruf der Initiative Frieden und Menschenrechte)

 

1.5    Finanzen der Parteien

Der Partei- und Staatsführung um Gysi und Modrow gelang es noch vor dem Zusammenbruch der DDR, Tarnfirmen im Ausland, so in Österreich aufzubauen und dorthin große Summe zu transferieren. Der spätere konkrete Nachweis fiel schwer. Es wurden Belege in Höhe von 129 Mio. € gefunden, welche die Handelsgesellschaft „Novum“[2] nach Österreich überwiesen hatte. Dies ist ein Betrag, der inklusive Zinsen im Jahr 2010 eine Summe von 230 bis 240 Millionen € ausmachte. In einem jahrzehntelangen Rechtsstreit wurde entschieden, dass es sich um Vermögen der SED handele, das jetzt der Bundesrepublik Deutschland zustehe, aber selbst im März 2010 gab es noch keine letztinstanzliche Entscheidung. Kläger auf deutscher Seite ist federführend die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben. Nach ihrer Auffassung handelt es sich bei diesem Geld der Novum um Parteivermögen der DDR-Staatspartei SED, worauf die ostdeutschen Länder als Rechtsnachfolger Anspruch besäßen. Gemäß Einigungsvertrag soll das Geld gemeinnützigen Projekten in Ostdeutschland zur Verfügung gestellt werden.

 

Die SED und die anderen Blockparteien waren gegen die Offenlegung ihrer Finanzen. Die Blockparteien fürchteten zu Recht, dass sich ihre Abhängigkeit dadurch noch offenkundiger zeigen würde. Nur durch die Drohung des Abbruchs des Dialogs durch die Opposition beim Runden Tisch gelang eine sehr späte Offenlegung.

 

Wie aus der Tabelle 2 zu erkennen ist, verfügten alle Parteien über beträchtliche Einnahmen. Den Blockparteien, außer der DBD, gehörten Zeitungen, Verlage und andere Unternehmen, die für einen steten Geldfluss sorgten. Die Zahlen in der Tabelle sind weitgehend eigene Angaben der Parteien und wie immer in solchen Fällen wird die günstigste Buchungsmethode gewählt. Dennoch ist klar, dass alle Parteien ein beträchtliches Vermögen hatten und gegenüber den Bürgerbewegungen klar im Vorteil waren. Es kam zu keiner fairen neuen Regelung der Parteienfinanzierung. Am 18. März 1990 gab es zwar die erste demokratische und freie Wahl zur Volkskammer, aber keine Chancengleichheit.


Offenlegung der Finanzen der Parteien der DDR zum 31. Dezember 1989 (Mio. DDR-Mark)

 

Quelle:    Datenmaterial von Kloth, Hans Michael. 2000. Vom "Zettelfalten" zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die "Wahlfrage". Berlin: Ch. Links Verlag, S. 694. Grafik von Alexander Pfennig. Die Werte der SED reichen mitunter weit über die abgebildeten 100 Mio. DDR-Mark hinaus.


1989 erhielten Bürgerbewegungen noch viel Unterstützung aus dem Westen. 1990, mit der überraschenden Dynamisierung der Entwicklung und der Perspektive eines Wahlsieges (und einer möglichen Wiedervereinigung), erhielten die früheren Blockparteien ab Februar massive Unterstützung, wenn sie einen Westpartner gefunden hatten und die Bürgerbewegungen wurden immer weniger beachtet bzw. unterstützt.

 

Tabelle 2

Offenlegung der Finanzen der Parteien der DDR zum 31. Dezember 1989

 

 

SED

CDU

LDPD

NDPD

DBD

Einnahmen

(in Mio. Mark)

1.498,8

33,2*

47,0

34,0

38,8

Mitgliedsbeiträge

u.ä.

710,4

(47,5%)

3,7

(11,2%)

9,2

(19,5%)

6,6

(19,4%)

6,2

(15,9%)

Gewinn-

abführungen von

Parteibetrieben

720,3

(48,2%)

3,9

(11,8%)

18,8

(39,9%)

27,1

(79,7%)**

Entfällt+

Staatszuführungen

(eigene Angaben)

Keine

25,1

(75,5%)

18,1

(38,5%)

Keine**

31,8

(81,9%)

Staatszuführungen

laut Modrow vom 13.12.89

19,0

(4,3%)

35,5

(80,1%)

18,1

(38,5%)

27,1

(79,7%)

31,8

(81,9%)

Andere

64,1

(4,3%)

0,5

(1,5%)

1,0

(2,1%)

0,3

(1,0%)

0,4

(1,1%)

*     Vorläufige Bilanz vom 30.9.1989

** Die NDPD verbuchte offenbar die Ausgleichszahlungen für Industriepreisänderungen als einnahmen ihrer Parteibetriebe, um so den Eindruck einen staatlichen Finanzierung zu vermeiden. Im Staatshaushalt liefen diese Mittel jedoch offenbar als „Staatszuführungen.“

+     Die DBD verfügte über keine eigenen Betriebe und Verlage.

(Die Tabelle wurde im Wesentlichen übernommen aus Kloth, Hans Michael. 2000. Vom „Zettelfalten“ zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die „Wahlfrage.“ Berlin: Ch. Links Verlag, S. 694.)

 

2.       Neugründung von Ländern

 

Die DDR war ein zentralistisch organisierter, in Bezirke und Kreise gegliederter Staat. Die bevorstehende Übernahme des Systems der Bundesrepublik machte eine föderale Struktur erforderlich; das bedeutete die Notwendigkeit der Schaffung von neuen Bundesländern und einer neuen Kommunalverfassung bzw. Gemeindeordnung (Dokument 54: Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR (Kommunalverfassung)).

Es kam zu einer Neugründung von fünf Ländern mit Rückgriff auf historische Grundlagen, aber in einer flexiblen Vorgehensweise, denn es gab zum Beispiel einen territorialen Austausch, der aus dem Ländereinführungsgesetz ersichtlich ist (Dokument 55: Ländereinführungsgesetz). Über die Zuordnung hatte es in einigen Fällen Bürgerbefragungen gegeben, die aber für die Kreistage bei deren Entscheidungen über die Zugehörigkeit nicht bindend waren.

Bei der Neugründung waren zum Beispiel folgende Aspekte zu beachten:

·         Orientierung an übergeordneten Rahmenbedingungen des Grundgesetzes

·         Orientierung an den Verfassungen der „alten“ Bundesländer

·         Bemühungen, als positiv empfundene Aspekte aus der DDR und der Übergangszeit in die neuen Verfassungen aufzunehmen, so z.B. Fristenlösung bei Schwangerschafts-abbruch, individuelle Rechte (Dokument 57: Die Verfassungsentwürfe in den neuen Bundesländern von Dr. Johannes Rux; Dokument 58: Direkte Demokratie in den ostdeutschen Kommunen von Hellmut Wollmann)

 

 

Die Diskussionen und Verfassungsentwürfe in den neu zu gründenden Ländern waren unterschiedlich, so auch die Frage, ob eine neue Länderverfassung durch Volksabstimmung angenommen werden solle. Sachsen nahm stärker Bezug auf Vorstellungen des Runden Tisches. Ein in etwa gemeinsamer Aspekt war der Versuch, bürgernahe Verfahren, d.h. Volksabstimmungen zu berücksichtigen (Dokument 57: Die Verfassungsentwürfe in den neuen Bundesländern von Dr. Johannes Rux; Dokument 58: Direkte Demokratie in den ostdeutschen Kommunen von Hellmut Wollmann). Hier hatte die Erfahrung der Übergangsphase und der Bürgerbewegungen positive Nachwirkungen, während in der Bundesrepublik wegen der schlechten Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus plebiszitäre Elemente bei der politischen Führung lange eher negativ besetzt waren. Das änderte sich später und deshalb diente in dieser Frage den neuen Ländern auch die neue Verfassung von Schleswig-Holstein zur Orientierung. Im Zusammenhang mit den Diskussionen über Plebiszite ist auch eine andere Initiative zu sehen: die Alternative von Koexistenz zweier deutscher Staaten versus Wiedervereinigung einem Volksentscheid zu unterziehen (Dokument 52: Aufruf und Vorschlag für eine Volksabstimmung).

 

2.1    Umbenennungen

In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass es nicht nur zu Neugründungen, sondern auch zu Umbenennungen kam. Karl Marx-Stadt wurde wieder Chemnitz und zahlreiche Straßennamen in den neuen Bundesländern wurden geändert, aber es gibt auch Ausnahmen und verschiedene Denkmäler, die aus der DDR-Zeit stammen, stehen unter Denkmalschutz.

 

2.2  Veränderungen auf kommunaler Ebene

Lothar de Maizière, der erste demokratisch und frei gewählte Ministerpräsident der DDR, hielt die Etablierung von Gremien, deren Führung ein Mandat durch Wahl hatte, auf möglichst vielen Ebenen für eine notwendige Voraussetzung, und dies nicht nur für eine grundlegende Reform der DDR, sondern auch um bei den Verhandlungen mit der Bundesrepublik über eine Wiedervereinigung möglichst umfassend demokratisch legitimiert zu sein. Deshalb wurden am 6. Mai 1990 Kommunalwahlen durchgeführt.


 

Tabelle 3

Stimmenanteile bei den Kommunalwahlen in der DDR am 6. Mai 1990

 

CDU

34,4 %

Bauernpartei

5,7 %

SPD

21,3 %

Deutsche Soziale Union

3,4 %

PDS

14,6 %

Bündnis 90

2,4 %

Liberale

6,7 %

Sonstige

11,5 %

 

Diese Kommunalwahl mit einer Wahlbeteiligung von 75 Prozent war überwiegend eine Personenwahl. Vielfach wurden Leute, die wegen ihrer Vertrauensstellung (Pfarrer), ihrer Dissidentenhaltung oder ihrer beruflichen Kompetenz bekannt waren, zur Kandidatur aufgefordert. Nach der Wahl folgte die Ämterzuteilung einem ähnlichen Muster: war jemand Ingenieur, wurde er Baustadtrat, hatte jemand eine naturwissenschaftliche Ausbildung, erhielt er die Zuständigkeit für Umweltfragen.

 

In dieser Anfangsphase geeignete Kandidaten zu finden war nicht leicht. Es gab nicht ausreichend kompetentes Personal für die neue Art der Verwaltung und Bürokratie auf allen Ebenen. Obrigkeitshörigkeit war noch jahrelang vorhanden, was die Bereitschaft zu Entscheidungen und zu individueller Verantwortung erschwerte. Auch auf der kommunalen Ebene waren Runde Tische wichtige Foren, sie halfen bei der Einübung demokratisch-partizipatorischer Verfahren, wenn im Nachhinein von früheren Teilnehmern auch vielfach beklagt wird, es hätte oft endlose Diskussionen ohne (viel) Substanz geben. Fast alles war für die neu Beteiligten ungewohnt. Aus dieser „basisdemokratischen Zeit“ stammen einige plebiszitäre Elemente, wie Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, die dann Eingang in die Kommunalverfassung gefunden haben.

 

Trotz großer regionaler Unterschiede war die Anfangsphase der Tätigkeit der neuen Gremien durch zwei Erfahrungen gekennzeichnet:

 

1.      Die jeweiligen Bestandsaufnahmen ergaben eindeutig und umfassend, wie marode die Infrastruktur in der DDR war. Das tatsächliche Ausmaß der Schwierigkeiten vor denen die neuen Amtsträger standen, wurde ihnen oft in dramatischer Weise deutlich.

2.      Ein generelles Problem war die Erstellung realistischer Eröffnungsbilanzen. Alle in den Kommunalbehörden hatten mit Fragen zu tun, für deren Beantwortung es fast keine Anhaltspunkte gab: Wie können Dinge bewertet werden, wie ist der aktuelle Zeitwert zu ermitteln?

 

2.3  Partnerschaften und Leihbeamte

Nach der Kommunalwahl waren Beratung und Hilfe durch westliche Partner sehr wichtig. Hier konnte an frühere Entwicklungen oder Kontakte angeknüpft werden. Ab 1986 gab es Partnerschaften zwischen Städten, was die DDR am Anfang sehr restriktiv handhabte. Gerade in der Übergangsphase erwiesen sich diese Partnerschaften und neue Beratungsprogramme als sehr hilfreich; sie könnten auch -in veränderter Form- in Korea später Sinn machen.

 

Obwohl die Notwendigkeit und der Nutzen solcher Beratungstätigkeit offenkundig waren, handelte es sich um eine sensible Angelegenheit, denn die DDR war (noch) ein souveräner Staat. Als wirkungsvolles Instrument für Organisation und Finanzierung solcher Aktivitäten erwiesen sich die Politischen Stiftungen der Bundesrepublik. Auch die Zentralen für Politische Bildung der Bundesländer wurden in diesem Sinne aktiv. Sie und die Stiftungen finanzierten damals Austausch- und Besuchsprogramme, siewaren in ihrer Programmgestaltung flexibel und konnten die neuen Maßnahmen im Rahmen von staatsbürgerlichen Bildungsmaßnahmen unterbringen.

 

Aus Mitteln des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen wurden zum Beispiel 300 ehemalige Bürgermeister aus der Bundesrepublik mobilisiert und in der Noch-DDR als Berater eingesetzt. Kommunalbeamte aus der DDR kamen für eine Woche oder 14 Tage zur Partnerstadt in den Westen. In Berlin gab es auch Bezirkspartnerschaften, so z.B. zwischen Köpenick (Ost) und Charlottenburg (West). Insgesamt waren 1, 7 Millionen Menschen auf allen Ebenen (Bund, Länder, Gemeinden) in diese Programme involviert. Es gab rund 35.000 „Leihbeamte“, Experten aus dem Westen, davon waren 10.000 in Gemeinden tätig.

 

2.4     Veränderungen und (neue) strukturelle Probleme

In der DDR gab es viel Personalüberhang in der Verwaltung, so auch in Gemeinden. Viele hatten einen Posten, weil sie in der SED waren, aber in der Praxis taten sie kaum etwas in dem ihnen eigentlich zugewiesenen Arbeitsbereich. Die meisten wurden noch 1990 entlassen, was damals einfacher war, denn es hatten sich die Arbeitsgerichte noch nicht so stark etabliert.

 

Durch die Neustrukturierung und neue Kommunalverfassungen gab es Kompetenzveränderungen. Das Pass- und Meldewesen lag in der DDR in den Händen der Volkspolizei; jetzt wurde es eine kommunale Aufgabe.

 

In der Zeitspanne von 1991 bis 2005 gab es einen Rückgang von rund 56 % bei Gemeindeverwaltungen, d.h. Entlassungen. Im Jahre 1991 existierten in Brandenburg 1.479 Gemeinden; die SED war bei der Verwaltungsgliederung auch dem Motto gefolgt: je kleiner die Einheit, desto leichter die Kontrolle durch die Zentrale und desto mehr Posten für Kader. Nach Gemeindereformen existieren nur noch 421, entstanden durch Zusammenlegungen früherer kleinerer Einheiten. Das schuf Probleme mit der Zugehörigkeit und Identität und erfordert längere Behördenwege (Anfahrtswege); Schwierigkeiten insbesondere für Ältere.

 

Immer stärker machen sich demographische Veränderungen negativ bemerkbar. Jeder Einwohner weniger bedeutet jährlich 400 € weniger staatliche Zuwendung für die Gemeinde; außerdem müssen noch der fehlende Konsum und die Mindereinnahmen bei Steuern berücksichtigt werden. Während sich die Einnahmen reduzieren bleiben aber die Kosten für kommunale Einrichtungen (Schule, Kindergarten) und Dienste (Versorgungsleitungen für Wasser, Abwasser, usw.) fast gleich. Das ist ein generelles Problem für die gesamte Bundesrepublik Deutschland, es trifft aber Gemeinden im Osten unverhältnismäßig härter.


 

3.       Welche Stadt wird Hauptstadt und welche Sitz von Parlament und Regierung?

 

Hauptstadtfrage

Bonn war von Beginn der Bundesrepublik an als provisorischer Regierungssitz vorgesehenen; immer gab es die Betonung, dass im Falle einer Wiedervereinigung Berlin Hauptstadt werde. Die kleine Universitätsstadt Bonn beklagte sich über die Belastung (finanziell, personell), Hauptstadtfunktion haben zu müssen und Parlamentssitz zu sein. Als dann aber die Frage nach dem 3. Oktober 1990 akut wurde, wehrte sich das offizielle Bonn vehement gegen den Verlust des Regierungssitzes. Berlin sollte Hauptstadt sein, was aber nur symbolische Bedeutung gehabt hätte, denn Regierung und Parlament wären in Bonn verblieben. (Dokument 60: Hauptstadtvertrag). Der Widerstand wurde mit einer Fülle von Argumenten begründet, aber wesentlich waren Erwägungen von Macht und Geld (Dokument 61: Berlin/Bonn-Gesetz; Dokument 59: Berlin-Bonn-Debatte -. Hauptstadtbeschluss). Bonn liegt im Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) und dessen Vertretung im Bundestag ist wegen seiner Größe sehr einflussreich. Parteiübergreifend wurde hier, meist zusammen mit Bayern, gegen Berlin argumentiert. Die Diskussion entstand überhaupt erst, als der Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, bei seinem ersten offiziellen Treffen mit dem Bundesminister des Innern, Wolfgang Schäuble, den Vorschlag machte, Textteile der beiden Nationalhymnen zu kombinieren und, was ihm besonders wichtig war, dass Berlin Hauptstadt und Regierungssitz des vereinten Deutschlands werden solle. Die westliche Seite hatte dieses Thema entweder verdrängt oder als nicht so wichtig angesehen.

 

Noch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung arbeiten mehr Bundesbedienstete für die Bundesregierung in Bonn als in Berlin. Die Bundesministerien haben Doppelsitze: Entweder hat ein Ministerium seinen Hauptsitz in Berlin und seinen Nebensitz in Bonn oder umgekehrt. Das ist mit Kommunikationsproblemen, kräftevergeudender Zweigleisigkeit und erheblichen Kosten verbunden.

 

Berlin hat durch die Ansiedlung von Parlament und Regierung enorm profitiert und sich zu einer internationalen Metropole entwickelt. Bonn wurde nicht nur finanziell entschädigt, sondern die Abwanderung von Parlament und einem Teil der Ministerien wurde durch die Ansiedelung von großen Firmen und internationalen Institutionen mehr als kompensiert. Psychologisch war es besonders für die Bevölkerung der DDR – und die Berlins – von großer Bedeutung, dass Berlin diesen Status und diese Funktion erhielt.

 

 

4.       Was könnte für Korea relevant sein?

 

Wie in allen anderen Bänden auch hier wieder zur Einleitung die Betonung von Selbstverständlichkeiten:

·         Deutschland ist kein komplett übertragbares Modell für andere Fälle von friedlicher Wiedervereinigung,

·         Nordkorea ist nicht so, wie es die DDR war,

·         es gibt mehr Hoffnungen und Befürchtungen bezüglich Koreas Zukunft, als dass verlässliche Prognosen existieren,

·         dennoch könnten einige während des Einigungsprozesses in Deutschland gemachte Erfahrungen für Korea diskussionswürdig oder sogar relevant sein.

 

Hauptstadtfrage

Dieser psychologische Aspekt sollte in Korea beachtet werden. Es scheint fast ausgeschlossen, dass in einem vereinten Korea Pyongyang Hauptstadt wird, aber es wäre zumindest zu diskutieren, ob der Regierungssitz oder einige Ministerien nicht nach Gaesong verlagert werden könnten (z.B. ein Ministerium für Infrastruktur und Aufbau). Seoul wird die dominierende Metropole bleiben und es gibt in anderen Ländern Beispiele für eine solche Aufteilung von Funktionen (in Australien Canberra und Sydney, in den Niederlanden Den Haag und Amsterdam, in den USA Washington D.C. und New York; andere Beispiele ließen sich anfügen).

 

Eine Aufwertung von Gaesong wäre nicht nur politisch und ökonomisch sinnvoll. Sie wäre auch psychologisch wichtig, um die Auswirkungen einer drastischen Veränderung für den Norden auf der symbolischen Ebene etwas abzumildern. Nach einer Wiedervereinigung wird sich innerhalb weniger Jahrzehnte ohnehin ein Wachstumsviereck Seoul-Incheon-Gaesong-Haeju entwickeln und mit Seoul-Gaesong ein Ballungszentrum entstehen. Diese beiden Städte sollten dann möglichst schnell durch eine Hochgeschwindigkeitsbahn miteinander verbunden werden, auch mit Anschluss an den Flughafen.

 

Partnerschaften

Im Bereich der Verwaltung und besonders auf der Ebene von Gemeinden waren Partnerschaften und Ausbildungsprogramme in Deutschland von großer Bedeutung und sehr hilfreich. Ähnliche Arrangements könnten auch in Korea sinnvoll sein. Neben der Frage von Kompetenz und Einfühlungsvermögen sollte dann ebenfalls darauf geachtet werden, Personen einzubinden (Altersfrage!), die aus der jeweiligen Gegend stammen oder deren Vorfahren dort ihre Heimat hatten, also Menschen, die noch über eine zumindest emotionale Bindung verfügen.

 

Initiativen, Bürgerbewegung

In den Jahren 1989 und 1990 entstand in der DDR eine Fülle an Bürgerbewegungen mit zahlreichen Initiativen. In Deutschland gab es wegen der Geschwindigkeit der Ereignisse für gründliche Diskussionen und eine Berücksichtigung von Initiativen, d.h. ihrer praktischen Umsetzung, keine Zeit und auch zu wenig Bereitschaft. Bei einer ähnlichen Entwicklung in Korea sollten neue Gruppierungen ernst genommen und Initiativen sorgfältig diskutiert sowie auf Sinngehalt und Realisierungsmöglichkeiten unvoreingenommen geprüft werden. Bürgerbeteiligung ist ein hohes Gut, gerade für die, denen sie jahrzehntelang verwehrt wurde. Im Norden darf kein Gefühl der Bevormundung entstehen.

 

Unterschiedliche Rolle der Partei

In Nord-Korea spielt die Partei -etwa im Vergleich zur SED in der DDR oder zur KP in China- wohl keine so entscheidende Rolle. Das schwer zu kategorisierende System ist geprägt durch Herrschaftsarrangements zwischen Fraktionen eines Führungsclans und der Armee; die ganze Gesellschaft scheint militärisch organisiert zu sein. Die Frage nach der Relevanz von Erfahrungen der SED ist in diesem Zusammenhang kaum zufriedenstellend zu beantworten. Vielleicht zeigt aber das Beispiel von SED/DDR, dass für Teile der Funktionselite nach einem Anpassungs- und Reformprozess ein politisches Überleben und akzeptable berufliche Alternativen durchaus möglich sind.


[1]„Hinweise über ausgewählte bedeutsame Probleme im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Kommunal-wahl vom 7. Mai 1989.“ BStU, ZA, ZAIG 5352. Abgedruckt in Mitter, Armin/Wolle, Stefan, Hrsg.: „Ich liebe euch doch alle …“ Befehle und Lageberichte des MfS, Januar bis November 1989. Berlin 1990, S. 97f.

[2] Siehe Dokument 51 Schlussbericht der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR. Kapitel C.II .Sonderkomplex „ Novum“ , S. 50-71

Koreastudien