Band 03: Militär (2010)
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig
Die Zusammenführung zweier Streitkräfte.
Die Übernahme der Nationalen Volksarmee der DDR durch die Bundeswehr und die Zusammenführung der Polizei in Berlin.
Werner Pfennig
„Und wenn dann Schäuble sehr freundlich auf unsere Wünsche und Anregungen einging, kam von seiner Seite irgendein Staatssekretär oder irgendein Sachbear-beiter und hat angemerkt, dass dieses und jenes aus Haushaltsvorbehalten nicht mö-glich war. Und damit war es dann vom Tisch. So blieb schließlich bei einigen das Gefühl, dass wir mit Fachleuten aus dem Westen überschwemmt wurden und einem Diktat der Bürokratie ausgesetzt waren. Mit die schwierigsten Punkte waren bei den Verhandlungen der militärische Bereich, der uns betraf, und das Thema Innenministerium und Polizei.“[1]
Werner E. Ablaß
Staatssekretär im Ministerium für Abrüstung und Verteidigung der DDR
Rahmenbedingungen
Es existierten zwei deutsche Staaten und auch zwei deutsche Streitkräfte, aber die beiden deutschen Staaten waren:
· nicht völlig souverän bzw. unabhängig, denn es gab die nach dem Krieg wirksamen alliierten Vorbehaltsrechte;
· eingebunden in internationale Zusammenschlüsse politischer, wirtschaftlicher und militärischer Art;
· verpflichtet, die Stationierung fremder Truppen in den jeweiligen Besatzungszonen zu akzeptieren. In der Bundesrepublik gab es mit Entstehen der Bundeswehr eine Veränderung, denn das Besatzungsstatut wurde durch ein Truppenstatut ersetzt, das eine Einbindung in die NATO vorsah und Partnerschaft betonte.
Deshalb war die Aufgabe der Zusammenführung besonders kompliziert und es stand nur wenig Zeit zur Verfügung.
Diese Konstellation der eingeschränkten Souveränität und Einbindung in unterschiedliche Bündnissysteme bewirkte, dass Gespräche über und konkrete Planungen für die Zusammenführung zweier deutscher Armeen abhängig waren von der Zustimmung der Sowjetunion und den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Deshalb standen für diese Aufgabe nur knapp fünf Monate zur Verfügung; Mai bis Ende September 1990, für die praktische Arbeit der Vorbereitung waren es nur fünf Wochen (vom 20. August bis zum 2. Oktober 1990).
Von zentraler Bedeutung war das Verhältnis zur Sowjetunion und zu deren Streitkräften. Die NVA galt in Moskau als verlässlicher Partner und als eine der besten Armeen im Warschauer Pakt. Die Sowjetunion und besonders ihre Streitkräfte glaubten, die deutsche Einheit würde sie, die Sieger des Zweiten Weltkrieges und Befreier vom Faschismus, zu Verlierern machen. Die NATO war und blieb der Gegner. Außerdem musste Rücksicht auf die politisch-historischen Empfindlichkeiten von Nachbarstaaten wie Polen und der Tschechoslowakei genommen werden. Ein Herauslösen der NVA aus dem Militärbündnis und ihre Aufnahme in die Bundeswehr tangierten zahlreiche Problemfelder, so z. B.:
· Militärisch-logistische Fragen
· Aspekte der Geheinhaltung, (Weitergabe von Rüstungsgütern, Reexport von Waffensystemen)
· Rechtliche Fragen (Besitzverhältnisse, Immobilien, Wertfestsetzung)
· Finanzierung (Kostenverteilung, Schadenseinschätzung)
· Historische Vorbehalte
· Psychologische Rücksichtnahme
Nach der Wahl zur Volkskammer (März 1990) stand für die NVA-Führung fest, dass die „friedliche Revolution“, d.h. die Veränderung der DDR irreversibel sei, was auch gravierende Auswirkungen auf die Streitkräfte haben würde. Wichtig war der NVA, Loyalität zu beweisen, was bedeutete, auch die Anweisungen der neuen Führung auszuführen. Ein halbes Jahr vorher existierte noch eine völlig andere Situation, denn zum 40. Jahrestag der DDR war der interne Einsatz von Soldaten gegen Demonstranten präzis geplant und vorbereitet worden (Befehle 8,9 und 105/89).
Vorstellungen und Erwartungen auf beiden deutschen Seiten waren unterschiedlich, fast konträr:
· Die NVA wollte für einige Jahre weiter bestehen, sich reformieren und zu einer tatsächlichen Armee des Volkes werden. Die NVA hatte nicht in der DDR und schon gar nicht in der Bundesrepublik eine Interessenvertretung oder Lobby.
· Die Bundeswehr hielt die NVA noch immer für die Streitmacht einer Diktatur und erachtete Reformen als unnötig, da die NVA bzw. ein Teil von ihr ohnehin in die Bundeswehr aufgehen würde.
Reformbemühungen und -erfolge der NVA wurden von der Bundeswehr (Bw) kaum gewürdigt und von der Bundesrepublik weitgehend ignoriert.
1. Welcher Art war die Nationale Volksarmee (NVA)?
Die NVA hatte eine der Sowjetarmee ähnliche Struktur, d.h. sie war „kopflastig“ und verfügte kaum über ein Unteroffizierscorps. Das Verhältnis von Soldaten zu Offizieren war
· in der NVA 3:1,
· in der Bw 12:1.
Der Spezialisierungsgrad in der NVA war viel höher. Diese Einengung bei Fachaufgaben bewirkte eine geringe Verwendungsbreite für Offiziere, was einen Übertritt in zivile Berufe erschwerte. Im Gegensatz zur Bw hatte die NVA keine zivile Militärverwaltung.
Die NVA war kostenintensiv, denn 85% der Stärke war in Bereitschaft zu halten. Neben dem finanziellen Aspekt bedeutete dies auch einen tiefen Eingriff in das Privatleben der Soldaten. Wegen der schlechten ökonomischen Lage der DDR wurden Angehörige der NVA schon seit Jahren in der Volkswirtschaft eingesetzt, hauptsächlich bei der Produktion von Lebensmitteln, bei Infrastrukturprojekten und im Verkehrswesen. Seit 1989 waren ständig über 10.000, in Spitzenzeiten über 50.000 Soldaten in der Produktion tätig, was eine zusätzliche Belastung bedeutete, die Unzufriedenheit steigerte und zu innerer Erosion beitrug. Der Produktionseinsatz erfolgte auch in Risikobereichen, wo andere nicht bereit waren, zu arbeiten.
Finanzen
Im Sommer/Herbst 1990 war die NVA in großen Zahlungsschwierigkeiten. Wegen der Stimmung in der Truppe wurde dennoch der Wehrsold angehoben, der 150 DM betrug; ab 3. Oktober gab es dann den Wehrsold der Bw und es galt deren Urlaubsregelung.
Zahlen
Die NVA hatte eine Friedensstärke von 170.000 Mann, Waffen gab es für die Kriegsstärke von 330.000.
Im April 1990 hatte die NVA:
170.000 Personen, davon waren
73.000 Berufssoldaten
52.000 Zivilbeschäftigte
4.100 Offiziersschüler
1.500 Offiziers-Hörer in Akademien
600 Angehörige der NVA absolvierten 1990 Dienst in der Sowjetunion, die Hälfte war dort mit ihren Frauen (die Familien hatten insgesamt 432 dort lebende Kinder).
Zu den „Bewaffneten Kräften“ der DDR gehörten außerdem noch andere Verbände und Institutionen mit wehrsportlichem Charakter:
500.000 Angehörige der Betriebskampfgruppen (andere Quellen nennen eine Zahl von 400.000),
40.000 Grenztruppen,
500.000 Zivilverteidigung,
120.000 Bereitschaftspolizei,
das MfS Wachregiment Feliks Dzieržyňski, das 7.000 Soldaten umfasste, die in unterschiedichen Uniformen zum Einsatz kamen, so zum Beispiel auch bei Aufmärschen der Jugendorganisation FDJ in deren Kluft,
600.000 Mitglieder des Wehrsportverbandes „Gesellschaft für Sport und Technik“ (GST); seit 1978 gab es an Schulen der DDR ab der 8./9. Klasse Wehrkundeunterricht.
Politische Einstellung
Trotz Politunterricht und der Konfrontation im Kalten Krieg gab es 1989/90 große Unzufriedenheit in der Truppe, denn die NVA war keine indoktrinierte Kaderarmee. Wenn Grenztruppen gezielter geschossen hätten, wären mehr Flüchtlinge getötet worden. Dennoch ist es nicht falsch, von einer „Parteiarmee“ zu sprechen, denn der Prozentsatz der Mitgliedschaft in der SED war hoch.
Personengruppe |
Prozentualer Anteil der SED-Mitglieder |
Generäle und Admiräle |
100 |
Offiziere |
96 |
Berufsunteroffiziere |
60 |
Grundwehrdienstpflichtige |
7 |
Zeitsoldaten |
14 |
Der Politunterricht wurde mit dem Befehl 26/90 des Ministers vom 8. August 1990 aufgelöst. (Dokument 1) und die Anrede „Genosse“ bzw. „Genossin“ abgeschafft. Am 20. Januar 1990 gründete sich ein Verband der Berufssoldaten der NVA.
Fahnenflucht und frühzeitige Bewerbungen
In der Umbruchphase gab es vermehrt Fahnenfluchten, Befehlsverweigerungen und Demonstrationen von Soldaten, ausgelöst durch Unsicherheit und Unzufriedenheit. Die Armee hatte keine Akzeptanz in der Bevölkerung, ihr Ansehen war auf einen Tiefpunkt gesunken. Als eine Auswirkung der Verunsicherung ist wohl auch die Information zu interpretieren, die Bundeskanzler Kohl am 15. Februar 1990 dem israelischen Außenminister übermittelte, nämlich, dass NVA-Offiziere bei der Bundeswehr Bewerbungen vorlegen würden. Er teilte ihm auch mit, die DDR-Polizisten „scheuen sich, weiter ihre Uniform zu tragen“. Auch Polizisten aus dem „Osten“ bewarben sich im „Westen“. Bis zum Jahreswechsel 1990/1991 gingen über 1.000 Bewerbungen allein beim Bundeskriminalamt ein. Eine Überprüfung ergab, dass nur knapp 200 über Polizeikenntnisse nach westlichen Maßstäben verfügten; nur ganz wenige waren für den gehobenen Dienst geeignet.
Nach Auffassung der neuen Regierung der DDR bestand nach der Wahl vom 18. März kein Grund mehr zur Fahnenflucht aus der NVA; das Ministerium für Abrüstung und Verteidigung (MfAV) informierte sich beim BMVg über diesbezügliche Regelungen in der Bundesrepublik. Im Zeitraum vom November 1989 bis Ende Mai 1990 hatten über 1.400 Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere Fahnenflucht begangen, d.h. sich als politische Flüchtlinge in der BRD gemeldet. Für ihre Rückführung sah die BRD kaum rechtliche Möglichkeiten.
Grenztruppen und Grenzschutz
Sie sollten ab dem 1. Juli 1990 (Wirtschafts- und Währungsunion) dem Innenministerium der DDR unterstellt, aber bis zum Jahresende 1990 noch vom MfAV bezahlt werden. In diesem Fall hätte das MfAV dann viele entlassen müssen. 40.000 sollten übernommen werden, das Innenministerium übernahm aber nur 4.000. Der Grenzschutz wurde primär zur Polizeiaufgabe, d.h. nach Bildung der Länder wurde diese Aufgabe nicht mehr zentral, wie früher in der DDR, sondern dezentral-föderal ausgeführt.
Umbruchstimmung und Reformbemühungen
Die politische Führung und auch die Führung der NVA in der „alten DDR“ war von den Ereignissen 1989/90 überrascht worden. Sie war unvorbereitet, teilweise gelähmt und ihre Reaktionen erwiesen sich als unkoordiniert, oft als hilflos. Die Unzufriedenheit und Umbruchstimmung in der NVA äußerte sich zum Beispiel darin, dass es an mehr als 40 Standorten Streiks und Protestaktionen gab. Die Führung sah sich veranlasst, eine Reihe von Forderungen zu erfüllen:
· Reduzierung des Grundwehrdienstes von 18 auf 12 Monate,
· heimatnahe Einberufung,
· Herauslösen der Soldaten aus Einsätzen für Landwirtschaft und ziviler Produktion,
· Begrenzung der wöchentlichen Dienstzeit auf 45 Stunden (Fünf-Tage-Woche),
· flexiblere Regelungen für Urlaub und Ausgang.
Diese Maßnahmen waren Reaktionen auf Forderungen; in der NVA hatte es auch eine weitergehende Reformphase gegeben. Am 18. Dezember 1989 konstituierte sich der „Runde Tisch Militärreform, der bis zum 20. März 1990 tätig war. Am 21. Dezember 1989 beschloss die Regierung von Ministerpräsident Modrow eine Reformkommission Militärreform. Angestrebt wurden:
· ein neues Verteidigungsgesetz,
· ein neues Wehrdienstgesetz,
· eine neue Dienstlaufbahnordnung.
· Am 26. April 1990 beschloss die Volkskammer einen neuen Fahneneid für die NVA (Dokument 2).
Ab dem 12. April 1990 amtierte Rainer Eppelmann als Minister für Abrüstung und Verteidigung. Er war evangelischer Pfarrer und hatte seinen Wehrdienst als Bausoldat in der NVA abgeleistet, weil er den Dienst an der Waffe verweigerte. Als Minister förderte er die Reformbestrebungen, die von der NVA als große Chance gesehen wurden. Bundesrepublik und Bw hingegen waren an einer Reform der NVA wenig interessiert; sie wollten vor allem keine Störung des „Zwei-plus-Vier“-Prozesses.
Reformbemühungen und Zukunftspläne
Die Wahl zur Volkskammer im März 1990 machte den Wunsch auf schnelle deutschen Einheit offenkundig, Entscheidungsträger der DDR gingen dennoch von einem Zeitraum von wenigstens zwei, wenn nicht mehr Jahren aus.
Nach der Amtsübernahme hatte Minister Eppelmann die Idee von zwei Armeen in Deutschland: Auf einer Kommandeurstagung am 2. Mai 1990 in Strausberg sagte er u.a.: „Dennoch wird die DDR solange sie als selbständiger Staat fortbesteht, im Interesse ihrer äußeren Sicherheit ihre Volksarmee in angemessenem Umfang und streng defensiv strukturiert aufrechterhalten müssen. Es wird auch nach der Vereinigung auf DDR-Territorium eine zweite deutsche Armee geben, die in kein Militärbündnis integriert, hier eigene, territoriale Sicherheitsfunktionen ausüben wird und dementsprechend strukturiert, ausgerüstet und ausgebildet werden muß. Es wird aber keine Nato-Truppen auf dem Gebiet der heutigen DDR geben.“ (Ablaß S. 36 f.) In einem Positionspapier aus etwa derselben Zeit hieß es u.a.: „Was die NVA betrifft, so wird sie so lange weiterbestehen, wie in Europa zwei Militärbündnisse, die Nato und der Warschauer Pakt, existieren.“ (Ablaß S. 80)
Denen, die solche Vorstellungen hatten, schienen sie nicht völlig unrealistisch, denn zum damaligen Zeitpunkt war die Sowjetunion strikt gegen eine NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands. Vor allem in der DDR gab es diese Einschätzung bezüglich der Sowjetunion, aber auch in der Bundesrepublik existierten unterschiedliche Meinungen. Außenminister Genscher hatte im Februar 1990 Verteidigungsminister Stoltenberg öffentlich widersprochen, als der im Fall einer Wiedervereinigung von einer Zugehörigkeit ganz Deutschlands in der NATO und einer Stationierung von Truppen der Bundeswehr auch auf dem östlichen Gebiet sprach. Genscher erklärte später, er sei überzeugt gewesen, dass die Sowjetunion einer Vereinigung der deutschen Staaten nur zustimmen würde, wenn das NATO-Gebiet nicht nach Osten erweitert werde, weshalb er noch längere Zeit an eine entmilitarisierte Zone gedacht hätte.
Viele im MfAV glaubten, die Wiedervereinigung würde frühestens 1992 vollzogen werden und sie hielten deshalb ein Territorialheer Ost unter einem Beauftragten der ostdeutschen Länder für eine mögliche Variante, zumindest so lange, wie Warschauer Pakt und NATO noch existierten. Das Zwei-Armeen-Konzept von Minister Eppelmann wurde von der NVA begrüßt, weniger aus militärischen Erwägungen, sondern wegen der damit erhofften sozialen Sicherheit.
· Minister Eppelmann favorisierte ein „französisches Modell“ (d.h. wie damals Frankreich in der NATO), was bedeutet hätte, die reformierte Armee im Beitrittsgebiet verbleibt für eine Übergangszeit im Warschauer Pakt, aber nicht eingebunden in dessen integrierte Militärstruktur.
· Die NVA sollte auf eine Gesamtstärke von 100.000 reduziert werden, ein Prozess, von dem erhofft wurde, ihn bis 1992/1993 erreichen zu können. Nach Auffassung des Ministers wären anderthalb bis zwei Jahre erforderlich für die geordnete Auflösung eines Regiments oder einer anderen Einrichtung.
· Andere Überlegungen bezogen sich auf den Wohnraum. Zum Wohnungsfonds gehörten 90.000 Einheiten, davon waren 70 % Dienstwohnungen mit dem Ministerium als Rechtsträger; 30 % waren dienstgebundene Wohnungen mit einem Vergaberecht durch die NVA. Der Wohnungsfonds sollte staatlich bleiben. Es gab die Hoffnung, Liegenschaften der NVA könnten als Gewerbeflächen genutzt werden, wobei große Marktchancen vermutet wurden. Die Wohnungsverwaltung des Ministeriums sollte sich durch Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft mit gemeinnützigem Charakter den marktwirtschaftlichen Bedingungen anpassen.
· Wegen der anstehenden Personalentscheidungen wurde im Ministerium ein Personalrat geschaffen, der Vorschläge machen und beraten sollte (Befehl 02/90).
· Zum Neubeginn gehörte, dass an Stelle des früheren Politikunterrichts nun staatsbürgerliche Bildung betrieben wurde. Anknüpfungspunkt war die Erinnerung an den 20. Juli 1944, d.h. an den antifaschistischen Widerstand. Die NVA-Angehörigen wurden auch auf einen neuen Fahneneid eingeschworen (Dokument 2). Gerade im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus ist im deutschen Militär der Eid von besonderer Problematik bzw. Bedeutung. Bis zu ihrem Lebensende standen Angehörige der Wehrmacht, die gegen Hitler opponierten, unter der Gewissensqual, auf ihn, den sie für einen Verbrecher hielten, einen persönlichen Eid geleistet zu haben.
· Personelle Veränderungen waren vorauszusehen und im Frühjahr/Sommer 1990 gab es die Hoffnung, Angehörige der NVA könnten bei Banken und Versicherungen arbeiten, denn planen und organisieren hatten sie gelernt. Es gab auch die Vorstellung, die Militärakademie in Dresden durch Umbau zu einem Kongresszentrum zu gestalten. Außerdem existierte noch viel größere Pläne. Als im Juni 1990 eine Delegation der Führungsakademie der Bw (Hamburg) zu einem ersten Kontakt die Akademie in Dresden besuchte, wurde eine umfangreiche Broschüre übergeben. Sie erläuterte die Vorstellung, die Militärakademie in ein „Zentrum für Konversion“ umzuwandeln, als Koordinationsstelle für ein Netz von Konversionseinrichtungen im DDR-Gebiet; zahlreiche Bildungs- und Umschulungsmaßnahmen für Berufswechsler waren in diesem Zusammenhang geplant. Es kam zu keiner Umsetzung dieser Ideen.
· Veränderungen bei Planung und Verhalten waren notwendig, denn ab dem Sommer 1990 galten Marktregeln statt staatlicher Planung mit Lieferplänen, was z.B. Auswirkungen auf die Beschaffung von Verpflegung hatte. Die Wirtschaftsministerien der Patenländer der neuen Bundesländer hatten Personal abgestellt, was auch der Westgruppe der sowjetischen/russischen Streitkräfte bei Einkäufen half, d. h. deren Beschaffer wurden beraten.
Abrüstung/Konversion
Der materielle Bedarf der NVA war 1989 um 15 % reduziert worden, für das Jahr 1990 waren weitere 42 % vorgesehen, d.h. es ging darum, die Produktion von Rüstungsgütern in weniger als einem Jahr um mehr als die Hälfte zu drosseln. Für Konversion, die Herstellung alternativer Produkte, gab es weder Marktanalysen noch technische, organisatorische und technologische Vorbereitungen. Die Lageanalyse fiel deshalb entsprechend negativ aus: Ohne staatliche Hilfe würde eine Vielzahl der Rüstungsbetriebe Ende 1990/1991 in Konkurs gehen müssen. Es existierten damals:
· 100 Betriebe/Betriebsteile
· mit einem Produktionsvolumen von rund 3 Milliarden Mark
· und einer Gesamtbelegschaft von 100.000 Menschen,
· der Exportanteil lag durchschnittlich bei 15 %, bei Spitzenbetrieben bis zu 50 %.
Ab dem Sommer 1990 gab es kaum noch Binnennachfrage und auch der Export besaß kaum noch Chancen, denn seit der Währungsunion hatten sich der Preise mehr als verdoppelt. Es war deshalb vorgesehen, dass zum 31. Juli 1990 bis zu hundert „Regimebetriebe“ aus dem Verbund der NVA ausscheiden würden; was bedeutete, an die 100.000 Menschen wurden entlassen.
Es ging nicht nur um Material, sondern auch um Menschen. Es gab Konversionsbeauftragte in allen Teilstreitkräften der NVA, die zur Planung und zum Erfahrungsaustausch monatlich in Strausberg zusammentrafen. Etwa 3.000 bis 5.000 konnten in zivile Berufe vermittelt werden. Ab August 1990 wurden diese Aufgaben langsam und schrittweise an den Berufsförderungsdienst der Bundeswehr übergeben.
2. Wie vollzog sich die Aufnahme von Teilen der NVA in die Bundeswehr?
2.1 Kennenlernen und Übernahme
Die Zusammenführung der beiden Streitkräfte war quasi eine Ausdehnung der Bundeswehr, eine Übernahme der Armee der DDR. Die NVA verhielt sich absolut loyal, was mit der Auffassung von Disziplin sowie militärischer Professionalität erklärt werden kann und auch das Bemühen war, die letzte Aufgabe, nämlich die Eingliederung in die Bundeswehr, mustergültig zu erledigen. Im Gegensatz zur Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte kamen keine Waffen abhanden, landeten Ausrüstungsgegenstände nicht auf dem Schwarzmarkt.
Die Phase vor der Übernahme war gekennzeichnet durch:
· unterschiedliche Erwartungen bei NVA und Bundeswehr,
· unterschiedliche Handlungsspielräume; die NVA war der eindeutig schwächere Partner,
· einen Mangel an Information,
· sehr kurze Vorbereitungszeit,
· eine wachsende Verunsicherung und Frustration bei der NVA.
DDR und Sowjetunion
Die Umbruchphase in der DDR vollzog sich in einer Zeitspanne, in der Außeneinflüsse eine wesentliche Rolle spielten, wobei die Beziehungen zur Sowjetunion der sensibelste Bereich waren.
Das Verhältnis zur Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte (WSG)
Die Stimmung in der DDR gegenüber den sowjetischen Truppen verschlechterte sich ab Mai 1990 deutlich. Bürgeraktivitäten berichteten vermehrt über Schäden und Umweltbeeinträchtigungen, es kam zu Demonstrationen und Besetzungen von Rollbahnen auf sowjetischen Flugplätzen. Einerseits unterstützte die neue Regierung der DDR Bürgerbewegungen, denn sie war aus ihnen hervorgegangen, andererseits belasteten diese Probleme die „Zwei-plus-Vier-Verhandlungen.“
Im Zusammenhang mit der Währungsunion (1. Juli 1990) wurden persönliche Geldmittel der Bürger der Sowjetunion (SU) bei Umtauschrechten denen der DDR-Bevölkerung gleichgestellt. Für Guthaben von Diplomaten und deren Angehörigen gab es eine Umstellung im Verhältnis 2:1. Nach Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion waren von der WSG neue Bestimmungen zu beachten:
· Fragen der Zollfreiheit,
· rechtliche Aspekte generell,
· deutsches Bau- und Umweltrecht.
Streitfälle sollten von einer paritätisch besetzten Regierungskommission beigelegt werden. Wurde hier keine Einigung erzielt, war die Bildung eines Schiedsgerichtes vorgesehen, „für das beide Seiten jeweils einen Schiedsmann zu benennen hatten, die wiederum einen dritten Schiedsmann benennen sollten, der den Vorsitz zu führen hatte.“ (Ablaß S. 113)
Nach dem Treffen zwischen Gorbatschow und Kohl im Kaukasus (15./16. Juli 1990) und der Unterzeichnung der „Zwei-plus-Vier-Vereinbarung“ wurde die Regelung der Rückführung der WSG eine wichtige Aufgabe.
Das MfAV gründete eine Arbeitsgruppe unter Leitung eines Obersts und eines Diplom-Ingenieurs; sie war zuständig für die Koordinierung der Aufgabenerfüllung bei der Vorbereitung des sowjetischen Truppenabzugs. Die Erfahrungen der Tschechischen und Slowakischen Föderalen Republik (ČSFR) mit dem sowjetischen Truppenabzug wurden berücksichtigt; dort hatte sich in einer gemischten Kommission die Kenntnis von Sprache und Mentalität der anderen Seite als sehr wichtig erwiesen. Das MfAV propagierte damals die Idee, dass nach der Einheit auf Vorschlag des Bundestages ein Regierungsbevollmächtigter ernannt werden sollte, der mit der entsprechenden Autorität gegenüber den anderen Bundesministerien und auch gegenüber der SU durchsetzungsfähig sei. Es gab Arbeitstreffen zwischen MfAV und BMVg in Bonn über die WSG, später wurde ein Verbindungskommando der Bw zur WSG geschaffen.
Für die Arbeitsgruppe des MfAV erwiesen sich die in der ČSFR gemachten Erfahrungen als sehr berücksichtigenswert, denn in der DDR gab es vergleichbare Probleme zu lösen, so z.B.:
· Unklarheit der Rechtsträgerschaft beim Zeitpunkt der Objektübernahme
· Tendenz bei Fachministerien, Aufgaben und damit auch Probleme auf das Verteidigungsministerium abzuwälzen
· Mangelhafte Vertrauensbildung und Konfliktbeherrschung (Sprache, Mentalität, Rangordnungen)
· Finanzielle Aspekte; die sowjetischen Truppen versuchten, mit allen erdenklichen Methoden Einkünfte zu erwirtschaften (Verkauf von Waffen auf dem Schwarzmarkt)
· Unvollständige Bestandsliste der Bauten, Entdeckung vieler nicht aufgeführter Bauten
· Gravierende Umweltschäden; es gab eine gemischte ČSFR-SU-Kommission für gemeinsame hydrogeologische Inspektionen, die sich aus Militärs, Fachkräften aus der Praxis und Wissenschaftlern beider Seiten zusammensetzte. Die Kosten für die Inspektionen zahlte die ČSFR, die Schadensbeseitigung die SU.
· Die Bergung verbliebener Munition und von Blindgängern wurde von der Armee der ČSFR gewährleistet.
Von zentraler Bedeutung für den Prozess der Vereinigung ist der Austritt der DDR aus dem Warschauer Pakt. Er war nicht nur politisch und militärisch eine sehr sensible Angelegenheit, sondern auch wegen der Frage der Geheimhaltung (Codes, Dechiffrierung, Geheimmaterial, strategische Planung). Allgemein bestand die Gefahr, dass kundige Personen und Geheimnisträger die NVA verlassen könnten, um ihr Wissen – auch über Streitkräfte des Warschauer Paktes – Sicherheitsfirmen im Ausland anzudienen. In einem Protokoll mit Datum des 24. September 1990 wurde die Herauslösung der NVA aus dem Warschauer Pakt dokumentiert (Dokument 3). In ihm erklärte die DDR:
· sich aus allen Gremien des Paktes zurückzuziehen,
· alle Zahlungen einzustellen,
· gegenseitig bestünden keine Anforderungen und keine Verpflichtungen mehr (auch nicht finanzieller Art),
· beim Übergabemodus von Chiffriertechnik sowjetischer Produktion und der Übergabe von Spezialausrüstung entsprechend dem mit der SU geschlossenen Abkommen bzw. Protokoll zu handeln,
· alle Dokumente, die die DDR von Führungsorganen des Paktes erhalten hatte, zurückzugeben bzw. nach Abstimmung mit ihnen in eigener Zuständigkeit zu vernichten,
· den Inhalt dieser Dokumente nicht Drittstaaten zugänglich zu machen.
In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Admiral Theodor Hoffmann, der damalige Chef der NVA, in einem Buch schrieb, er habe dem Bundeswehrgeneral Richter (Leiter der militärischen Verbindungsgruppe bei der NVA) den Plan zur Herauslösung aus dem Warschauer Pakt und die Liste der geheim zuhaltenden Technik gegeben.
Zusammenführung von NVA und Bw
Bedingt durch:
· den Viermächtestatus (alliierte Vorbehaltsrechte),
· Befürchtungen der Nachbarländer,
· Mangel an Wissen,
· und dem Weiterbestehen von Misstrauen
war es ein schrittweises Vorgehen.
Nach der Aufhebung des Kontaktverbots kam es ab Januar 1990 zu wechselseitigen Besuchen, bis dahin waren individuelle Reisen von Soldaten in den anderen Teil Deutschlands verboten. Es gab nun individuelle Kontaktaufnahmen einzelner NVA-Angehöriger und der Bundeswehr mit Angehörigen, Truppenteilen, Schulen und Institutionen der anderen Seite zum Kennenlernen, zur Knüpfung wissenschaftlicher und anderer Kontakte mit der Hoffnung auf Zukunftsperspektive. Vieles war spontan und nicht koordiniert. Es gab immer die Befürchtung, dass dies Irritationen für die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen auslösen könnte. Zu ersten offiziellen Kontakten zwischen den beiden Ministerien kam es im April/Mai 1990. Ein Erlass vom 1. Juni 1990 regelte dann die Kontakte, wobei aus Rücksichtnahme (Zwei-plus-Vier), der Rahmen eng gesetzt war.
Ein Seminar über Militärdoktrinen, das im Rahmen der KSZE im Januar in Wien durchführt wurde, bot die Möglichkeit von Begegnungen zwischen Offizieren der Bw und der NVA. Staatssekretär (StS) Wimmer und ein General der NVA unternahmen früh wechselseitige Truppenbesuche. Die Treffen intensivierten sich und die Teilnehmer wurden hochrangiger. Diese Begegnungen dienten dem BMVg zur internen Information und bildeten eine der Grundlagen für weitere konzeptionelle Überlegungen, die dann ab dem Sommer 1990 konkretisiert wurden.
Am 27. April fand das erste Treffen der beiden Minister (Eppelmann und Stoltenberg) statt, d.h. der Minister der DDR traf seinen Amtskollegen, bevor er eine Begegnung mit der Führung der NVA hatte, die es dann erst am 2. Mai auf der Kommandeurstagung der NVA gab. Die Treffen von Staatssekretären dienten der Vorbereitung der Ministertreffen. Insgesamt gab es 16 Treffen zwischen den Staatssekretären Ablaß (MfAV) und Carl (BMVg.)
Die erste Phase der Annäherung kennzeichneten:
· Vorsicht,
· ein Defizit an Wissen,
· ein Mangel an Kommunikation und Einfühlungsvermögen,
· Missverständnisse.
Mangel an Kommunikation und Einfühlungsvermögen
In der Zeit des Kalten Krieges hatte sich eine gewisse Abneigung der Bw gegenüber der NVA herausgebildet, weshalb auch kein großes Verlangen nach Kontakten bestand. Das gegenseitige Wissen zwischen NVA und Bundeswehr war gering und da es über Jahrzehnte kaum Kontakte gegeben hatte, spielten persönliches Auftreten und das Einfühlungsvermögen eine wesentliche Rolle. Ende März 1990 kam der Ministerialdirektor Friedhelm Krüger-Sprengel vom BMVg zur NVA, d.h. er hatte noch vor Amtsantritt des neuen Ministers Eppelmann dort ein Büro. Krüger-Sprengel sollte das MfAV in Fragen von Organisation und Struktur unterstützen, wobei er sich mit seinen Vorschlägen am Aufbau des BMVg orientierte. Es gab zahlreiche Spannungen und der Ministerialdirektor wurde bereits Anfang Mai abberufen. Das Problem mangelnder Kenntnisse, fehlenden Einfühlungs-vermögens und ungenügender Kommunikation wurde schnell erkannt.
Auf Seiten der Bundeswehr wurde das offizielle Feindbild der NVA als Problem vermutet, denn aus ideologischer Sicht galten der NVA die Bundeswehr, die NATO und deren Führungsmacht als unversöhnliche Feinde. Zur Überraschung vieler in der Bundeswehr erwies sich dann schnell dieses Feindbild als nicht sehr tiefgehend und wenig überlebensfähig.
Später gab es zur Angleichung, zum Kennen- und Umlernen Partnerschaften, z.B. zwischen einem Regiment im Osten und einem Bataillon im Westen.
Den ersten offiziellen Kontakt zwischen den beiden Ministerien gab es am 27. April 1990; das erste Treffen auf der Ebene von Staatssekretären fand am 4. Mai 1990 in Bonn statt. Sachfragen waren ein deutsch-deutsches Thema, bei denen aber auch der „Zwei-plus-Vier-Rahmen“ zu beachten war. Es wurden Konsultationen zu zwei Großbereichen beschlossen und dafür Arbeitsgruppen gebildet:
· Verwaltung, Recht, Haushalt, Strukturen (Waffen, Material),
· Sicherheitspolitik.
Im Frühjahr/Sommer 1990 gab es auf Seiten der NVA Reformbestrebungen und auf Seiten der Bw Zurückhaltung. Aus politischen Gründen mussten noch im Juni Überlegungen für eine gemeinsame Führungsstruktur sehr vorsichtig formuliert werden (Dokument 4). Diese Situation verhinderte systematische Planungsarbeit zur Vorbereitung der Übernahme der NVA durch die Bw. Dennoch kam es ab November/Dezember 1989 zu vertraulichen Überlegungen über eine neue Streitkräftestruktur nach weiteren förderlichen politischen Entwicklungen. Es war ein kleiner Kreis im BMVg, der sich Gedanken machte: der Minister, der Generalinspekteur, einige Staatssekretäre. Zu dieser Gruppe gehörte auch der Leiter des Planungsstabes des Ministeriums, Generalleutnant Jörg Schönbohm. (General Schönbohm wurde am 3. Oktober 1990 dann als Befehlshaber des Bundeswehrkommandos Ost eingesetzt.)
Danach bildete sich eine informelle Arbeitsgruppe „Außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit“. Die Erkenntnisse dieser Gespräche wurden dann als Konzept in den am 7. Februar 1990 gegründeten Kabinettsausschuss eingebracht. Die zukünftigen Rahmenbedingungen waren noch unklar, aber ab Februar 1990 orientierten sich diese Überlegungen an den Arbeitshypothesen:
1. Es soll nur eine Armee geben (ein Staat, eine Armee)
2. Austritt der NVA aus dem Warschauer Pakt.
3. Das vereinte Deutschland wird Mitglied der NATO.
4. Auf dem Territorium der ehemaligen DDR werden keine NATO-Truppen stationiert.
Diese Überlegungen mussten vertraulich sein, denn es gab ein Planungsverbot der Bundesregierung, um die internationalen Verhandlungen nicht zu gefährden. Während bei der Bundesregierung und der Bw die Zielvorstellungen relativ klar waren, blieben die internationalen Rahmenbedingungen unklar und veränderten sich schnell. Noch am 12. Juni 1990 hatte Gorbatschow von einer assoziierten Mitgliedschaft Deutschlands sowohl im Warschauer Pakt als auch in der NATO gesprochen. Am 26. Juni 1990, beim Besuch eines Staatssekretärs des BMVg beim MfAV in Strausberg, wurden Arbeitsgruppen mit den Chefs der Stäbe gebildet. Deren Aufgaben waren u.a.:
· Festlegung von Rahmenbedingungen für Arbeitsinhalte,
· Zeitschritte sowie die Unterbreitung von Vorschlägen für die Strukturierung der NVA bzw. ihrer Nachfolgerin.
Die Grundlage für eine Zusammenarbeit der beiden Streitkräfte wurde erst mit der am 1. Juni 1990 in Kraft tretenden Rahmenrichtlinie geschaffen, in der die Bereiche der Zusammenarbeit präzisiert wurden, aber auch Aktivitäten Erwähnung fanden, die nicht zulässig waren (Dokument 5). Nach der Grundsatzentscheidung, die Gorbatschow und Kohl im Mitte Juli 1990 getroffen hatten, war es auch der Bw möglich, konkretere Überlegungen anzustellen und dies auch im Hinblick auf den Einigungsvertrag (Dokument 6).
Trotz des vorsichtigen Vorgehens fiel im BMVg bereits vor dem Kaukasus-Treffen zwischen Gorbatschow und Kohl eine Vorentscheidung für die Auflösung der NVA und den Aufbau eines Bundeswehrkommandos Ost. Mitte August 1990 wurden für dessen Leitung die Bundeswehrgeneräle Schönbohm und von Scheven benannt. Der neue Stab dieses Kommandos sah laut Planung 240 Offiziere und Unteroffiziere der Bw sowie 360 Offiziere und Unteroffiziere der (ehemaligen) NVA plus 200 zivile Mitarbeiter vor. Für die Übernahme wurden Ende September 1.200 Offiziere und Unteroffiziere der Bw zusammengezogen, die nach dem 4. Oktober das Schlüsselpersonal sein sollten für das neue Kommando und die rund 1.500 Truppenteile und Dienststellen der (dann ehemaligen) NVA.
Es wurden auch die rund 2.300 Liegenschaften übernommen, die die NVA und die Grenztruppen genutzt hatten; es waren Kasernen, Schulen, Institute, Truppenübungsplätze, befestigte Anlagen, Fliegerhorste, Hafenabschnitte, usw. mit je eigener Adresse.
Verbindungsgruppe der Bundeswehr beim MfAV
Ab Juli 1990 gab es regelmäßige Besuche der Arbeitsgruppen in Bonn. Im August begann die Verbindungsgruppe ihre Tätigkeit und leistete Vorarbeit für die Übernahme der NVA in die Bw. Bei ihrem dritten Treffen hatten die beiden Minister (Eppelmann und Stoltenberg) die Einrichtung dieser Verbindungsorganisation beschlossen (Dokument 7).
Die Verbindungsgruppe der Bw (rund 20 Personen), die ab 20. August in Strausberg (beim MfAV) tätig war, verfügte über zwei Direktleitungen zum BMVg; es gab technische Kommunikationsprobleme.Siebestand aus Zivilisten und Militärs, die zwei Tage Zeit zur Vorbereitung hatten und fast keine Informationen sowie konkrete Instruktionen bekamen. StS Carl des BMVg erarbeitete Personalerlasse, die klärten, wer mit welchen Aufgaben betraut wurde, aber es gab kaum Anweisungen für die praktische Umsetzung. Die Verbindungsgruppe war Gast beim MfAV in Strausberg:
· sie hatte keinen Rat zu erteilen,
· sollte keinen Einfluss nehmen,
· sollte Material sammeln,
· sollte Fragen beantworten.
Persönliche Vertrautheit und emotionale Bindung
Von den Mitgliedern der Verbindungsgruppe hatten neun Offiziere familiäre Beziehungen bzw. Erinnerungen an den „Osten.“ Nach dem 3. Oktober gingen, größtenteils freiwillig, rund 2.000 Offiziere und Unteroffiziere zum Bw Kommando Ost, davon hatte der größte Teil eine positive emotionale Bindung an den „Osten.“
2.2 Personal
Weiterbeschäftigung und Entlassungen
Während politische Rahmenbedingungen von übergeordneter Bedeutung waren, spielten andere Fragen auf persönlicher Ebene die größte Rolle für die Betroffenen; es ging um:
· Entlassung,
· Arbeitslosigkeit,
· zeitweise Weiterverwendung,
· Übergangsgeld,
· Übergangsphase als Soldat auf Zeit,
· Umschulung,
· dauerhafte Übernahme.
In diesem Zusammenhang hat es wegen:
· vorgegebener Truppenreduzierung,
· falscher Hoffnungen,
· widersprüchlicher Informationen,
· zu später Entscheidungen,
· politischer Überprüfungen,
· als erniedrigend empfundener Entlassungen
viel Unsicherheit, Frustration und Sorgen um die persönliche Zukunft sowie um die Zukunft der eigenen Familie gegeben.
Zahlen entwickelten sich in unterschiedliche Richtungen:
· Die Zahl der höchstwahrscheinlich zu Entlassenden wurde ständig größer.
· Die Zahl der vielleicht zu Übernehmenden wurde ständig kleiner.
Der entscheidende Durchbruch und mit ihm auch präzisere Planungsvorgaben kamen durch das Treffen zwischen Gorbatschow und Kohl am 15. und 16. Juli 1990 zu Stande. Damit war auch die künftige Obergrenze deutscher Truppen festgelegt: 370.000 Soldaten.
Die Beschlüsse des Treffens hatten völlig unterschiedliche Konsequenzen:
· Für Bundesrepublik und Bw gab es Planungssicherheit, d.h. ein Staat-eine Armee, und diese Armee würde die Bundeswehr in der NATO sein.
· Für DDR und NVA verstärkten sich Verunsicherung und Zukunftsangst. Wie schnell würde die Entwicklung voranschreiten, wer wird übernommen, was geschieht mit denen, die nicht übernommen werden?
Am 13. Juli 1990, zwei Tage vor dem Treffen zwischen Gorbatschow und Kohl, ging BM Stoltenberg noch von einer Sollstärke der NVA von 60.000 aus. Am 4. August 1990 sprach er von 50.000 Soldaten in den neuen Ländern, wobei der Anteil ehemaliger NVA-Angehöriger offenblieb. Letztlich wurden etwa 11.000 übernommen. Die Enttäuschung war auch deshalb so groß, weil sich die Größenordnung von 50.000 eingeprägt hatte.
Minister Eppelmann nannte in dieser Zeit noch 60.000 bis 70 000, die in die Bw übernommen werden könnten. Für Offiziere und Unteroffiziere war völlig unklar, ob und wenn ja, zu welchen Konditionen eine Übernahme möglich wäre. Was allerdings so gut wie feststand, war die Tatsache, dass Berufssoldaten der NVA kaum eine zivilberufliche Perspektive haben würden. Grundsätzlich wurden alle Offiziere, Fähnriche und Berufsunteroffiziere der NVA, der Grenztruppen und des Zivilschutzes, die 1990 das 55. Lebensjahr erreicht bzw. bereits überschritten hatten, zum 30. September 1990 entlassen (Dokument 8).
Ursprünglich war das 50. Lebensjahr als Entlassungsgrenze vorgesehen, aber die Militärführung intervenierte massiv. Trotz Anhebung dieser Grenze um fünf Jahre nahmen viele das Angebot an, bei einem Ausscheiden bis zum 31. Dezember 1990 eine erweiterte Versorgung (Vorruhestand) in Anspruch zu nehmen. In diesem Zusammenhang ist ein Hinweis auf die völlig andere Rentenregelung für Berufssoldaten der NVA wichtig. Eine Rente durfte in der DDR nur erwarten, wer mindestens 25 Jahre Dienst geleistet hatte. Die Anfangsrenten reichten allerdings nicht zur Versorgung einer Familie. Wer vorher, oder auch vor dem 60. Lebensjahr, aus dem Soldatenberuf herausgelöst werden musste, wurde im Allgemeinen in einem anderen Beschäftigungsbereich der DDR-Staatswirtschaft untergebracht. Allerdings bestand hier das Problem der Qualifikation, weil Berufssoldaten der DDR nur in Ausnahmefällen (z. B. als Bauingenieur oder Arzt) für Tätigkeiten außerhalb des militärischen Metiers die erforderlichen Kenntnisse hatten. Viele der Älteren erwarben dann an der Militärakademie Dresden oder an sowjetischen Akademien den Grad eines Diplom-Militärwissenschaftlers, der auch ein weiteres Studiums mit Abschluss einer Promotion ermöglichte.
Das Weiterdienen bis zum 31. Dezember 1990 wurde mit einer bescheidenen Rentenregelung plus Einmalzahlung honoriert. Zu diesem Zeitpunkt konnte die Führung der Bundeswehr nicht abschätzen, wie viele Berufssoldaten der NVA überhaupt in die Bundeswehr wechseln würden. Von den etwa 50.000 Berufsoffizieren blieben am 3. Oktober 1990 nur 23.500. Davon diente etwa die Hälfte über den 31. Dezember hinaus, in der Hoffnung längerfristig bleiben zu können.
Anfang September 1990 wurden die weiblichen Armeeangehörigen entlassen (Dokument Nr. 9); ausgenommen waren weibliche Offiziere des Sanitätsdienstes. Soldatinnen wurde die Übernahme in ein ziviles Beschäftigungsverhältnis bei den Streitkräften angeboten, das viele (vermutlich aus Prestigegründen) ablehnten.
Erst ab Mitte September 1990 stand offiziell fest, dass kein Personal aus dem Bereich der Politoffiziere oder der Grenztruppen und keine Generäle/Admiräle der NVA in die Bw übernommen werden. Lediglich vier Generäle und ein Admiral der (früheren) NVA erhielten nach dem 3. Oktober einen Vertrag als zivile Berater, die Verträge waren bis Ende 1991 wirksam. Bei dem Zivilpersonal der NVA, den Grenztruppen und dem Zivilschutz war im Sommer klar, dass mindestens 17.500 Personen einen neuen Arbeitsplatz bräuchten. Übergangsgeld und Umschulung wäre notwendig gewesen, dafür standen aber weder Geld noch Kapazitäten zur Verfügung.
Konkrete Zahlen wurden erst kurz vor dem Beitritt am 3. Oktober 1990 publik, was bei vielen zu Enttäuschung und Frustration führte. Admiral Hoffmann, der frühere Verteidigungsminister, danach der letzte Chef der NVA, erhielt Anfang September 1990 anonyme Anrufe mit Drohungen wie „heute Nacht marschieren wir, die Panzer werden rollen“. Er ordnete zusätzliche Sicherungsmaßnahmen an, denn wegen der bevorstehenden Entlassungen war die Sorge groß bezüglich Bewachung von Waffen und Munition. Es soll Putschpläne in der NVA gegeben haben, denen sich die Führung aber nicht anschloss. (Die damalige Lage wird in Dokument 10 geschildert.)
Im Oktober 1990 wurden
· 24.000 Offiziere
· 23.000 Unteroffiziere
· 45.000 Mannschaften, davon 42.000 Grundwehrdienstleistende,
· insgesamt 98.000 als „Weiterverwender“ für einen begrenzten Zeitraum übernommen und dem Bundeswehrkommando Ost unterstellt.
Die „Weiterverwender“ wurden in der Regel einen Dienstgrad zurückgestuft und mit Abbauaufgaben beschäftigt, nach deren Erledigung sie ausschieden.
Neben ihnen dienten dort ca. 2000 Soldaten der Bundeswehr, fast alle waren Offiziere oder Unteroffiziere. Die meisten von ihnen übernahmen Führungs- und höhere Stabsaufgaben vom Bundeswehrkommando Ost ausgehend bis zur Ebene des Bataillons, sofern der Truppenteil für die geplanten Bundeswehr-Komponenten vorgesehen war. Für die zivile Verwaltung wurden wahrscheinlich 25 Beamte und Angestellte der Bundeswehr in den „Osten“ abgeordnet.
Mit dem Instrument des Sa Z 2 (Soldat auf Zeit) ermöglichte die Bw Bewerbern den Dienst für zwei Jahre auf Probe. Es handelte sich um etwa 25.000 Offiziere und Unteroffiziere; rund 10.000, also weniger als die Hälfte von ihnen, wurde nach zwei Jahren übernommen. Dieses neue Dienstverhältnis bedeutete oft einen deutlich niedrigeren Rang.
Weiterbeschäftigung
Bei der Weiterbeschäftigung und Übernahme von Bewerbern ist zu unterscheiden: es ging einerseits um ein besonderes Vertragsverhältnis von zwei Jahren und dann ab 1993 um die Auswahl von Geeigneten für ein reguläres Dienstverhältnis entweder als Berufssoldat oder Soldat auf Zeit.
Von 12.700 Offizieren der ehemaligen NVA bewarben sich 11.500 für einen Zweijahresvertrag. Die anderen wurden weiter verwendet, bis sie ihre Aufgabe erledigt hatten oder als Zivilbeschäftigte übernommen wurden.
11.000 Offiziere der ehemaligen NVA schieden bis 1994 freiwillig aus.
5.662 Offiziere der ehemaligen NVA bewarben sich um ein reguläres Dienstverhältnis bei der Bw.
3.575 Offiziere wurden als Berufssoldaten oder Soldaten auf Zeit (bis 15 Jahre möglich) übernommen, davon 600 in die Laufbahn als Unteroffiziere. 1.600 ehemalige Berufsoffiziere wechselten in ein ziviles Beschäftigungsverhältnis bei der Bw.
1.400 Bewerber wurden im Auswahlprozess oder noch nach Übernahme fristlos entlassen, weil sie nach Feststellung des Militärischen Abschirmdienstes eine konspirative Selbstverpflichtung als Informant des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (Stasi) verschwiegen hatten.
600 ehemalige Offiziere der NVA wurden als Unteroffiziere übernommen.
Für das Auswahlverfahren war der 15-köpfige Ausschuss „Eignungsprüfung“ zuständig, unter der Leitung eines Staatssekretärs des BMVg. Seine Tätigkeit orientierte sich am „Personalgutachterausschuss“, der 1955/1956 alle Einstellungen in die Bw vom Oberst aufwärts prüfte.
Die Situation bei Unteroffizieren war etwas anders. Einem geplanten Bedarf von 21.000 standen insgesamt lediglich 18.000 Unteroffiziere der ehemaligen NVA gegenüber. Im Gegensatz zur Bundeswehr hatte die NVA mehr Offiziere als Unteroffiziere und für diese kaum Führungsaufgaben. Nur 11.500 bewarben sich für ein zweijähriges Probedienstverhältnis. Aus Sicht der Bundeswehr unter Wohlwollen und Qualitätseinbuße wurden schließlich ca. 8.000 als Berufssoldaten oder Soldaten auf Zeit in die Unteroffizierlaufbahnen der Bw übernommen. Infolge dieser Situation mussten wesentlich mehr Unteroffiziere, vor allem berufserfahrene, vom Westen in den Osten versetzt werden, als vorgesehen. Diesen Versetzungen wurde vielfach nur ungern gefolgt, weil die Verhältnisse damals in der ehemaligen DDR vielfach für Westdeutsche wenig familienfreundlich waren.
Übernahme
Angehörige der Bundeswehr sind Angehörige des öffentlichen Dienstes, was auch für die zu übernehmenden Angehörigen der ehemaligen NVA gelten sollte. Für den zivilen öffentlichen Dienst gilt eine Probezeit von drei Jahren. Das wäre problematisch gewesen und deshalb wurde eine andere Lösung gefunden: Die verbliebenen Angehörigen der der ehemaligen NVA wurden Soldaten auf Zeit der Bundeswehr für zwei Jahre. Diese Zeitspanne sollte genutzt werden, um herauszufinden, ob sie übernommen werden konnten.
Die Hinauszögerung von Entscheidungen bewirkte große Unsicherheit, denn es vollzogen sich – zumindest aus Sicht der NVA – widersprüchliche Entwicklungen. Im September 1990 gab es Lehrgänge am Bundeswehrstandort Fürstenfeldbruck für 280 noch-NVA-Offiziere für eine spätere Verwendung in der Bw.
Entlassung führenden Personals
Die Entlassung aller Generäle, Admiräle und vieler hoher Offiziere der NVA wurde sowohl fachlich als auch politisch begründet:
1. Ihre enge Qualifikation und bisherige Berufspraxis mache eine Verwendung in der Bw unmöglich.
2. Sie waren dem Sozialismus und dem Klassenkampf verpflichtet und konnten deshalb nicht glaubhaft für das vom Grundgesetz bestimmte parlamentarisch-pluralistische System des vereinten Deutschland eintreten.
Zwei weitere Gründe waren ebenfalls wichtig, wurden aber nicht offen diskutiert:
· Fast alle Angehörige der Bw würden sich weigern, unter ehemaligen hohen NVA-Offizieren zu dienen. (Die psychologischen Aspekte wurden in einem Schreiben des Generalinspekteurs Wellershoff angesprochen, Dokument 11)
· Auch in der Bevölkerung der ehemaligen DDR, so die Vermutung, würde es kein Verständnis dafür geben, dass ein General der NVA unbehelligt weiter seinen Dienst versieht, diesmal in der Bw.
Wegen der Reduzierung der Mannschaftsstärke auf 370.000 war eine Übernahme im großen Stil ohnehin nicht möglich; das politische Argument bleibt aber weiterhin umstritten wegen seiner pauschalen Anwendung. Mindestens zwei Aspekte verdienen Beachtung:
1. Das Grundgesetz verbietet eine Benachteiligung/Diskriminierung aus politischen Gründen und die Offiziere der NVA hatten keine Gelegenheit bekommen, zu zeigen, wie sie in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ihren Dienst versehen würden.
2. Der Aufbau der Bundeswehr ab 1955 erfolgte hauptsächlich durch hohe Offiziere der ehemaligen Deutschen Wehrmacht, die einen persönlichen Eid auf Adolf Hitler geleistet hatten und an Angriffs- sowie Vernichtungsfeldzügen beteiligt waren.
Was Personal anbelangt, so waren nicht nur Deutsche betroffen. Seit 1972 praktizierte die NVA die Ausbildung ausländischer Militärangehöriger. Ende Juli 1990 waren noch 620 Personen aus 13 Entsendestaaten in der DDR. Es existierten 22 gültige Regierungsabkommen mit 15 Entsendestaaten; sie wurden vom Außenministerium der DDR gekündigt.
Veränderungen der Sollstärke deutscher Streitkräfte im Vollzug der Einigung
Jahr |
1989 |
1990 |
1991 |
2009 |
Bundesrepublik |
494.000 |
469.000 |
476.300 |
250.000 |
DDR |
173.100 |
137.700 |
|
|
Aus Sicht der vereinigungsbedingten Entwicklungen ist die Zeitspanne von 1989 bis 1995 wichtig. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag hatte für die gesamte Bw bis zum 31. Dezember 1994 eine Obergrenze von 370.000 Soldaten festgelegt, eine Zahl, die planmäßig erreicht wurde. Die weiteren Entwicklungen waren nicht mehr vereinigungsbedingt sondern durch andere Faktoren.
Zumindest was die Mannschaftsstärke anbelangt, gab es eine „Friedensdividende“ durch die Wiedervereinigung, denn die Zahl deutscher Soldaten verringertesich innerhalb von 20 Jahren (von 1989 bis 2009) um rund 62 Prozent. Ein weiteres Zahlenverhältnis macht diese positive Entwicklung deutlich: Im Jahr 1989 befanden sich auf dem Territorium der DDR und Berlin (West) rund 600.000 deutsche und ausländische Soldaten, im Jahr 1994 waren es auf dem gleichen Gebiet nur noch 58.000 Soldaten der Bundeswehr.
2.3 Finanzielle Aspekte
Stornierung von Rüstungskäufen
Bei dem Treffen der Staatssekretäre am 23. Juli 1990 ging es auch um die Stornierung von Rüstungskäufen der DDR, vornehmlich in der Sowjetunion (SU). Durch Verhandlungen in Moskau (ab Mai 1990) konnten weitgehende Stornierungen erreicht werden. Die DDR musste eine Kompensationssumme zahlen und schickte 1989 importierte und bezahlte Rüstungsgüter auf eigene Kosten zurück in die SU; eine ähnliche Regelung gab es mit Polen. Das MfAV hatte Rüstungsaufträge in Höhe von 2,3 Milliarden DDR-Mark gekündigt.
Verkäufe
Da die Bw keine Systeme übernehmen wollte, bemühte sich das MfAV zusätzlich um Verkäufe (Dokument 12). Zur Wertermittlung wurde eine „Gruppe Wirtschaftskoordinierung“ gegründet, deren Sachverstand half, höhere Erlöse zu erzielen. Die Verkäufe wurden mit dem BMVg abgestimmt; Verträge hatten die Klausel „vorbehaltlich der Zustimmung der Bundesregierung Deutschlands“.
In einigen Fällen kam es zu Tauschgeschäften. Ein Beispiel: Die Volkspolizei hatte ein großes Krankenhaus, das dem Bereich des Innenministeriums der DDR zugeordnet war. Dieses Ministerium brauchte für den Grenzschutz Hubschrauber, über die das MfAV verfügte. Noch kurz vor dem 3. Oktober wurden Hubschrauber gegen das Krankenhaus getauscht. Das Krankenhaus und sein Personal wurden zunächst ins Ressortvermögen Verteidigung des MfAV und später der Bundeswehr übernommen.
Kosten
Die Vernichtung von Material, die Bewachung und Entsorgung von Munition haben schätzungsweise 3,5 Milliarden DM gekostet. Für die Modernisierung (Gebäude, Kommunikation, Infrastruktur) von NVA-Standorten auf den Standard der Bundeswehr waren mindestens 10 Milliarden € erforderlich.
Übernahme von Grundwehrdienstleistenden
Die Übernahme beinhaltete eine Reihe administrativer, aber auch finanzieller Probleme, die teilweise durch das föderale System der Bundesrepublik bedingt waren: In der BRD wird die Laut Gesetz für die Unterhaltssicherung der Soldaten im Grundwehrdienst und in Wehrübungen ist diese Absicherung Aufgabe von den Kommunen, nicht von der Bundeswehr. Aber im Oktober 1990 funktionierten die Sozialämter im Beitrittsgebiet noch nicht, deshalb wurde für eine Übergangszeit die Unterhaltssicherung der Betroffenen von der Bw geregelt.
Größerer ökonomischer Zusammenhang
Das Problem der Entlassungen bei der NVA muss in den größeren ökonomischen Zusammenhang der damaligen DDR gestellt werden:
· Ende Juli 1990 gab es rund 985.000 Arbeitslose, Kurzarbeiter und von Entlassung bedrohte Arbeitskräfte in der DDR.
· Ende August, d.h. acht Monat nach Einführung der DM, stieg diese Zahl auf 1,34 Millionen Personen.
· Da jene, die aus der NVA ausschieden, noch ein Übergangsgeld erhielten, wurde ihre Situation als nicht so gravierend angesehen.
Auch die Bundeswehr hatte neue Belastungen zu tragen, auch oder gerade wegen der Entlassungen:
· Sie musste zum Beispiel 50.000 Berufs- und Zeitsoldaten der ehemaligen NVA sozialverträglich entlassen und für eine zivile Verwendung umschulen. Wegen der erforderlichen Reduzierung der Truppenstärke sah der Einigungsvertrag vor, dass bis 1994 erleichterte Kündigungsmöglichkeiten und Personalabbaumöglichkeiten Anwendung finden sollten. Berufssoldaten in technischen Bereichen konnten relativ schnell auf zivile Arbeitsplätze vermittelt werden, auch in die alten Bundesländer. Für andere gab es Umschulungskurse, die ein, zwei oder mehrere Jahre dauerten; es war ein langsam anlaufendes und kompliziertes System.
· Jene, die einen Antrag auf Übernahme erfolgreich gestellt hatten, mussten auf eine militärische Weiterverwendung in der Bw vorbereitet werden.
· Es gab eine Ausbildungsverpflichtung für rund 40.000 ostdeutsche Wehrpflichtige.
· Für den Gesamtbestand von noch rund 90.000 Personen übernahm das BMVg ab dem 3. Oktober 1990 die Verantwortung; es musste für eine Übergangsregelung die Auszahlung von Wehrsold und Gehältern gesichert werden.
Übersiedler
Die wachsende Zahl der Übersiedler war ein finanzielles Problem, auch für die Bw. Lange Zeit waren Übersiedler aus politischen Gründen willkommen, galten sie doch als Zeichen der Unattraktivität des Systems der (alten) DDR; die große Zahl aber bereitete dann Schwierigkeiten. Ab 1988 stieg die Zahl der Übersiedler aus der DDR in die Bundesrepublik stark an:
1988 waren es 39 832 Personen,
1989 waren es 343 854 Personen.
Diese Abwanderung verursachte nicht nur der DDR Probleme; für die Bundesrepublik war sie mit finanziellen Anstrengungen verbunden (Unterbringung, soziale Absicherung). Auch die Bw leistete ihren Teil, denn etwa 130.000 Übersiedler mussten wegen Mangel an anderen Räumlichkeiten vorübergehend in Kasernen untergebracht werden.
2.4 Übergabe einer Armee ohne Lobby
Sicherung von Munition und Waffen
Wichtig für die Sicherheit, speziell in der Phase der Übernahme, war der Befehl von Minister Eppelmann zur Entmunitionierung vom 30. August 1990, die Maßnahmen sollten bis spätestens zum 18. September beendet sein (Dokument 13). Es war vorgesehen, das Material (Munition, Raketentreibstoff, Kriegswaffen) an 100 ausgewählten Plätzen zu lagern und zu sichern. Hierfür gab es drei Kategorien:
· A: die Bw will das Material weiterverwenden;
· B: es wird garantiert keine Weiterverwendung geben;
· C: noch nicht entscheiden.
Die Verbindungsgruppe war von der Menge an Waffen und Munition überrascht. Nach dem 3. Oktober 1990 mussten Hochspannungssicherungsanlagen wegen Unverhältnismäßigkeit (Regeln der BRD) abgeschaltet werden, was zur Konsequenz hatte, dass rund 6.000 zusätzliche Soldaten zur Bewachung erforderlich wurden.
Eine Armee ohne Lobby
Maßnahmen des MfAV wurden den veränderten politischen Bedingungen angepasst, bzw. durch sie möglich oder erforderlich. So z. B. die Auflösung der Grenztruppen durch Befehl 49/90 vom 21. September 1990 (Dokument 14). Das Ende der NVA wurde von ihr selbst organisiert. (Dokument 15, auch Dokumente 16) Es gab präzise Anweisungen über Einstellung und Weiterführung von Aufgaben, die organisatorischer Art waren oder der Sicherheit dienten (Luftraumüberwachung).
Ausgesuchte Materialien der NVA kamen ins Militärhistorische Museum nach Dresden. Vor der Vereinigung, vor formeller Auflösung der NVA, kamen dorthin Museum auch die Zeichen der Tradition und Ehrungen für Einheiten und Angehörige dieser Armee, so zum Beispiel alle Fahnen.
Armee ohne Interessenvertretung und ohne ausreichende interne Kommunikation
Nach dem Treffen zwischen Gorbatschow und Kohl im Juli 1990 wurde der Prozess in Richtung deutsche Einheit im Wesentlichen von der Exekutive der Bundesrepublik vorangetrieben. Das gilt auch für Entwicklungen bezüglich der Übernahme der NVA, die über keinerlei wirkungsvolle Interessenvertretung verfügte: der NVA fehlte eine Lobby. Der Ausschuss der Volkskammer für Abrüstung und Verteidigung wollte einen Nachtrag zum Einigungsvertrag (Dokument 17), konnte aber in dieser Hinsicht nichts bewirken. Dieser Ausschuss reagierte meist zu spät und war zu inaktiv, um in Entscheidungsprozesse eingreifen zu können.
Erschwerend für die Situation der NVA war auch der erhebliche Mangel an Kommunikation zwischen der Regierung (in Berlin-Ost), dem Ministerium (MfAV in Strausberg) und den Standorten, die teilweise in völliger Unkenntnis der Pläne und Entscheidungen waren.
Polizei ist im föderalen System der Bundesrepublik Ländersache; die Polizeihoheit ging nach dem 3. Oktober an die fünf neugegründeten Bundesländer über.
Berlin stellte einen Sonderfall dar. Im West-Teil der Stadt gab es 30.000 Polizei-Beamte, im Ostteil 12.000 Polizei-Angestellte. Nur in Berlin wurden alle Ost-Angestellten wegen möglicher Verwicklungen mit der Stasi überprüft, nicht in anderen Bundesländern.
Föderales System
Was die Polizei anbelangt so wurde fast alles in den Bundesländern individuell geregelt, z. B. Polizeigesetze und Sicherheitsrecht. Schwierig war auch, dass einerseits Bundesvorgaben einzuhalten waren, andererseits aber auch jedes Bundesland individuell gestalten wollte.
Sonderfall Polizei in Berlin
Bei kaum einer anderen Behörde wie der Berliner Polizei (West) ist der Integrationsprozess so frühzeitig und so umfassend in Gang gesetzt worden. Wichtige Etappen waren folgende Treffen/Übereinkünfte zwischen Vertretern der beiden Stadtteile:
· 11. November 1989, 14:00 Uhr, Treffen vom Berliner Polizeipräsidenten (West) mit einem Oberst der Volkspolizei am Grenzübergang Checkpoint Charlie, um die labile Lage am Brandenburger Tor zu besprechen
· 11. November 1989, 22:37 Uhr, Schaltung einer ersten Telefonverbindung zwischen der Berliner Polizei und der Volkspolizei in Ost-Berlin, die Funkverbindung stand um 23:44 Uhr
· 20. Dezember 1989, Gesprächsrunde im Ostteil der Stadt mit hohen Polizeiführern beider Seiten, Hauptthema: Verkehrsprobleme und bevorstehende Öffnung des Brandenburger Tores
· 12. Februar 1990, Treffen der beiden Polizeipräsidenten, erstmalig in der Geschichte des geteilten Berlins; es wurde jeweils ein leitender Polizeiangehöriger als ständiger Ansprechpartner bestimmt
· 15. März 1990, Treffen in Potsdam zwischen dem Berliner Polizeipräsidenten (West) und einem Oberst der Volksarmee
· 1. April 1990, Grenzöffnung für alle Berliner Wassersportler; die Wasserschutzpolizisten beider Seiten waren die ersten, die eine wirklich umfassende Zusammenarbeit erreichten
· 27. April 1990, Treffen zwischen DDR-Innenminister Dr. Peter-Michael Diestel und Innensenator Erich Pätzold; die West-Berliner Seite drängt auf mehr Zusammenarbeit im Hinblick auf einen Zusammenschluss, der DDR-Innenminister bremst etwas
· Anfang Juli 1990, Einrichtung einer Arbeitsgruppe, die aus Vertretern des Berliner Senats, des Magistrats und des Innenministeriums der DDR besteht; Aufgabe: Ergreifen von Vorbereitungsmaßnahmen für den Vereinigungsprozess sowie, nach Beschreibung des Ist-Zustandes (Dokument 29), Entwicklung von Zielvorstellungen und Vorbereitung praktischer Entscheidungen (Dokumente 30 und 31)
· 2. Juli 1990, Beginn der fachbezogenen Grundeinweisungen
· 1. Oktober 1990, 13:00 Uhr, Übernahme der Polizeihoheit vom Ostteil der Stadt durch das Land Berlin, Senats- und Magistratsbeschluss vom 25. September 1990, mit Blick auf die polizeilichen Aufgaben bei Durchführung der Vereinigungsfeierlichkeiten wurde der Übergang vom 3.10. auf den 1.10. vorgezogen (Dokumente 32 und 33)
Ausstattung
Die Materialausstattung der Volkspolizei erwies sich als veraltet und mangelhaft. Das Kraftfahrzeugwesen entsprach keinen zeitgemäßen Anforderungen (Dokument 34). Es gab Sicherheitsprobleme bei Waffen der Volkspolizei, und starke Quecksilberbelastung der Munition hatte zur Folge, dass nach zwei Gutachten des TÜV viele Pistolen eingezogen werden mussten. Der Berliner Polizei war damit ein Nachrüstungsbedarf von ca. 6.000 Pistolen im Stückpreis von 1.200 DM entstanden. Auch der Uniformwechsel bei Volkspolizisten musste sofort begonnen und schnell abgeschlossen werden.
Durchmischung
Eine wesentliche Grundentscheidung war die Einführung des Prinzips der „Durchmischung“, die dazu beitragen sollte, den Angleichungsprozess zu beschleunigen. So arbeiteten ab dem 1. Oktober 1990 im Ostteil der Stadt 2.323 Beamte aus West-Berlin; im Ausgleich dafür versahen 2.700 Angehörige der ehemaligen Volkspolizei ihren Dienst im Westteil der Stadt (davon jeweils 586 in gemischt besetzten Funkwagen Streifendienst).
Entlassungen, Übernahmen
Organisation/Struktur und Ausbildung/Qualifikation waren grundlegend verschieden im Ost-West-Vergleich.
Mit Schreiben vom 23. Januar 1991 erhielten alle ehemaligen Angehörigen der Volkspolizei einen von der Senatsverwaltung ausgearbeiteten Personalfragebogen, mit dem die fachliche Qualifikation, die persönliche Eignung und insbesondere eine eventuelle Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit überprüft wurden. Letztere hätte einer endgültigen Übernahme in den Polizeidienst entgegenstanden (Dokument 35).
Entsprechend einer Weisung der Senatsverwaltung vom Dezember 1990 wurden Personalauswahlkommissionen gebildet, denen es oblag, Empfehlungen über die persönliche Eignung und fachliche Qualifikation oder über die Notwendigkeit einer außerordentlichen bzw. ordentlichen Kündigung auszusprechen (Dokument 36).
Im Sommer 1990 gab es Schulungskurse für die Berliner Ost-Polizisten. Ca. 9.000 von 12.000 wurden nach Vorschlag der Personal-Kommission übernommen, der Rest wurde entlassen, kündigte von selbst oder ging in den Ruhestand (viele von ihnen bewarben sich erfolgreich bei den damals florierenden privaten Sicherheitsfirmen). Die früheren Ost-Angestellten wurden neue West-Beamte auf Probezeit; die ersten von ihnen erhielten am 18. Dezember 1991 ihre Ernennungsurkunde. Die Schulungskurse bedeuteten einen großen Aufwand in jederlei Hinsicht. Erst einmal verbeamtet, war es später sehr schwierig, wenn über einen Ost-Polizisten hinterher eine MfS-Tätigkeit bekannt wurde; die, die sich anfangs im Fragebogen selbst ehrlich belasteten, hatten dann größere Nachteile. Vom einstigen höheren Dienst der Volkspolizei wurden alle bis auf einen Angestellten als nicht zumutbar eingestuft und nicht übernommen, der Ausnahmefall fand in Sachsen eine Anstellung.
Regierungs- und Vereinigungskriminalität
Von Bedeutung in der Nachwendezeit war die ZERV (Zentrale Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität), eine Berliner Polizeibehörde zur strafrechtlichen Aufarbeitung der SED- und DDR-Vergangenheit. Sie existierte von 1991 bis 2000. Unter anderem ging es um Geld, das die DDR auf Auslandskosten untergebracht hatte. Es handelte sich um einen Betrag in Milliardenhöhe; Alexander Schalk-Golodkowski war einer der bekanntesten Fälle in dieser Hinsicht.
Der Vereinigungsprozess der beiden Berliner Polizeien, jedenfalls in den grundlegenden und strukturellen Entscheidungen und deren Umsetzung, konnte in der ersten Hälfte des Jahres 1992 abgeschlossen werden. Weiterhin galt es, drei Hauptaufgaben zu bewältigen:
1. Überprüfung der Ost-Angestellten auf MfS-Tätigkeit
2. Vereinheitlichung und Modernisierung von Verwaltungsstrukturen (u.a. Tarife)
3. Vereinheitlichung und Modernisierung von Verwaltungstechnik (v.a. im Bereich der Datenverarbeitung)
Es gab die einmalige Chance, den Einigungsprozess für Vereinfachung, Modernisierung und damit letztlich auch für langfristige Kostenersparnis zu nutzen, eine Chance, von der nicht immer Gebrauch gemacht wurde.
3. Was könnte für Korea relevant sein?
Die Entwicklung Koreas ist nicht verlässlich zu prognostizieren, schon gar nicht für Außenstehende. Dennoch: Ob es zu einer langsamen Annäherung, einer schnellen Normalisierung oder einer plötzlichen Vereinigung kommt, die Frage der Streitkräfte wird ein wesentliches und voranging zu lösendes Problem sein. Auch in Korea, bei aller Unterschiedlichkeit, werden neben rein militärtechnischen Aufgaben psychologische Aspekte, finanzielle Schwierigkeiten, Fragen der Demobilisierung sowie Konversion und Rückwirkungen auf Nachbarländer eine Lösung bedürfen. Die Armee ist ein entscheidender Machtfaktor in Nordkorea; die NVA hingegen hatte in der Übergangsphase 1989/1990 keine Interessenvertretung, es fehlte ihr eine Lobby.
Innere und äußere Konsequenzen
Was auch immer bezüglich des Militärs auf der koreanischen Halbinsel geschieht, es wird auch den Status der US-Truppen in der Republik Korea berühren. Er ist gekoppelt an und hat unmittelbare Auswirkungen auf die US-Militärpräsenz in Japan. Veränderungen der militärischen Position der USA in Nordostasien haben zwangsläufig Auswirkungen auf die Haltung der VR China und Russlands. Die USA sind seit Jahrzehnten gewöhnt an ihre Position als Seniorpartner Südkoreas und die Volksrepublik China kann den Beziehungen zu Nordkorea positive Aspekte abgewinnen. Alle Beteiligten (Korea und Nachbarn) profitieren von einem geteilten Korea, vorausgesetzt, es kommt zu keiner unkontrollierbaren Eskalation. Die Bevölkerung profitiert nicht. Bei einer weitgehenden Normalisierung, gar Wiedervereinigung, wird sich für die koreanische Halbinsel vieles ändern, so z.B.:
· ein größerer Handlungsspielraum
· aber mehr Eigenverantwortung.
Rückbesinnung auf gemeinsame Geschichte
Bei ihren Reformbemühungen betonte die neue NVA-Führung im Jahre 1990 den antifaschistischen Widerstand. Für Korea könnte, mit unterschiedlichem Inhalt, die Herausarbeitung historischer Bezugspunkte durch beide Seiten wichtig und hilfreich sein, d.h. die Betonung von Gemeinsamkeiten.
Konversion
Konversion ist vielleicht kein so großes Problem, denn die Armee Nordkoreas war schon immer in der Produktion tätig. Allerdings sind viele Produktionsstätten nicht nur veraltet, sondern aus Gründen der Sicherheit in Bergwerken untergebracht; die Umstellung auf „zivilere Standorte“ wird beträchtliche Kosten verursachen. Für Umschulungsprogramme werden Ressourcen bereitgestellt werden müssen. Angesichts der Größe der Streitkräfte wird die Demobilisierung eine große Herausforderung sein.
Bei der Frage von Privatisierung und Veräußerungen dürfte ähnlich wie in Deutschland die Ermittlung von Werten (Marktpreisen) schwierig sein. (Die Bundeswehr hat damals mit ihrer Ausrüstung den Katasterämtern bei Vermessungen geholfen.) Einige militärische Anlagen Nordkoreas (Tunnel, Flugzeughangars in Bergen) haben sicher das Potenzial für Touristenattraktionen. Wichtig wird sein, mit dem naturparkähnlichen Charakter der Entmilitarisierten Zone behutsam umzugehen.
Weiterbeschäftigung
Aus Gründen der inneren Sicherheit und aus militärtechnischen Erwägungen wird der Sachverstand von Angehörigen der Streitkräfte Nordkoreas erforderlich sein, egal, ob es zu einer langsamen Normalisierung oder schnellen Wiedervereinigung kommt. Der Süden muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass eine Anzahl von Führungspersonal der Armee des Nordens weiter Funktionen ausüben wird. Bezüglich der Frage einer Übernahme von Personal hatte es in Deutschland große Unsicherheit und einen eklatanten Mangel an verlässlichen Informationen gegeben; das muss in Korea auf jeden Fall vermieden werden.
Psychologische Aspekte
Wie in allen Bereichen, so besonders auch beim Militär zeigte sich die Bedeutung psychologisch wichtiger Gesten. In Deutschland wurden sie oft vernachlässigt, in Korea sollten solche Fehler vermieden werden, wenn es dort auch schwerer sein mag, dies zu tun. Ein Beispiel kann dies vielleicht illustrieren:
Weil die Reservistenordnung der DDR nicht als eine der Bestimmungen des früheren DDR-Rechts übergeleitet wurde (Kapitel 19, Anlage 2, Einigungsvertrag) konnten ehemalige Angehörige ihrem früheren Dienstgrad nicht „a. D.“ oder „der Reserve“ hinzufügen, sondern lediglich „gedient in fremden Streitkräften.“ Zu der Entlassung, den damit verbundenen materiellen und gesellschaftlichen Problemen kam nun noch eine als sehr demütigend empfundene Diskriminierung hinzu.
Proliferation
Eine Gefahr der Weitergabe von Wissen und Material (Massenvernichtungswaffen) besteht bereits. Bei einer unkontrollierten Reduzierung/Umstrukturierung der Armee Nordkoreas könnten Spezialisten und Geheimnisträger ihr Wissen meistbietend im Ausland offerieren. Hier wird es notwendig sein, wirkungsvolle Kontrollmechanismen zu haben und auch die materiellen Anreize zu schaffen, die einem „Abwandern“ und der Weitergabe „sensiblen Wissens“ entgegenwirken.
Mangelnde Kenntnisse und Kommunikationsprobleme
Bei der Abwicklung der NVA und ihrer teilweisen Übernahme in die Bundeswehr war das Rechtssystem der BRD grundlegend. Viele Formulierungen waren den Handelnden des MfAV und der NVA unklar, viele Sachverhalte unbekannt. Dieser Mangel an Kenntnissen war den Kooperationspartnern aus dem Westen oft nicht bewusst, was zu großen Missverständnissen führte. In Korea könnten die Missverständnisse noch größer sein, beide Seiten sollten deshalb bei einer sich entwickelnden Kooperation bei der jeweils anderen Seite nicht zu viel an Informationen und Sachkenntnissen voraussetzen.
Tiefe und Langzeitwirkung von Ideologie
Nach dem 3. Oktober 1990, beim Aufbau des Territorialkommandos Ost, gab es keine Probleme mit einem Feindbild der ehemaligen NVA. General von Scheven stellte fest: „Diese Indoktrination schien abgestreift worden zu sein, wie eine zweite Haut und es kam der professionelle Soldat zum Vorschein.“ Die Ideologie dürfte in der Armee von Nordkorea eine größere Rolle spielen, als dies in der DDR der Fall war, dennoch wird ein differenziertes Vorgehen seitens des Südens notwendig sein, um hinter einer möglichen „ideologischen Kulisse“ bzw. Maske die Persönlichkeit erkennen zu können. Sollte es zu einer ähnlichen Entwicklung wie in Deutschland kommen, dann darf die Schwierigkeit, mit dem Zusammenbruch des Systems fertig zu werden nicht zusätzlich durch Demütigungen oder auch nur mangelndes Einfühlungsvermögen verstärkt werden. Eine Übernahme bzw. Weiterverwendung muss transparenten und nachvollziehbaren Kriterien verpflichtet sein.
Vermeidung eines Eindrucks der Demütigung
Wie erwähnt (oben S. 26) wurden Zeichen (Fahnen u.a.m.) der NVA noch vor Ende der DDR an das Militärhistorische Museum in Dresden übergeben. Dafür wurden bestimmte Formen befohlen, die den Eindruck einer Demütigung verhindern oder zumindest mildern sollten. Ähnliche Sensibilität und Rücksichtnahme wird in Korea sehr wichtig sein.
Zeittafel
Die kalendarische Auflistung von Ereignissen ist eine Ansammlung von Daten, die einen zumindest zeitlich objektiven Charakter zu haben scheinen. Wichtig ist, wie die Ereignisse empfunden und wie sie unterschiedlich interpretiert wurden. Hier gab es große Unterschiede, denn die Entwicklung der Jahre 1989/1990 bewirkte tiefgreifende Einschnitte, die das Leben der Menschen in der DDR in kürzester Zeit völlig veränderten. Sie trafen die Angehörigen der NVA unmittelbarer und härter als die westdeutschen Streitkräfte. Die folgende Passage aus einem von Hans Ehlert herausgegebenen Buch macht dies deutlich.[2]
„Aus dem Blickwinkel der DDR lassen sich für das letzte Jahr der Nationalen Volksarmee zeitlich drei Phasen unterscheiden:
1. Vom Oktober 1989 bis zur Volkskammerwahl im März 1990
Dieser Zeitraum ist gekennzeichnet durch Verunsicherung der Streitkräfte bis hin zu Auflösungserscheinungen, die Lähmung der alten politischen und militärischen Führung und den Verfall der Disziplin. Im November 1989 wurde eine neue Führung eingesetzt, die mit ihren Bemühungen zur Militärreform und Wiederherstellung der inneren Ordnung gleichzeitig Perspektiven für eine 'neue' NVA entwickeln wollte.
2. Zwischen April und Juli 1990
Unter der ersten demokratisch gewählten Regierung wurden die Bemühungen zur relativen Stabilisierung der Streitkräfte fortgesetzt und Hoffnungen auf die eigenständige Zukunft einer stark reduzierten NVA auch im vereinten Deutschland genährt. Das MfAV wurde neu gegliedert, die NVA sollte sich in rechtlicher und struktureller Sicht an der Bundeswehr orientieren. Es wurden die Grundlagen für offizielle Kontakte zwischen NVA und Bundeswehr geschaffen.
3. Von Juli bis Oktober 1990
Nach den Entscheidungen über die Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschlands im Kaukasus war klar, daß es mit der Wiedervereinigung nur noch eine deutsche Armee geben werde. Die Stimmung in der NVA kippte jetzt um, Resignation und Sorge um die Zukunft griffen um sich. Der loyalen militärischen Führung gelang es trotzdem, in Zusammenarbeit mit Vorkommandos der Bundeswehr die Streitkräfte auf eine disziplinierte Übergabe an die Bundeswehr vorzubereiten
Aus Sicht der Bundeswehr lassen sich dagegen zeitlich verschoben nur zwei Phasen ausmachen, deren Zäsur ebenfalls das sowjetisch-deutsche Spitzengespräch im Kaukasus markiert:
1. Zwischen Januar und Juni 1990
Dieser Zeitraum war durch vorsichtige Zurückhaltung bei allen militärischen Planungen gekennzeichnet. Es erfolgten allenfalls behutsame Vorüberlegungen hinter verschlossenen Türen, ging es doch darum, den laufenden, in wichtigen Fragen offenen politischen Einigungsprozess nicht durch militärisches 'Störfeuer' zu gefährden. Die offiziellen Kontakte zwischen Bundeswehr und NVA liefen bis zum Inkrafttreten einer Rahmenrichtlinie am 1. Juli 1990 auf 'Sparflamme'.
2. Zwischen Juli und Oktober 1990
In diesem Abschnitt kam es in einem Kraftakt zur Implementierung der bisherigen Perspektivüberlegungen zur militärischen Einigung durch konkrete Planungen. Gleichzeitig wurden die konkreten Schritte zur Übernahme von Personal und Material der NVA am Tage des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vorbereitet.“
15.01.1989 Verabschiedung des Abschlussdokuments des KSZE-Folgetreffens in Wien.
23.01. Erich Honecker gibt den Beschluss des Nationalen Verteidigungsrates der DDR bekannt, die NVA bis Ende 1990 um 10.000 Mann zu reduzieren und die Verteidigungsausgaben der DDR um 10 % zu verringern.
06.02. Letztes Todesopfer an der „Berliner Mauer“. Der Todesschütze wird drei Jahre später im ersten „Mauerschützenprozess“ wegen Todschlags verurteilt.
28.-29.03. Wehrpolitisches Seminar von Militärwissenschaftlern und Offizieren der NVA und der Bundeswehr in Hamburg.
16.06. Letzte (78.) Tagung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR.
04.10. Aufstellung von NVK-Einsatzkommandos zum Schutz der Feiern des 40. Jahrestages der Gründung der DDR (Befehl Nr. 105/89).
18.10. Egon Krenz löst Erich Honecker ab.
08.11. Rücktritt des Politbüros des ZK der SED.
09.11. „Fall der Berliner Mauer“, Öffnung der Grenzen.
11.11. Auflösung der Einsatzkräfte der NVA (179 Hundertschaften)
06.12. Anordnung der Entwaffnung der Kampfgruppen. (Betriebskampf-gruppen waren eine Art von Miliz in der DDR, am 14. Dezember 1989 wird ihre Auflösung zum 30. Juni 1990 beschlossen.)
07.12. Verhaftung von Erich Mielke.
07.12. Bildung eines Ausschusses zur Untersuchung von Amtsmissbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung in der NVA, den Grenz-truppen und der Zivilverteidigung.
18.12. Konstituierung des Runden Tisches zur Militärreform.
21.12. Die Regierung Modrow beschließt eine Regierungskommission zur Militärreform.
31.12. Die SED/PDS beendet ihre Tätigkeit in der NVA. Bis zum 15. Februar 1990 werden alle Politorgane in der NVA aufgelöst.
01.01.1990 Der Reiseerlass für Geheimnisträger der Bundeswehr fällt, d.h. Offiziere der Bundeswehr können in die DDR reisen.
16.01. Erste Sitzung der Regierungskommission „Militärreform der DDR“.
17.01. Gespräch zwischen dem stv. Verteidigungsminister der DDR und dem Generalinspekteur der Bundeswehr in Wien.
20.01. Gründung eines Verbandes der Berufssoldaten der DDR.
18.03. Erste freie Wahlen in der DDR
20.03. Letzte Sitzung des Runden Tisches zur Militärreform.
12.04. Rainer Eppelmann wird Minister für Abrüstung und Verteidigung im Kabinett von Lothar de Maizière.
24.04. Der ehemalige Verteidigungsminister der DDR, Admiral Theodor Hoffmann, wird neuer Chef der NVA unter einem zivilen Verteidigungsminister.
04.05. Erstes Treffen der beiden Staatssekretäre der beiden Ministerien in Bonn, d.h. Ministerium für Abrüstung und Verteidigung der DDR und Bundesministerium der Verteidigung.
27./28.05. Treffen der Minister Eppelmann und Stoltenberg in Strausberg.
31.05. Einstellung der Militärspionage der DDR gegenüber der Bundesrepublik.
01.06. Inkrafttreten der Rahmenrichtlinie über dienstliche und außerdienstliche Kontakte zwischen Soldaten der Bundeswehr und Angehörigen der NVA.
13.06. Bundesverteidigungsminister Stoltenberg vertritt das Prinzip „Ein Staat – eine Armee“.
15.06. Besuch einer Delegation des MfAV in Bonn. Beginn der Arbeitsbesuche zwischen beiden Ministerien und Streitkräften.
26.06. Einstellung der Grenzüberwachung der DDR an den Grenzen zur Bundesrepublik (Befehl 10/90).
01.07. Der Vertrag über Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion tritt in Kraft. Wegfall der Grenzkontrollen zwischen den beiden deutschen Staaten.
16.07. Treffen zwischen Gorbatschow und Kohl im Kaukasus; Sowjetunion stimmt zu, dass das vereinte Deutschland Mitglied der NATO wird.
08.08. Befehl Nr. 26/90 des Ministers zur Auflösung der Organe der staatsbürgerlichen Arbeit („Politunterricht“) in der NVA.
20.08. Verbindungsstab der Bundeswehr nimmt bei der NVA in Strausberg seine Arbeit auf.
07.08. Zusammenfassende schriftliche Überlegungen des BMVg zur Zusammenführung von Bundeswehr und NVA durch General Ekkehard Richter.
09.09. Beginn eines Ausbildungslehrgangs für 280 Offiziere der NVA an einer Offiziersschule der Bundeswehr, um sie auf ihre Aufgaben als Offiziere der Bundeswehr vorzubereiten.
11.09. Treffen der beiden Verteidigungsminister im Verbindungsbüro in Berlin.
Im September 1990 spricht der Bundesverteidigungsminister Stoltenberg von einer „fairen Chance“ für bis zu 25.000 Berufssoldaten der NVA in die Bundeswehr eingefügt zu werden.
12.09. Abschluss der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen.
21.09. Befehl 49/90 des MfAV über die Auflösung der Grenztruppen.
24.09. Unterzeichnung des Protokolls über die Herauslösung der NVA aus den Vereinten Streitkräften des Warschauer Vertrages durch dessen Oberbefehlshaber und Minister Eppelmann in Berlin.
28.09. Entlassung aller noch in der NVA verbliebenen Generäle und Admiräle aus dem aktiven Dienst.
30.09. Auflösung der Transportpolizei.
02.10. Um 24.00 Uhr hört die NVA auf zu existieren.
03.10. Minister Eppelmann übergibt die NVA an die Bundeswehr. In einem Tagesbefehl für die Nacht 2./3. Oktober entbindet er die Angehörigen der NVA um 24:00 Uhr von ihren Pflichten gegenüber der DDR; der Befehl regelte u. a. auch das letzte Fahnenzeremoniell der DDR und das erste für die Bundesrepublik Deutschland.
03.10. Herstellung der bundesdeutschen Polizeihoheit auf Landesebene. Auflösung der Bereitschaftspolizei. 1.700 Transportpolizisten werden als Bahnpolizei in den Bundesgrenzschutz-Ost der Bundesrepublik Deutschland übernommen.
04.10. Offizielle Indienststellung des Bundeswehrkommandos Ost und anderer Kommandos in den neuen Bundesländern.
[1]Ablaß, Werner E., 1992: Zapfenstreich. Von der NVA zur Bundeswehr. Düsseldorf: Kommunal-Verlag, S. 141.
[2] Ehlert, Hans, Hrsg. (2002), Armee ohne Zukunft. Das Ende der NVA und die deutsche Einheit. Zeitzeugenberichte und Dokumente, Berlin: Ch. Links Verlag, S. 6f.