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Workshop 'Der dementierte Gegenstand - Artefaktskepsis der russischen Avantgarde zwischen Abstraktion und Dinglichkeit'

17.11.2006 - 18.11.2006

Ein Workshop im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ der Freien Universität Berlin
Organisation: Teilprojekt A4 „Gegenstandslosigkeit als Herausforderung ästhetischer Erfahrung“, Anke Hennig, Georg Witte
Für alle Fragen stehen Ihnen Irena Mitrega (wissenschaftliche Hilfskraft) und Anke Hennig zur Verfügung

 

 

Programm (als PDF)

 

Der Gegenstand der Gegenstandslosen

Das Projekt „Gegenstandslosigkeit als Herausforderung ästhetischer Erfahrung“ lädt ein zu der Frage, welche Rolle die avantgardistische Gegenstandslosigkeit bei der Wandlung im Begriff des Kunstgegenstands spielt. In der russischen Moderne, die zwischen Artefaktskepsis und Dingbegeisterung schwankt, treten die künstlerische Gegenstandslosigkeit (bespredmetnost’) auf der einen Seite und die Dingästhetik (veščizm) auf der anderen Seite in eine werkästhetische Dialektik ein: Mit der Befreiung des Werkes von gegenständlichen Bezügen und Referenzen verdinglichen sich zugleich sein Material und seine Konstruktion.

In den einzelnen Künsten (Literatur, bildender Kunst, Film und Theater) und in den kunstkritischen Diskursen werden Ding (vešč’) und Gegenstand (predmet) sehr verschieden beschrieben: Der Aufstand der Dinge beginnt im Futurismus, setzt sich im Resismus (resizm) bis zum konstruktivistischen Objekt fort und führt zu den absurden Dingen. Die Faszination, die das Ding auf die moderne Episteme ausübt, reicht von der phänomenologischen Hinwendung „zu den Dingen selbst“ bis zur Klage über das „verstorbene Ding an sich“ (C. Einstein). Das Gegenständliche wird einerseits als „abstrakter Sinn“ des Werkes (G. Špet) und andererseits als immaterielle „Sprache der Dinge“ (A. Gabričevskij) verstanden. „Das Ding ist der reale Gegenstand und der Gegenstand das ideale Ding“ - lautet die Formel Gustav Špets.

 

Solomon Nikritin, Allgemeines über die Dinge, 1928 RGALI-Moskau

In der Vielzahl der Kontexte offenbart sich eine die Avantgarden bestimmende Tendenz: Um die Spezifik des Kunstgegenstandes zu untersuchen, wird er in „Ding“ (vešč’) und „Gegenstand“ (predmet) gespalten. Einsetzend bei der Frage, wie weit diese Differenzqualität im ästhetischen Objekt von den historischen Avantgarden ausgereizt worden ist, soll deren systematische Konsequenz für den Begriff des Kunstgegenstandes beleuchtet werden.

„Nichts machen!“

In den an den Suprematismus anschließenden Richtungen einer metaphysischen Kunst brauchen sich die Schwundstufen des Artefaktes auf. So versammelt etwa Solomon Nikritin in seinem Traktat „Weltologie“ („Mirologija“, 1923) ein Arsenal weltumspannender Zeichen, deren Projektion er in seinem Manifest des „Projektionismus“ (Proekcionizm) im gleichen Jahr gefordert hatte. Er ging davon aus, dass erst die Kreativität des Betrachters das Projekt zu einem Ding verwirklicht. Nikritin praktizierte die Entfaltung des Dinges aus einer Einstellung (kadr) heraus im Projektionstheater (proekcionnyj teatr). Hier wird das Artefakt zugunsten seiner performativen Realisierung zurückgestellt. Künstlerische Produktion und theatralische Aktion erscheinen als gegenstandslose Performanz. Diese Tendenz, in der das Machen eines reinen Nichts zu reinem ‚Nichtsmachen’ wird, kulminiert in den Losungen der Literaturvereinigung der „Nichtsler“ („Ničevoki“), die da lauten: „Schreibt nichts! Lest nichts! Sagt nichts! Druckt nichts!“. Genau genommen, ist hier die Herstellung eines Kunstgegenstandes schon nicht mehr gestattet. Daraus ergibt sich die Frage, wie der Kunstcharakter der Erfahrung überhaupt zugänglich ist, wenn mit dem dementierten Gegenstand zugleich sein Artefakt schwindet und mit ihnen die beiden Grundlagen ästhetischer Erfahrbarkeit eliminiert sind?

Das dementierte Ding

Die entschiedene Ding- und Materialbegeisterung in den Avantgarden scheint der Gegenstandslosigkeit auf den ersten Blick entgegengesetzt. Mit dem Übergang von der Gegenstandslosigkeit zur Dingproduktion bleibt aber der ästhetische Imperativ erhalten, mit dem sich der Konstruktivist als Autor des Dings setzt. Der Konstruktivist, der auf das Werk verzichtet, um seinen künstlerischen Anspruch im realen Ding zu verwirklichen, ist jedoch bald der Verdinglichung der Produktion ausgesetzt. Der Kunstcharakter des Dinges geht in einen industriellen oder alltäglichen Gebrauchswert über. Das Dilemma der Dingästhetik verschärft sich von den Anfängen industriellen Designs in den Labor- und Werkstattdiskussionen der 20er Jahre bis in die anschließende Kulturgeschichte der sowjetischen Produktion zwischen industrieller Uniformität und kunstgewerblicher Folklore.

Die Aufgabe der Abstraktion

In einer radikalisierten Ungegenständlichkeit und in einer radikalisierten Dinglichkeit droht der Kunstcharakter der Werke zu verschwinden und sich in bloßen Zeichen und bloßen Dingen aufzulösen. In den historischen Avantgarden war die Abstraktion als Entblößung erschienen, mit deren Hilfe sogar die Nichtkunst als künstlerische Verfremdung erfahrbar war. Vor dem Hintergrund der Ununterscheidbarkeit von Kunst und Nichtkunst in den nachfolgenden totalitären Ästhetiken stellt sich jedoch die Frage, ob die Macht des Dementis, mit der Nichtkunst als Antikunst zur Kunst wird, zur Begründung der Abstraktion genügt. Minimalismus und Konzeptkunst haben die Abstraktion rehabilitiert. Jedoch zeigen sich mit dem Einmünden der Abstraktion in einen allgemeinen oder ‚generischen’ Kunstbegriff wiederum die Aporien einer Erfahrung des Begriffs (von Kunst ohne Kunstgegenstand). Es bleibt nach der Aufgabe der Abstraktion zu fragen.

Untersuchungsfelder

Gegenstand und Ding
  • Verfahren der Entgegenständlichung von der Abstraktion des bildimmanenten Gegenstandes (predmet) und einer Mimesis des Nichts bis zur Verdinglichung der Abs­traktion
  • Aspekte von Ding und Gegenstand in der die Avantgarde begleitenden Episteme der formalistischen Kunstwissenschaft und der russischen Philosophie der Moderne (A. Losev, G. Špet und die phänomenologische Schule, die materialistischen Diskussionen der 20er Jahre)
  • Debatten um die Bestimmung von „Ding“ (vešč) und „Gegenstand“ (predmet) in Suprematismus, Konstruktivismus, Faktographie, Produktionskunst, Projektionismus und Polyrealismus (Texte zur avantgardistischen Programmatik des Dinges sind im Projekt in einer Edition gesammelt worden.)
Die Ekstasen der Dinge:
  • des gemachten und des ungemachten Dinges,
  • der materiellen und metaphysischen Gegenstände
  • der Fundstücke und hermetischen Zeichen
  • der Relikte und musealen Objekte
Die Erfahrung der Dinge
  • Affektivität des Artefaktes vom Angebeteten bis zum Abjekten
  • Mediatisierung der Dinge zwischen Auferweckung und Animation
  • kunstformenspezifische Verhältnisse zum Gegenstand, im Kontext medialer Selbstreflexion der Künste


beteiligte Disziplinen

Slawistik, Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Filmwissenschaft, Musikwissenschaft, Philosophie

Programm
Ort: Habelschwerdter Allee 45 (Silberlaube), Raum KL 24/122d
Freitag, 17.11.2006
13 h Begrüßung
Anke Hennig / Georg Witte
13.15 h Einführung in den Workshop
Anke Hennig
Sektion I: Das Gesicht der Dinge
Moderation: Matthias Schwartz
13.30 h Hans Günther: Das Leben der Dinge – italienischer und russischer Futurismus
14.15 h Hubertus Gaßner: Tod und Wiederauferstehung der Dinge
15 h Julia Kursell: Stravinskij am Klavier
Kaffeepause
Sektion II: Das ästhetische Objekt zwischen Ding und Gegenstand
Moderation: Anke Hennig
16.15 h Aage A. Hansen Löve: Gegenstand, Ding, Ungegenständlichkeit, Verdinglichung
17 h Igor’ Čubarov: Das befreite Ding im Konflikt mit dem vergegenständlichten Bewusstsein. Zur Korrespondenz der Begriffe ‚Verfremdung’ und ‚Entfremdung’ (‚Entäußerung’) in der russischen literarischen Avantgarde
17.45 h Ilja Kukuj: Verwaltung der Dinge und Aufprall der Gegenstände: Problematik der Dinglichkeit in der Poetik der Gruppe OBĖRIU und der Philosophie der „Činari“
anschließend Abendessen mit unseren Gästen
Samstag, 18.11.2006
Sektion III: Vom Artefakt zur Faktographie
Moderation: Georg Witte
9 h Anke Hennig: Macht Nichts! Das Ding zwischen immaterialisierter Einstellung und entgegenständlichter Performanz
9.45 h Wolfgang Beilenhoff: Ding-Ekstasen. Überlegungen zu Sergej Ėjzenštejns „General’naja linija“
Kaffeepause
11 h Brigitte Obermayr: Der Gegenstand der Biographie (am Beispiel Vasilij Kamenskij)
11.45 h Rainer Grübel: Vom Werk zum Ding. Das Beispiel des Konstruktivisten Aleksej Čičerin
Mittagessen
Sektion IV: Die Avantgarden im Dialog
Moderation: Juliane Rebentisch
14 h Michael Wetzel: Das Ding der Fotografie : Bilder ohne Gegenstand
14.45 h Gregor Stemmrich: Der Gegenstand als Paradigma und Perspektive ästhetischer und gesellschaftlicher Produktion: Lissitzkys/Ėrenburgs Zeitschrift „Gegenstand“ (1922) und der Objektbegriff der amerikanischen Avantgarde
Kaffeepause
16 h Georg Witte: Die Verletzlichkeit der Dinge
16.45 h Michael Lüthy: Warhols Disaster-Diptychen. Das Dementi als Bildform

Zur Organisation des Workshops

Beiträge

Für die Beiträge sind jeweils 60 Minuten vorgesehen - 30 Minuten für den Vortrag selbst, sowie 30 Minuten für die anschließende Diskussion. Arbeitssprachen sind das Deutsche und das Russische. Bitte senden Sie uns Zusagen und vorläufige Titel bis zum 15.08.2006, die Exposés ihrer Beiträge bis zum 01.09.2006 zu.

Arbeitsmaterial/mittel

Bitte geben Sie uns mit der Übersendung ihres Exposés auch bekannt, ob Sie sich auf ein bestimmtes Kunstwerk oder einen bestimmten Text konzentrieren wollen und welche technischen/medialen Hilfsmittel Sie benötigen.

Ansprechpartner

Für alle Fragen stehen Ihnen Irena Mitrega (wissenschaftliche Hilfskraft) und Anke Hennig zur Verfügung. Telefon: 030/838-57416 bzw. 030/44039765; artefaktskepsis@gmx.de

Aus Mitteln des Sonderforschungsbereichs stehen Pauschalen zur Deckung von Reise- und Übernachtungskosten zur Verfügung.

Zeit & Ort

17.11.2006 - 18.11.2006

FU Berlin, Silberlaube, Habelschwerdter Allee 45, Raum KL24/122d