Teilprojekt A4. Fiktion als Zeitform. Grenzfiguren des Ästhetischen in der russischen Avantgarde
Leitung
Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen
Dr. Anke Hennig / Dr. Brigitte Obermayr
Studentische Hilfskräfte
Georg Dickmann / Roman Kowert / Eva-Luisa Murasov
Projektbeschreibung
In der ersten Laufzeit des Sfb untersuchte das TP A4 theoretische und literarische Programme von „Gegenstandslosigkeit“ in der russischen Moderne. Dieser antimimetische Grundimpuls wurde in der zweiten Laufzeit im Hinblick auf vielfältige Formen einer Fiktionsskepsis untersucht. Fiktion ist in den avantgardistischen Kunstentgrenzungsdiskursen negativ besetzt, als illusionistischer Gegenpol zu den Postulaten des „Faktums“ und des „Lebens“.
Während in der zweiten Förderperiode ontologische Verschiebungen und Entgrenzungen des Fiktionalen untersucht wurden, verschiebt sich die Perspektive des Teilprojekts nun auf die Frage nach den Faktoren, die Fiktion zu einer generischen Form ästhetischer Erfahrung machen. Gerade weil die ‚Zeitargumente’ der Fiktionsskepsis so insistierend waren – im Postulat politischer und sozialer Zeitgenossenschaft und Aktualität, in den Setzungen historischer Faktizität, in Theoremen des dialektischen Zeitsprungs oder Intervalls – sollen nun besonders die Zeitimplikationen der Fiktion identifiziert werden. Die Titelformulierung „Fiktion als Zeitform“ enthält eine doppelte Abgrenzung: Einerseits meldet sie Widerspruch an gegen eine emphatische Proklamation fiktionaler Zeitlosigkeit, die ausgerechnet die Erfahrungsform der „Vergegenwärtigung“ (Käte Hamburger) an eine Suspendierung historischer Zeitdifferenz bindet. Zugleich aber widerspricht die These von der „Fiktion als Zeitform“ dem Dogma einer nur unter der Bedingung des Fiktionsverzichts erfahrbaren Involvierung in historische und aktuelle Zeitverläufe. Das Teilprojekt gliedert sich in zwei Unterprojekte. UP1 untersucht die Beteiligung medialer Tempusstrukturen an der fiktionalen Verschiebung von Zeithorizonten. UP2 widmet sich dem historischen Erzählen und den damit verbundenen Modi des Urteilens, die zwischen Möglichkeitssinn und Wirklichkeitsreferenz changieren.
Unterprojekt 1: Die Zeitform der Fiktion im filmischen und literarischen Tempussystem
(Dr. Anke Hennig)
Narrative Fiktion schafft keine zweite Welt, sondern verschiebt unseren Bezug auf diese. Dabei operiert sie mit Deixis, der Praxis alltäglichen (sprachlichen oder filmischen) Zeigens, das jegliche Referenz an die Koordinaten Raum, Zeit und Person bindet, die von der Origo eines Ich-Hier-Jetzt abhängen. Mit dem Begriff des shifter (Jakobson), der am historischen Beginn der deictic shift theory steht, lässt sich ihre poetische Dimension ermessen, in der das avantgardistische Verfahren der Verschiebung (russ. sdvig) fortlebt. Das UP untersucht Fiktion in einer medienvergleichenden Perspektive als die Verschiebung von Zeithorizonten a) in der Entwicklung eines Zeitbildes im Film, b) der Zeitdramaturgie literarischer Szenarien (Drehbücher) im Übergang zwischen Film und Literatur und c) anhand der Eroberung des Präsens durch den Roman des 20. Jahrhunderts (in Koautorschaft mit Armen Avanessian, TP C9). Hinsichtlich der Untersuchung der narrativen Dimensionen des Präsensromans arbeiten die Projekte mit dem Zentrum für Erzählforschung (ZEF) zusammen.
Unterprojekt 2: Zum Beispiel Ivan. Urteilsmodi im historischen Erzählen
(Dr. Brigitte Obermayr, Prof. Dr. Georg Witte)
Ziel des Unterprojekts ist die Bestimmung von Urteilsmodi im historischen Erzählen und anhand desselben. Als Ausgangspunkt dient die fiktionstheoretische Debatte um die Wirklichkeitsreferenz der Aussage im historischen Erzählen. Wirklichkeitsreferenz wird als jener Parameter veranschlagt, an dem die Operativität des Fiktionalen im historischen Erzählen ermessbar wird. Unter dem Diktum der ‚zeitlosen Vergegenwärtigung’ (im Sinne Käte Hamburgers) wird diese Referenz fraglich. Gegen diese zeitlose, undatierbare und undatierte Vergegenwärtigung wird der Komplex von Beispiel und Urteil im historischen Erzählen aufgerollt. Es geht darum, die spezifische Wirklichkeitsreferenz des Urteils im Fiktionalen des historischen Erzählens zu untersuchen. Untersuchungsmaterial sind literarische und historiographische Darstellungen zu Zar Ivan Vasil’evič (Ivan IV, ‚Der Schreckliche‘, 1530-1584). Das Beispiel ‚Ivan der Schreckliche‘ gehört zu den am häufigsten aktualisierten historischen Topoi der russischen Kulturgeschichte – mit besonderer Urteilsbrisanz. Ivan IV steht für die innen- wie außenpolitische Konsolidierung des Moskauer Reichs ebenso wie für machtstrategischen Terror.