2018. Im Zeichen der Zeit – Ruinenästhetik als künstlerisches Ausdrucksmittel und kreative Positionierung. Ein transkultureller Vergleich.
Von Cília Jonda
Ruinen. Was wären selbst Europas Metropolen und Landstriche ohne sie? Ob historische Burgruine oder moderne Bauruine – sie erscheinen als etwas Ambivalentes. Sie vereinen Intaktheit und Zerfall, Künstliches und Natürliches. An ihnen lässt sich die Zeit ablesen, sie erinnern an Perioden von Krieg oder Frieden, an Überfluss oder Mangel. Sie verbinden die Vergangenheit mit der Gegenwart und stimulieren Empfindungen wie Melancholie oder Nostalgie. Stendhal bemerkte seinerzeit über das römische Kolosseum, dass es „heute, wo es in Trümmer fällt vielleicht schöner [ist], als in den Tagen seines höchsten Glanzes. Damals war es nur ein Theater […]“1, womit die besondere Ästhetik und seine Faszination verfallener Bauten deutlich wird. Der Zerfall macht solche Architekturen für ihren ursprünglichen Gebrauch nutzlos und doch ist es der Zerfall, der ihnen erst die besondere Ästhetik verleiht.2 Ruinen ziehen sich als Motiv konstant durch die europäische Kunstgeschichte und Literatur: seit der frühen Neuzeit verweisen Ruinen auf Vergangenes, wie das Alte Testament, oder verbildlichen die Sehnsucht nach dem ideellen Arkadien. Im Barock oder der Romantik symbolisieren sie die irdische Vergänglichkeit.3
Beim ehemaligen Justizpalast Dakars, der bereits 2016 als zentraler Ausstellungsort der Dak'Art fungierte, handelt es um einen Bau aus den 1950er Jahren, der Mitte der 2000er geräumt und sich selbst überlassen wurde. Unzählige Fotografien dokumentieren die große Aufräumaktion vor der letzten Ausgabe der Kunstbiennale, die Simon Njami kuratierte. „Some said it was haunted, there were spirits. There were probably some snakes […]“, berichtet Njami nach der Eröffnung und ergänzt: „I wanted to create a mystery or miracle out of something that was there […]. And by reopening it, it became a kind of miracle for people passing in front of it.“4 Das erwähnte „Wunder“ rührt gewissermaßen an der historischen Bedeutung des Komplexes. Hier standen große Kontrahenten des umstrittenen Präsidenten Léopold Senghor vor Gericht, es wurden neben Geburtsurkunden auch Führerscheine ausgestellt und in den Untergeschossen waren politisch Andersdenkende inhaftiert. Die judikative Ruine verwandelte sich 2016 in einen Ort des kulturellen Austauschs, der kreativen Entfaltung und der künstlerischen Statements zu philosophischen, sozialen sowie politischen Themen. Während Unrat und Akten entfernt wurden, behielt das Gemäuer seinen maroden Zustand bis heute.
Abb.1: Vorplatz des Ancien Palais de Justice 2018. Foto: Luise von Bresinski.
Im Mai 2018 lud Senegals Hauptstadt zum 13ten Mal zur Biennale für zeitgenössische afrikanische Kunst ein, deren Konzeption abermals Njami übernahm. 'L'heure rouge – une novelle humanité' wurde zum Titel der Hauptausstellung der Dak'Art, die wieder im ruinösen Justizpalast ausgerichtet wurde. Durch die Umnutzung verlor der einst Ehrfurcht gebietende Komplex an seiner Wirkung. Bis auf die Architektur einiger Gerichtssäle, deutet nur noch wenig auf die ursprüngliche Funktion des Ensembles. Das Alte und Neue treten als harmonische Einheit hervor, denn keines schließt das Andere aus. Auch in der olfaktorischen Erfahrung scheinen Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verschmelzen: Der Duft von partiell intakten Holzvertäfelungen und Balustraden verbinden sich mit dem Geruch modernder Möbel und Akten, die sich über Jahrzehnte in der Ruine befanden. Hinzu kommen das salzige Aroma des Meeres, das durch die brüchigen Fassaden strömt, sowie der Duft frisch gestrichener Stellwände als ständige Begleiter. Zeit, ihre Konsequenzen aus der Vergangenheit und ihr zukünftiger Nutzen erscheinen als inoffizielle Themen der Dak'Art 2018.
Dass eine Ruine nicht nur als Ausstellungsort, sondern ebenso als ästhetisches Mittel genutzt werden kann, beweist die marokkanisch-französische Künstlerin Yasmina Alaoui, die 1977 in New York geboren wurde. Ihre künstlerische Karriere begann in Paris, wo sie am Caroussel du Louvre Bildhauerei studierte, bevor sie sich in New York dem Film und schließlich der Installation zuwandte. Bekanntheit erlangte Alaoui durch eine Reihe multimedialer Arbeiten, in denen sie Fotografie mit Malerei, Zeichnung und andere Techniken verband.5 Seit einiger Zeit widmet sie sich größeren Formaten, in denen sie hauptsächlich Malerei und Bildhauerei kombiniert.
Der Aspekt der Zerstörung, der für sie kein Ende, sondern ein Anfang darstellt, sowie orientalische Formen und Motive kehren dabei stets wieder, die sie selbst als „part of my identity, my culture, my DNA“6 bezeichnet. Ornamentale Muster, wie man sie aus der traditionellen Zellij-Kachelkunst7 des Maghreb oder aus einigen Städten Andalusiens kennt, bilden dabei oft den Untergrund ihrer Bildwerke. Darauf folgen verschiedene Materialien, wie Knochen, Geröll oder Salz, die sie in der umliegenden Wüste ihres Ateliers in Marrakesch aufliest und mit Pigmenten, Gips und anderen Bindemitteln auf der Oberfläche fixiert. Durch den Wechsel von positiven und negativen Abdrücken architektonischer Bruchstücke, konstruiert Alaoui dreidimensionale, ruinöse Landschaften, die an archäologische Ausgrabungsstätten oder an apokalyptische Szenen erinnern.
Im Ancien Palais de Justice waren ihre Arbeiten im Hinterraum eines der großen Gerichtssäle ausgestellt. An einer Stirnwand erstreckte sich auf fünf Holzpaneelen 'Untitled – 5 panel Gold #2' von 2018. Während das Ornament und der aufgetragene Kies in Erdtönen gehalten sind, wählte die Künstlerin für den dreidimensionalen Teil der Arbeit feines weißes Salz. Wie eine Landzunge überzieht das Gebilde aus Gips und Salz das Polyptychon und lässt hier und da orientalische Architekturfragmente erkennen. Teile von Zinnen und Türmen, Rund- und Spitzbögen sowie von komplexen, reliefartigen Mosaiken erscheinen wie von einem Sandsturm freigelegt und verteilen sich über die Fläche. Die Integration archaischer Motive zeigen die stetige Beschäftigung der Künstlerin mit ihrer Vergangenheit gleichzeitig: „[i]t also creates a ground layer of mysticism for future generations to figure out the past.“8 Die Ruinen nehmen dabei eine besondere Stellung ein. Sie sind einerseits Spuren vergangener Zeiten, an denen die Gegenwart weiterhin ihre Vergänglichkeit ablesen kann. Andererseits stellt die Ruine ein essentielles Konzept in der vorislamischen Poesie dar, die meist zu Beginn des Gedichts Erwähnung findet und als „al-waqfa 'ala al-atlal“ (zu dt. „an den Ruinen stehen“) bekannt ist. Die Ruine allegorisiert demnach die Trümmer verflossener Liebe und die Spur, die sie im Leben des Dichters hinterlassen hat.9 Somit greift Alaoui in ihrem Werk nicht nur die sozial-historische Bedeutung der Ruine auf, sondern bezieht sich darüber hinaus auf einen kulturell wichtigen Bestandteil der arabischen, und somit auch ihrer eigenen Identität. Die Ruine wird einerseits als Erinnerungsträger gewürdigt, während sie durch die komplexen Ornamente und in Kombination mit dem Zellij-Mosaik andererseits das künstlerische sowie wissenschaftliche Erbe der islamischen Kultur erhöht.
Abb.2: Yasmina Alaoui: Untitled – 5 panel Gold #2, 2018, Acrylfarbe, Gips, Kies und Salz auf Holz, 188 x 430 x 10 cm. Seitenansicht. Foto: Cília Jonda.
Abb.3: Yasmina Alaoui: Untitled – 5 panel Gold #2, 2018. Detail. Foto: Cília Jonda.
Schräg gegenüber an der Stirnwand hängt das Triptychon „Untitled – 3 panel salt & bones #1“, ebenfalls von 2018. Anders als in „Untitled – 5“ verzichtete Alaoui hier auf ein farbiges Ornament als Basis der Komposition. Ein hellkristallines Salz-Gips-Gemisch überzieht uneben das fragmentierte Werk, aus dem hie und da versilberte Tierknochen hervortreten. Partiell ist ein in Grau- und Weißtönen gehaltenes florales Muster als Untergrund zu erkennen. Schemenhaft erheben sich auch einzelne architektonische Bruchstücke, die jedoch im Angesicht der Knochen zurücktreten und kaum erkennbar sind.
Während Verfall und Vergänglichkeit in „Untitled – 5“ durch die Ruinen thematisiert werden, überspitzt Alaoui in diesem Werk das Vanitas-Motiv durch die Zugabe der Tierknochen. Man bekommt das Gefühl von oben auf eine zerklüftete, post-apokalyptische Landschaft zu blicken, in der Mensch und Tier Beweise ihrer Existenz hinterließen. Jedes Wesen, jede Kultur ist vergänglich und unwiederbringlich, und doch können die darauffolgenden Generationen aus dem Untergang der Ahnen lernen. In der Natur geschieht dies bestenfalls durch die Evolution, während dem Menschen zusätzlich sein Verstand bleibt, den es richtig einzusetzen gilt. Und wie soll ein großer Astronom so treffend bemerkt haben? "Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“10
Abb.4: Yasmina Alaoui: Untitled – 3 panel salt & bones, 2018, Acrylfarbe, Gips, Knochen, Styropor, Kohle, Silberpapier und Salz auf Holz, 183cm x 252cm x 25cm. Foto: Cília Jonda.
Abb.5: Yasmina Alaoui: Untitled – 3 panel salt & bones, 2018, Detail. Foto: Cília Jonda.
Auch im Stadtbild Dakars blieben für mich vor allem die Bauruinen nicht unbemerkt, wobei mir allerdings der differenzierte Umgang mit ihnen auffiel. Während in europäischen Großstädten so gut wie keine Bauruinen bewohnt werden, wirken die unfertigen Gebäude Dakars nicht wirklich verlassen und auch nicht wirklich unfertig. Kinder und Tiere tummeln sich vor den Häusern, während der Duft gekochten Essens hinausweht. Wäscheleinen spannen sich zwischen den Balkonen und ein Farbenmeer verschiedener Blumen ziert die Szenerie. Einige Erdgeschosse beherbergten Werkstätten, Schneidereien oder dienten als Ausstellungsraum. Manchmal waren die Gebäude teilweise belebt und lediglich das Parterre oder die oberen Stockwerke verlassen. Bei einigen maroden Häusern war man sich nicht sicher, ob sie tatsächlich leer standen oder ob sich die Bewohnerinnen und Bewohner nur gekonnt in ihnen verbargen. Ich lernte schnell, dass das Äußere keine Auskunft über das Innere geben muss.
Abb.6: Gebäude mit Ausstellungsfläche der Dak'Art Off im EG. Zwischen Biscuterie und HLM. Foto: Cília Jonda.
Auf der Insel Gorée verhielt es sich anders, denn dort standen wahrhafte Ruinen. Die Relikte aus der französischen Kolonialzeit dienten jedoch vor allem den Straßenkatzen als Rückzugsort. In Anbetracht des kolonialen Traumas, das sich durch viele afrikanische Gesellschaften zieht, ist das fehlende Interesse, koloniale Gebäude zu erhalten, äußerst nachvollziehbar. Und dennoch führt eben dieses Desinteresse zu skurrilen Formationen im Stadtbild, die ebenfalls zum individuellen Charakter Dakars beitragen.
Abb.7: Freistehende Treppe auf der Insel Gorée, im Hintergrund das Panorama Dakars. Foto: Cília Jonda.
Die Berliner „Wiesenburg“ im Stadtteil Wedding soll hier als europäisches Beispiel für die Attraktion der Ruine als Ausstellungsort kurz Erwähnung finden. Seit einigen Jahren wird die charmante Ruine aus dem späten 19. Jahrhundert regelmäßig als Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst genutzt. Darüber hinaus beherbergt ein Teil der Wiesenburg Künstlerateliers und Werkstätten. Im Februar 2011 organisierten die Künstler und Kuratoren Matthias Mayer und Hervé Humbert in der Ruine des ehemaligen Obdachlosenheims an der Panke die Ausstellung „Ruine“. Insgesamt waren 26 Künstlerinnen und Künstler mit Werken vertreten, darunter auch die Organisatoren. Auf die Frage, wieso ausgerechnet eine Ruine als Ausstellungsort gewählt wurde, antwortete Mayer, sie wollten etwas Neues wagen, weg von dem überholten „white cube“. „Deswegen erschien uns es genau passend mitten im Winter im Freien – in einem morbiden Gebäude ohne Dach – was zu machen, also die Kunst aus ihren gesicherten, behüteten und geschützten Verhältnissen herauszuholen.“ Durch die räumliche Struktur, die der Ort als Ruine bot, konnte einerseits auf lokale Bezüge eingegangen werden. Andererseits war der Ort durch seine historische Aufladung „ideal zur thematischen sowie inhaltlichen Auseinandersetzung.“11
Abb.8: Ausstellung „Ruine“ 2011. Installation und Foto: Matthias Mayer.
Ähnlich den Beweggründen Simon Njamis gibt also einerseits der gebotene Raum als Ausstellungsfläche neue Möglichkeiten der Präsentation, die gar als Herausforderung angesehen werden können. Andererseits erscheint das Potential der Ruine mit ausstellungsüblichen Konventionen zu brechen, ebenfalls als ein wichtiger Faktor für die Berücksichtigung architektonischer Überreste im Kunstbetrieb. Es ist vor allem der Vergangenheitsbezug, das Spiel der Gegensätze und die mehrdeutige Symbolik, die die Faszination und ambivalente Ästhetik der Ruine ausmacht und verschiedene Kunstschaffende dazu inspiriert, sie für sich nutzbar zu machen. Als künstlerisches Ausdrucksmittel und kreative Positionierung, ob in Dakar oder Berlin.
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Bibliografie:
1 Stendhal, zit. nach Böhme 1989, S. 287.
2 Vgl. Böhme 1989, S. 287.
3 Vgl. Kretschmer 2011, S. 350f.
4 Njami 2016, zit. nach Gaestel 2016.
5 Vgl. Dylan/Gaillard 2017, S. 5. ('Alaoui Cat.')
6 Vgl. Alaoui 2017, S.9. ('Alaoui Cat.')
7 Vgl. Rosenberg 2017, S. 6. ('Alaoui Cat.')
8 Alaoui 2017, S. 9.
9 Vgl. Abu Ata/Al-Omari 2017, S. 1.
10 Unbekannter Autor; lange galt Einstein als Urheber, was mittlerweile jedoch bezweifelt wird. (Vgl. Drösser 2017.)
11 Mayer im Interview am 12.09.2018.
Abu Ata, Belal/Al-Omari, Asma: A Rule-Based Algorithm for the Detection of Arud Meter in Classical Arabic Poetry, in: www.researchgate.net/profile/Belal_Abuata/publication/298199192_A_Rule-Based_Algorithm_for_the_Detection_of_Arud_Meter_in_Classical_Arabic_Poetry/links/5790817108ae64311c0ff2fd/A-Rule-Based-Algorithm-for-the-Detection-of-Arud-Meter-in-Classical-Arabic-Poetry.pdf (zuletzt aufgerufen: 14.09.2018)
Alaoui, Yasmina: Interview, in: Sediments, Ausst.-Kat., Dubai: Opera Gallery 2017, S. 8-10.
Böhme, Hartmut: Die Ästhetik der Ruinen, in: Kamper, D./Wulf, Chr. (Hrsg.): Der Schein des Schönen, Göttingen: Steigl Verlag 1989, S. 287-304.
Drösser, Christoph: Hat Einstein gesagt, die menschliche Dummheit sei unendlich? Eine Kolumne, in: www.zeit.de/2017/42/albert-einstein-dummheit-menschheit-stimmts (zuletzt aufgerufen: 14.09.2018).
Dylan, Gilles/Gaillard, Sylvain: Preface, in: Sediments, Ausst.-Kat., Dubai: Opera Gallery 2017, S. 5.
Gaestel, Allyn, in: www.nataal.com/dakart-2016 (zuletzt aufgerufen: 14.09.2018)
Kretschmer, Hildegard: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst. Stuttgart: Reclam Sachbuch 2011.
Rosenberg, David: Sediments – Time and Memory according to Yasmina Alaoui, in: Sediments, Ausst.-Kat., Dubai: Opera Gallery 2017, S. 6.
Abbildungen:
Abb.1: Vorplatz des Ancien Palais de Justice 2018. Foto: Luise von Bresinski.
Abb.2: Yasmina Alaoui: Untitled – 5 panel Gold #2, 2018, Acrylfarbe, Gips, Kies und Salz auf Holz, 188 x 430 x 10 cm. Seitenansicht. Foto: Cilia Jonda
Abb.3: Yasmina Alaoui: Untitled – 5 panel Gold #2, 2018. Detail. Foto: Cilia Jonda.
Abb.4: Yasmina Alaoui: Untitled – 3 panel salt & bones, 2018, Acrylfarbe, Gips, Knochen, Styropor, Kohle, Silberpapier und Salz auf Holz, 183cm x 252cm x 25cm. Foto: Cilia Jonda.
Abb.5: Yasmina Alaoui: Untitled – 3 panel salt & bones, 2018, Detail. Foto: Cilia Jonda
Abb.6: Gebäude mit Ausstellungsfläche der Dak'Art Off im EG. Zwischen Biscuterie und HLM. Foto: Cilia Jonda.
Abb.7: Freistehende Treppe auf der Insel Gorée, im Hintergrund das Panorama Dakars. Foto: Cilia Jonda.
Abb.8: Ausstellung „Ruine“ 2011. Installation und Foto: Matthias Mayer.