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Jüdische Tradition im Spiegel christlicher Hebraistik

Einige der Erfurter Manuskripte weisen Orientierungshilfen für christliche Leser auf: in der großen Bibelhandschrift Ms. or. fol. 1210/1211 ragen am Beginn der biblischen Bücher Papierstreifen mit den entsprechenden Namen aus dem Manuskript heraus. In der Masora (Ms. or. fol. 1219) sind mit einer schwarzen Tinte die lateinischen Namen der biblischen Bücher, mit römischen Ziffern die Kapitel und mit arabischen Ziffern die Verszahlen notiert. Die Bibelhandschrift 1213 weist am Anfang des Buches Genesis Kapitelangaben durch römische Ziffern auf. In der Raschi-Handschrift Ms. or. 1222 sind mit roter Tinte die Kapitel 3–18 markiert.

Die zahlreichsten Rezeptionsspuren sind jedoch in der Bibelhandschrift Ms. or. fol. 1212 zu finden. Der ambivalente Charakter dieser unterschiedlich motivierten Anmerkungen verschiedener Hände kann bereits in der Gestaltung des Einbandes der großen Bibelhandschrift nachvollzogen werden. Der Einband der Bibelhandschrift besteht aus einem Holzdeckel, der mit einem hellen Schweinsleder bezogen ist. An den Ecken und in der Mitte des Vorderdeckels befinden sich ornamentale Metallbeschläge mit Buckel sowie zwei Metallschließen mit Lederscharnieren. Die figürlichen Prägungen in dem hellen Leder sind stark abgerieben und nur noch schwer zu erkennen. Es finden sich kleine Medaillons mit Portraits und florales Rankenwerk ebenso wie verschiedene leistenförmig untereinander angeordnete Miniaturprägungen mit Bildunterschriften. Insbesondere die Motive der offensichtlich figürlichen Prägungen und deren textliche Elemente scheinen von großem Interesse, doch – abgesehen von einigen wenigen Einzelbuchstaben – ist es kaum möglich, etwas Konkretes zu erkennen. 

Erst im Vergleich mit anderen Einbänden der frühen Neuzeit wird klar, dass es sich bei einer der Miniaturen um ein beliebtes Kreuzigungsmotiv handeln muss und die schemenhaften Buchstaben „Ag“, die mit etwas Phantasie noch zu erkennen sind, dem „Agnus Dei Qui Tollit Peccata Mundi“, dem „Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt“ angehören. In der Hallenser Marienbibliothek ist ein Manuskript naturwissenschaftlichen Inhalts mit beinahe dem gleichen, jedoch sehr gut erhaltenen, Einband aufbewahrt. Auf Grundlage dieses Fundes kann nicht nur das Kreuzigungsmotiv bestätigt werden; auch alle weiteren Prägungen auf dem Einband der Erfurter Bibelhandschrift lassen sich so rekonstruieren: Mariae Verkündigung mit der Unterschrift: Ecce virgo concipiet et pariet filium, die Taufe Christi mit Hic est filius meus dilectusund das Motiv der Auferstehung Christi mit der Bildunterschrift Mors ero mors tua o mors ero

Auch die einfachen Holzdeckel der Bibelhandschrift 1213 sind – allerdings nur zum Teil – mit eben diesem hellen Leder mit Blinddruck bezogen. Genauso wie die beiden großen Kasteneinbände der sogenannten „Erfurt 1“, die am Rücken und einem Teil des Vorderdeckels die floralen Rankmuster und Medaillons mit Portraits aufweisen. In das helle Leder der beiden riesigen Kasteneinbände ist mit dunkler Farbe die Zahl 1590 eingeprägt. Hierbei handelt es sich sehr wahrscheinlich um das Jahr der Restauration, nicht nur der alten Kasteneinbände, deren Bestandteile zum Teil noch den originalen mittelalterlichen Einbänden angehören, sondern auch der Foliohandschriften 1212 und 1213.

Aus dem Jahr 1590 sind in Erfurt verschiedene Buchbinder bezeugt,[1] von denen insbesondere Georg Kirsten als Hersteller der vier Einbände in Frage kommt. Der Buchbinder Kirsten war 1596 ein Gründungsmitglied der Erfurter Buchbinderinnung, doch band schon seit 1564 für die Stadt Erfurt.[2] Unter seinen Arbeiten befindet sich auch das im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bildprogramm so beliebte Motiv der Kreuzigung Christi. Konrad Haebler berichtet in seiner Studie zu Rollen- und Plattenstempelu.a. von einem mit G[eorg] K[irsten] gekennzeichneten Plattenstempel mit Kruzifixus und der Unterschrift „Ecce Agnus Dei“ usw. sowie einem Rollenstempel, der Köpfe, Blattwerk und einen Engelskopf abbildet – d.h. Motive, die auch auf unseren Erfurter Einbänden zu sehen sind.[3]

In Adolf Rheins Abhandlung zur Erfurter Buchbinderei aus dem Jahre 1937 befindet sich auf Seite 32– leider ohne exakte Quellenangabe – darüber hinaus die Abbildung eines Einbandes von Kirsten aus dem Jahre 1580, der exakt die gleichen floralen Stempelmuster und figürlichen Miniaturen aufweist. Georg Kirsten kann demensprechend sehr wahrscheinlich als Restaurator und Binder der 1590 hergestellten Einbände der hebräischen Bibeln betrachtet werden. Aus der Perspektive der Jüdischen Studien verursacht eine hebräische Bibel in Schweinsleder mit Christusmotiven gebunden ein gewisses Unbehagen. Der Buchbinder Kirsten sah darin sicherlich kein Problem oder gar einen bewussten Akt der Vereinnahmung jüdischer Tradition. Dennoch: diese Einbände machen auf bildhafte Weise sehr deutlich, dass die sogenannte „Erfurter Handschriftensammlung“ während ihrer Geschichte in christlichen Bibliotheken – im wahrsten Sinne des Wortes – einen Stempel aufgedrückt bekam. In Form zahlloser lateinischer und deutscher Glossen, Transliterationen und Übersetzungshilfen verschiedener Rezipienten bezeugen diese Handschriften einen Kulturtransfer jüdischer Traditionsliteratur in das humanistisch geprägte Erfurt der frühen Neuzeit. Die unterschiedlichen Denk- und vor allem Lernansätze, die in diesen Rezeptionsspuren zum Ausdruck kommen, sollen im Folgenden vorzugsweise anhand der Bibelhandschrift 1212 vorgestellt und vor dem Hintergrund der in Erfurt aufblühenden christlichen Hebraistik mit ihrer Forderung „ad fontes“ diskutiert werden. 

 

Übersetzungshilfen vom Hebräischen und Aramäischen ins Lateinische

Den Anfang sollen Übersetzungshilfen vom Hebräischen und – noch viel zahlreicher – vom Aramäischen ins Lateinische machen, die über und neben dem biblischen Text bzw. dem Targum notiert sind. Auf diesem Bild ist der Anfang des ersten Kapitels von Genesis mit u.a. zwei stark verblassten lateinischen Händen zu sehen. Eine Hand beschäftigt sich mit der Übersetzung des Hebräischen Textes und schreibt über einige Wörter bzw. Wortgruppen eine lateinische Übersetzung. So steht über dem Hebräischen we-ruach das lateinische „spiritus“. Gut lesbar steht fiat lux über dem Hebräischen jehi ’or. Über wa-jiqra Elohim la-’or sieht man das lateinische appelavitque lucem; das Hebräische jehi raqia ist mit fiat firmamentum überschrieben. Die Hand, die sich immer an der Vulgata orientiert, versiegt an dieser Stelle auch schon wieder und taucht später nur sporadisch immer mal wieder auf. 

 Systematischer arbeitet die zweite Hand, die sich beinahe ausschließlich dem Targum Onkelos widmet und mit hunderten Übersetzungshilfen versieht. Diese Hand lässt sich etwa bis zum Meerlied beobachten. Hier ein paar Beispiele: Das zarja we-rekanja vor dem ersten Schöpfungstag ist mit dem Lateinischen inanis (et) vacuaüberschrieben. Nehora ist mit luxgekennzeichnet. Diese Wörter können rein theoretisch natürlich leicht mit Hilfe der Vulgata nachvollzogen werden, doch Varianten im aramäischen Targum wie beispielsweise fares statt merachefet übersetzt dieser Rezipient nicht einfach mit der Vulgata durch ferebatur – der Geist Gottes ist getragenüber den Wassern – sondern vielmehr mit dem aramäischen Text als expansum – der Geist Gottes breitete sich ausüber den Wassern. Kodam übersetzt er mit antebimzi‘ut mit in mediomilra mit ab inferior;tinjainmit secundus. Es geht weiter mit jitkanschun und congregentur = versammelt werden; le-atra mit locum; jabäschta mit arida= trocken. Diese Beispiele können in großer Zahl so bis zum Meerlied fortgeführt werden, wobei ein großes Interesse dieses Übersetzers am Sündenfall zu bemerken ist, da sich hier die Eintragungen verdichten und danach wieder nur sporadisch den ein oder anderen Satz sprachlich auseinandernehmen. 

 Versucht man nun ein Profil dieser beiden Schreiber zu erstellen, können dem Glossator des hebräischen Textes nur rudimentäre Kenntnisse zugebilligt werden, die er durch die Vulgata, die ganz sicher auf seinem Schreibtisch direkt neben der Erfurter Bibel lag, zu kompensieren suchte. Die zweite Hand ist interessanter, da sie sich über eine lange Strecke selbstständig dem aramäischen Targum zuwendet. Aus der Tatsache, dass auch aramäische Wörter übersetzt werden, die nicht aus dem Hebräischen abgeleitet werden können, kann man schließen, dass er ein aramäisch-lateinisches Wörterbuch verwendete. 

 Dazu muss bemerkt werden, dass selbst Hebräischkenntnisse in christlichen Kreisen von patristischer Zeit an die Ausnahme geworden waren. Die Hebräische Bibel ist noch während des Mittelalters von einigen Gelehrten immer wieder in die Argumentation theologischer Exegese auf einem hohen Sprachniveau herangezogen worden, doch Aramäischkenntnisse sind auf diesem Level erst im 16. Jahrhundert anzutreffen – auch wenn die Targumim durchaus von einigen christlichen Gelehrten des Mittelalters wahrgenommen wurden: beispielsweise von dem Franziskaner Roger Bacon oder Nikolaus von Lyra. Die Motivation, sich mit den Targumim auseinanderzusetzen, speiste sich vor allem aus apologetischen und polemischen Interessen – Die Varianten des Targum konnten messianische Interpretationen bestimmter Verse unterstützen und den Juden in Zwangsdisputationen vorgehalten werden. Auf diese mittelalterlichen Übersetzungsschulen im Geiste der Mission wird noch zurückzukommen sein.[4]

Die Wichtigkeit der Targumim für das Studium des biblischen Textes, seiner Geschichte und für die Interpretation wurde jedoch erst durch die multilingualen Bibeleditionen der Renaissance ins Zentrum des theologischen Bewusstseins gerufen. Manche dieser polyglotten Bibeln beinhalteten bereits ein hebräisch-aramäisches Wörterbuch, wie beispielsweise die Bibel des Cardinals Jimenez de Cisneros. Mit der Reformation und der protestantischen Idee sola scriptura– allein durch die Schrift –, gewann das humanistische Interesse an originalen Texten nicht nur mit Blick auf den hebräischen Bibeltext, sondern auch hinsichtlich seiner aramäischen Varianten weiter an Gewicht. Dafür waren Grammatiken und Wörterbücher notwendig. In Italien erschienen Anfang des 16. Jahrhunderts die ersten Aramäisch Wörterbücher im Druck. Beispielsweise von Elija Levita. In den alten Beständen der Erfurter Universitätsbibliothek und der Bibliothek des Evangelischen Ministeriums sind Johannes Reuchlins Arbeiten zur hebräischen Sprache, Sebastian Münster und Johannes Buxtorf der ältere und jüngere zu finden. Sebastian Münsters Aramäisch-Wörterbuch – das Dictionarium Chaldaicum – wurde 1527 gedruckt. Das Lexicon Chaldaicum, Talmudicum et Rabbinicumder beiden Buxtorfs erschien 1639 und umfasst neben den Targumim auch andere nachbiblische aramäische Sprachzeugnisse in beeindruckender Breite. Die Erfurter Universität erlebte im Zeitalter des Humanismus und der Reformationszeit ihre höchste Blütezeit, da sie offen für die neuen sprachwissenschaftlichen Studien war. Ihr berühmtester Student, Martin Luther, empfahl „wer gut studieren will, der gehe nach Erfurt“. Seit 1500 bildete sich um den Philologen Nikolaus Marschalk in Erfurt ein Humanistenkreis, der die antike Literatur und die „Ursprachen“ Latein, Griechisch und Hebräisch in Lehrveranstaltungen und mit einer eigenen Druckerei verbreitete. Später waren es die Erfurter Humanisten Mutianus Rufus und Eobanus Hessus, um die sich im „Haus zur Engelsburg“ ein Kreis bildete, der befeuert durch eine humanistische Universitätsreform vermehrte Sprachstudien anstieß. Die Universität Jena bot bereits 1601 erste Aramäisch-Kurse an.[5]

Sicherlich ist es auch kein Zufall, dass die sagenumwobenen Dunkelmännerbriefe, in denen Johannes Reuchlins Einsatz für den Erhalt hebräischer Literatur verteidigt und die erstarrte Kirche dem Spott preisgegeben wurde, von dem Erfurter Humanistenkreis initiiert wurde. Ausgangspunkt der bis zu Papst Leo X. gelangten öffentlichen Diskussion, „ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll“ war eine Expertise, die Kaiser Maximilian von den Universitäten zu Köln, Mainz, Erfurt und Heidelberg und drei Gelehrten, darunter Reuchlin als Kenner der jüdischen Schriften, einholen ließ.Das einzig abweichende Gutachten stammt von Reuchlin, das ein für die Zeit ungewöhnliches Zeugnis für den tiefen Respekt eines christlichen Gelehrten vor jüdischer Tradition und Religionsphilosophie ist. Gut humanistisch argumentiert Reuchlin gegen jenen Diskurs, der die Juden als rechtlose Herrschaftssubjekte definierte. Er verweist auf die Grundlagen des Römischen Rechts, wonach die jüdische Minderheit, als anerkannte Mitbürger Anspruch auf kaiserlichen Rechtsschutz haben, der die körperliche Unversehrtheit, die Sicherheit des Eigentums sowie die freie Religionsausübung umfasste. Das war neu in dieser Zeit! Reuchlin war der wichtigste Wegbereiter der neuen Übersetzungsbewegung in Deutschland. Der Humanist und Großonkel Melanchthons hat in Deutschland nicht nur die Tore für das Studium der Griechischen Sprache aufgestoßen, sondern war maßgeblich an der Wiederentdeckung des Hebräischen in christlichen Kreisen beteiligt. Er war der erste christliche Gelehrte, der eine hebräische Grammatik mit Wörterbuch als Einführung in diese Sprache für Nicht-Juden in dieser umfassenden Form verfasst und im Jahre 1506 herausgegeben hat. Reuchlin betont in seinen Schriften die sprachliche Vermitteltheit der biblischen Offenbarung und fordert ganz klar eine Theologie, der philologische Textkritik vorauszugehen hat. Das heißt aber auch, dass gegebenenfalls autoritativ fixierte Überlieferungen zugunsten besser begründeter Lesarten korrigiert werden sollten. Aus Erfurt erhielt Reuchlin größte Unterstützung. 

 Das war – verkürzt dargestellt – die geistige Atmosphäre, in der die Glossen in den hebräischen Handschriften entstanden sind. Diesen Exkurs soll ein Blick auf das Altarwerk der Erfurter Kaufmannskirche beschließen, das im Jahre 1625 entstanden ist und diese humanistisch-protestantische Grundstimmung im Erfurt des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts in einem Bild verdichtet. Auf der Predella dieses Altars ist eine Inschrift mit den Einsetzungsworten des Abendmahls in fünf verschiedenen Sprachen zu sehen: hebräisch, syrisch, griechisch latein und deutsch: Dies ist mein Leib – Dies ist mein Blut Diese Inschrift ist entstanden als der Erfurter Lehrstuhl für hebräische Sprache noch mit einer Pfarrstelle an eben dieser evangelischen Kaufmannskirche verbunden war. Beide Ämter hatte seit 1590 (das Pfarramt 1592) Modestinus Wedmann inne, der aus seiner Begeisterung an Quellensprachen offensichtlich keinen Hehl machte.[6]

 

Transliterationen und Übersetzung ins Deutsche

Eine deutsche Hand übt sich in der Aussprache und Übersetzung des hebräischen Bibeltextes Genesis 18,5 – 19,16, wo drei Gesandte Gottes Abraham und Sara einen Besuch abstatteten, die Geburt Isaaks vorhersagten und sich gegen Sodom und Gomorra wandten, um es wegen seiner Sünden zu zerstören. Neben der Übersetzung einiger Worte und Satzfetzen notiert diese Hand auch die Transliteration ausgesuchter Wörter des Hebräischen. Anders dargestellt finden sich beispielsweise für Vers 18,5 folgende Lesestützen neben und direkt über dem Text: kursiv gesetzt sind die Transliterationen, die neben den Kolumnen mit Übersetzung notiert sind. Wenn man die Bausteine zusammensetzt, ergibt sich folgende Lesestütze:

 ich nam stucke brot labt libechem– eurem herzedarnach taheforu– uber fart… abdechem– euren Knechten. Der Schreiber überspringt wajomru ken ta‘ase ka‘ascherund ergänzt über dem Wort dibarta: du hast gereth. 

Den aramäischen Targum überspringt dieser Rezipient hier und desweiteren konsequent und fährt mit Vers 18,6 – Und Abraham eilte ins Zelt zu Sarah, und sprach: Eile, drei Maß Kernmehl knete und mache Kuchen– fort. Wajemaher– er eilte – ist mit vaiemair und eilt überschrieben. Zwischen den Zeilen notiert diese Hand zu dem zaeltMahari– eile – ist mit mari eyle am Rand neben der Kolumne festgehalten. Eine andere Hand ergänzt in einem lateinisch-deutschen Mix: mensuras– lat. für Maß – semeln mels knetund schreibt überugottorten, während unsere transliterierende Hand statt ugot– hekut kuchenam Rand notiert. Es geht in diesem Stil weiter: zaken – ist altbekirba – in iren brauchevatezhak – und sie spotteZe – dyß und zzachka – sy hat gespothzakanti – ich bin alt usw.

In den Übersetzungen fällt auf, dass Präfixe und Suffixe separat und meist nicht im Zusammenhang mit dem Hauptwort übertragen sind, beispielsweise bei dem Wort lifneihem, das dieser Schreiber zunächst mit lifneham transliteriert und dann mit zu vor sy auseinandernimmt. Das und die Tatsache, dass die Übersetzung manchmal knapp danebenliegt, sprechen für die Annahme, dass hier nicht mit einer deutschen oder lateinischen Übersetzung, sondern mit einem Wörterbuch gearbeitet wurde. Wenn Abraham beispielsweise el ha-bakar – zu der Rinderherde– läuft, um ein Kalb für die Bewirtung der drei Gäste auszuwählen, findet dieser Rezipient in einem Wörterbuch den Piel lewaker (לבקר) – genau untersuchen, betrachten, bedenken usw. – und liest statt Rind „den rath“. Abraham holt sich mit dieser Lesart also erst einen Rat ein, bevor er seine Gastfreundschaft pflegt. 

 

Deutsche Übersetzung der Psalmen

Dieselbe Hand widmet sich auch der Übersetzung der Psalmen ins Deutsche. (Hier in einer Nahaufnahme) Es gibt keine Transliterationen, sondern nur eine bruchstückhafte Übersetzung von Psalm 1–12,7. Um eine Vorstellung vom Charakter der Übersetzung zu erhalten, können diese Bruchstücke an dieser Stelle exemplarisch interlinear und im Vergleich mit der Lutherübersetzung eingesehen werden.  

Diese Übertragungen sind keine ausgearbeiteten Übersetzungen. Wir können hier vielmehr jemandem beim Lernen zuschauen. Sprachlich können diese deutschen Übertragungen im frühneuhochdeutschen ostmitteldeutschen Raum verortet werden. Sie wurden wahrscheinlich im 16. Jahrhundert hinzugefügt und verweisen auf jemanden, der selbstständig und sehr wahrscheinlich ohne deutsche Vorlage eine Übersetzung wagte. Rein theoretisch könnte hier auch Luther in seiner Erfurter Zeit als Novize in Sachen Übersetzung in Frage kommen, doch die unterschiedliche Rechtschreibung – die seiner Zeit allerdings noch fließend war – und die Handschrift selbst sprechen gegen den Reformator. Andere deutsche Bibelübersetzungen, die – abgesehen von der Lutherbibel – allerdings alle auf der Vulgata beruhen, konnten den hier besprochenen Übersetzungen nicht zugeordnet werden. 

 Das besondere Interesse an den Psalmen und deren Übertragung ins Deutsche entspricht einer generellen Tendenz in die Reformationszeit, da sich mit dem Psalmlied, dem Reimpsalter, dem elegischen Bußpsalter oder dem barocken Psamoden ein neues literarisches Genre herausbildete. Reformatorische Theologen – allen voran Luther – machten sich daran „Psalmen in Kirchenlieder umzuwandeln, die innerhalb der neuen Gebetsordnung neben Lesung und Predigt zur Verbreitung des Gotteswortes durch Gesang beitragen sollten.“[7] Dabei war es der deutschsprachigen Psalmendichtung nicht so sehr an Worttreue, sondern vielmehr an erklärender, freier Paraphrase gelegen. Dieses Verfahren entsprach ganz dem exegetischen Übersetzungsverfahren Luthers, so wie er es in seinen Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens[8] darlegte. Die Psalmen waren auch unter neulateinischen Dichtern eine beliebte Gattung, wobei hier die am klassischen Stilideal ausgerichtete Form vor der Vermittlung des biblischen Textes an ein wenig gebildetes Publikum stand. Ein prominentes Beispiel dieser poetischen Bearbeitungen des Psalters im Neulateinischen war der Erfurter Dichter Helius Eobanus Hessus, der mit seiner 1525 erschienenen Psalmenübertragung bei den Wittenberger Reformatoren Luther und Melanchton große Begeisterung auslöste.[9]

 

Christologisch motivierten Glossen

Auf folio 59r macht sich erstmals eine Hand bemerkbar, die ausschließlich aus christologischer Perspektive die hebräische Bibel betrachtet. Eine Hand weist mit dem Zeigefinger auf den Vers Genesis 49, 10 – Nicht weichen wird das Zepter von Jehudah, noch der Herrscherstab von seinen Füßen, bis der von Schiloh kommt, und ihm wird der Gehorsam der Stämme. Dieser Satz im sogenannten „Segen Jakobs“ bildet das Zentrum zahlloser jüdischer und christlicher Schriftauslegungen, die von messianischen Hoffnungen geleitet sind.  Adolf Posnanski hat in seiner Studie Schiloh: Ein Beitrasg zur Geschichte der Messiaslehre[10] hunderte Auslegungen zusammengetragen und zeigen können, wie die rabbinische Tradition diesen Vers „im Geiste jüdisch-messianischer Hoffnung“ auslegt, während christliche Exegeten seine Erfüllung in Christus sahen.[11] Der Vers spielte auch eine zentrale Rolle in mittelalterlichen Zwangsdisputationen und polemischen Schriften. Unser Rezipient kommentiert diesen Vers nicht, aber zeigt mit der Übersetzung der ersten Wörter – non auferetur [s]ceptrum–, sehr deutlich, in welche Richtung seine Interessen gehen.

 Auf folio 414r weist der Zeigefinger der gemalten Hand auf das Wort lemarbe(למרבה) – „dass sich vergrößere“. Es ist Teil des Verses Jesaja 9,6, in dem es heißt: dass sich vergrößere die Herrschaft und dem Frieden kein Ende sei auf dem Thron Davids und in seinem Königreich; dass er es aufrichte und stütze durch Recht und Gerechtigkeit usw. Dem geht der aus christologischer Perspektive interessante Vers voraus: Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben und es wurde ihm die Herrschaft auf seine Schulter gegeben.usw Unsere Hand bemerkt nun die Besonderheit, dass mitten in dem Wort lemarbeungewöhnlicherweise ein mem finalestatt eines offenen memsteht und kommentiert diese Sonderbarkeit: 

Lemarbe e[st] multiplicabitur 

hic littera hanc vides Mem clausam ibi est in medio verbum lemarbe quod in hebraica nunquam indes per quod Isaia est designatum virginem de maria, clausa dicens/dicitur per quam [...] imperium Christi

Übersetzung: Lemarbe, das bedeutet „vergrößern“ (Vulgata)

Hier dieser Buchstabe siehe das geschlossene Mem ist hier in mitten des Wortes lemarbe, das du im Hebräischen niemals [in die Mitte eines Wortes] einfügst. Damit weist Jesaja auf die Jungfräulichkeit Marias hin, die Verschlossenheit, durch das das Reich Christi [dargestellt ist] / das als Reich Christi [interpretiert wird].

Die besondere Schreibweise des mem in dem Wort lemarbeh ist natürlich auch und schon viel früher von jüdischen Exegeten bemerkt und kommentiert worden. Dabei stand von Anfang an eine messianische Konnotation im Vordergrund. Der Babylonische Talmud erklärt sich die ungewöhnliche Schrifttradition des geschlossenen meminnerhalb des Wortes als einen sinnbildlichen Hinweis auf die Tatsache, dass weder König David noch König Hiskia zum Messias gemacht wurde. Die Rabbinen fragen in Sanhedrin 94a:

Weshalb ist das Mem in der Mitte eines Wortes überall offen, dieses aber geschlossen?Der Heilige, gepriesen sei er, wollte Hiskia zum Messias und Sancherib zu Gog und Magog machen, da sprach die Eigenschaft der Gerechtigkeit vor dem Heiligen, gepriesen sei er: Herr der Welt, wenn du David, den König von Israel, der viele Lieder und Lobgesänge vor dir angestimmt hat, nicht zum Messias gemacht hast, wie willst du nun Hiskia, dem du all diese Wundertaten erwiesen hast, ohne dass er vor dir ein Lied angestimmt hätte, zum Messias machen? Daher blieb es [das mem]verschlossen.

Da half es auch nicht, dass sich die Erde für Hiskia einsetzte, ein Lied „für diesen Frommen“ anstimmte und bat, „mache ihn doch zum Messias“. Auch Raschi verstand das geschlossene meman dieser Stelle als einen Hinweis darauf, dass etwas, das das Volk Israel ersehnte, verschlossen blieb. So wie Hiskia kein Loblied über die Lippen kam, konnte Israel noch nicht auf die Öffnung des messianischen Reichs hoffen. Die jüdische mystische Tradition (vgl. z.B. den Sohar zu Jes 9,6) widmeten dem geschlossenen memebenfalls einige Aufmerksamkeit, die dann von christlichen Kabbalisten und späteren Hebraisten geteilt und weitergeführt wurde. (Egidio da Viterbo, John Lightfood)

 Christliche Theologen lesen in den Versen Jesaja 9, 1–9 schon seit der Antike eine Prophezeiung der Ankunft Jesu Christi. Doch erst ab dem Mittelalter fließen Argumente der jüdischen Traditionsliteratur und damit Spekulationen über das mem clausamin die Interpretationen zu diesen Versen ein. Dazu waren Kenntnisse des Hebräischen und vor allem des Aramäischen notwendig, die erst in den aus Missionseifer neu gegründeten Übersetzungsschulen Nordspaniens wiederbelebt wurden. Um Juden (und auch Muslime) mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, trugen christliche Gelehrte oftmals mithilfe jüdischer Konvertiten zahlreiche Passagen nicht nur aus der hebräischen Bibel sondern nun erstmals der rabbinischen Literatur zusammen, die in öffentlichen Zwangsdisputationen gegen prominente Vertreter der jüdischen Gemeinden Spaniens und Frankreichs zur Diskussion gestellt wurden. Das bekannteste Werk aus diesen Kreisen ist sicherlich das Pugio Fideiadversus Mauros et Judaeos des katalanischen Dominikaners Raimund Martini. Hier findet man nicht nur die oben angeführte Diskussion des Talmud zu Jesaja 9 und dem mem clausa als ein Argument für die christliche Wahrheit – und jüdische Blindheit – aufgelistet. Das Werk liefert auch die christologische Interpretation des geschlossenen mem, die in unterschiedlichen Varianten bei zahlreichen späteren Exegeten fortwirkte – von Nicolaus von Lyra bis Martin Luther, der das polemische Werk als Quelle seiner Bibelexegese sehr schätzte. Auch in der Zwangsdisputation von Tortosa – einem Schauprozess vor Papst Benedikt XIII., der in den Jahren 1413-1414 über 21 Monate mit 69 Sitzungen extremen Druck auf die jüdischen Gemeinden Nordspaniens ausübte – wurde das geschlossene mem von den Disputanten ins Feld geführt. Das deplatzierte memspiele einerseits auf den Namen der Mutter Jesu an, Maria, die – wie die geschlossene Form des mem-sofitandeute – auch nachdem sie ihren Sohn geboren hatte, noch Jungfrau gewesen sein soll. Darüber hinaus könne aus dem Zahlenwert des mem-sofit (=600) die Ankunftszeit Christi abgeleitet werden, da nach der altjüdischen Weltchronik Seder Olam Jesaja die Ankunft des Messias genau sechshundert Jahre vor Christi Geburt mit diesem Vers vorausgesagt habe.[12]  

Der Reformator Luther wurde etwa einhundert Jahre später noch deutlicher. In seiner Kurze Auslegung zum Propheten Jesaia[13] bemerkt er zunächst die Erklärung, dass es sich hier um einen Hinweis auf die Jungfräulichkeit Mariae handelte, einer – wie er sich ausdrückte „verschlossenen Mutter“ mit Kind. Luther ist von diesem „gottseeligen Gedanken“ angetan und behauptet, dass „so wohl die frommen Juden, als auch unsere Leute, die der Hebräischen Sprache kundig sind“[14], diese Interpretation annähmen. Doch vielmehr noch scheint ihm das geschlossene mem ein Zeugnis für „die erschreckliche Zuschliessung, daß die Juden die wunderbare Regierung dieses Reiches niemals verstanden haben“. Und weiter: 

 „Als wolte er [i.e. Jesaja] sagen: Die Vermehrung [lemarbeh] dieses Reichs wird wundersam seyn, welche sie [i.e. die Juden] nicht verstehen werden, weil sie ganz und gar geistlich ist. Denn sie träumen und gedencken auf ein zeitlichs Reich, und dasselbe würde sich zeitlicher weise vermehren. Derowegen ist ihnen diese Vergrösserung und ganze Beschaffenheit des Reichs Christi verschlossen. Diese erschreckliche Verschliessung und Blindheit derer Juden, düncket mich, sey im Hebräischen durch das Mem, so im Anfange des Worts zugeschlossen geschrieben ist, angedeutet worden ...“[15]

 Luther beschwört dementsprechend das alte Bild von der blinden Synagoga, die in ihrer Sehnsucht nach einem irdischen messianischen Reich des Gesetzes das geistliche Reich der Liebe nicht erkennen könne – obwohl es im sogenannten „Alten Testament“ bereits aufscheint.Der Kommentator der Erfurter Bibelhandschrift überrascht hier also nicht mit einer originellen Interpretation des geschlossenen mem in Vers Jesaja 9,6, sondern führt etwas fort, dass seinen Ursprung in einer spanischen Missionarsschule des 13. Jahrhunderts hatte.

Derselbe Rezipient zeigt in der mittleren Kolumne von folio 458r wieder mittels einer Zeigehand auf einen Vers (Maleachi 3,1), wo es heißt: Siehe, ich will meinen Engel senden, der vor mir her den Weg bereiten soll. Dieser Vers wird in der christlichen Tradition als eine Anspielung auf Johannes gelesen, dessen Zukunft als Prophet und Täufer Christi hier angezeigt werde. Zwischen den Kolumnen ist die Übersetzung der ersten Vershälfte notiert: Ecce ego mittam angelum– soweit auch die Vulgata – und ergänzt malachie, die Transliteration des hebräischen Wortes „mein Engel“ bzw. „mein Sendbote“ nach dem das biblische Buch benannt ist.

 Dieselbe Hand interessierte sich auch für den Vers Jeremia 23,5, wo es heißt: Siehe, Tage kommen, ist der Spruch des Ewigen, und ich lasse aufkommen von David einen gerechten Sproß, und er regiert als König und ist glücklich, und übt Recht  und Gerechtigkeit im Lande.Mit der Vulgata übersetzt der Rezipient die erste Vershälfte: Ecce dies veniunt ait Dominus et suscitabo David. Der „gerechte Sproß“ gilt christlichen Theologen als Synonym für Christus, während in der jüdischen Tradition das Wort „zemach“ – Sproß – als Name des Messias gelesen wurde. 

 Und es ist sicherlich kein Zufall, dass diese Hand auch die ersten Worte des Verses Jesaja 2,1 in lateinischer Übersetzung an den Rand schrieb: capitulum ii:verbum quod vidit. Dieser und insbesondere die folgenden Verse 2–5 sind in der jüdischen als auch christlichen Tradition messianisch konnotiert. In der christologischen Deutung wurden sie direkt an die Geburt Christi geknüpft und spätestens ab dem Mittelalter in der Disputationsliteratur als Zeugnis für die Ankündigung Christi gegen jüdische Gelehrte ins Feld geführt. 

 Hier ist Vers Jesaja 10 markiert: capitulum x Isaia. Vae qui condunt leges iniquas – Wehe denen, die Satzungen des Unheils aufsetzen und weiter: und den Schreibern, die Untat niederschreiben.Die „Schreiber“ oder „Schriftgelehrten“ waren bereits im Matthäusevangelium zusammen mit den Pharisäern zu negativen Stereotypen des „alten Glaubens“ deformiert und der christlichen Bewegung gegenübergestellt worden.

Auch die verkürzte Wiedergabe der lateinischen Version von Vers Hosea 13,14 – Aus der Gewalt der Hölle wollt‘ ich sie loskaufen, vom Tode sie erlösen – mit De manu mortis … redimam eos ero mors tua o morsstammt aus der Feder dieses Schreibers, der hier aus seiner Perspektive auf ein prophetisches Zeugnis der Auferstehung Christi hinweist. 

 Bei Psalm 72,1 (Von Schlomoh. Gott verleihe deinen Richterspruch dem Könige, und deine Gerechtigkeit dem Königssohne.) ist mit der Vulgata Deus judicum tuum regi da zu lesen – wieder ein angeblicher Verweis auf den Sohn Gottes. 

 Die letzte Glosse, die man dieser Hand zuordnet kann, bezieht sich mit einer etwas abgewandelten lateinischen Version des hebräischen Textes – Non est enim homo in terra qui non peccet– auf Kohelet 7,20, einen Vers, der in der evangelischen Theologie eine wichtige Rolle spielt. Luther entfaltet bei seiner Entwicklung des Begriffes „Sünde“ innerhalb seiner Rechtfertigungslehre unter anderem diesen Vers, um zu zeigen, dass allein Gottes Gnade das durch Sünde gestörte Verhältnis zwischen Gott und Mensch wieder ins Gleichgewicht kommt – nicht durch eigene Leistungen, gute Werke oder Ablasszahlungen. Diese Lateinische Hand – eine gothische Kursive aus dem 15./16. Jahrhundert – orientiert sich weitestgehend an der Vulgata. Das philologische Interesse dieses Rezipienten – das kann zusammengefasst festgestellt werden – tritt vor seinem messianisch-christologischen Blick auf den biblischen Text in den Hintergrund. 

Die Frage, wer diese Eintragungen – die lateinischen und deutschen Übersetzungshilfen, die Transliterationen und Kommentare – tatsächlich vorgenommen hat, ist in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung auf der Basis von Tintenuntersuchungen an anderer Stelle ausführlich diskutiert worden. (vgl. Annett Martini und Zina Cohen, New Perspectives On the Hebrew Manuscripts From the Erfurt Collection On Grounds Of Experimental XRF Ink Analysis; Annet Martini und Olivier Bonnerot,  The Genesis and Reception of the Bible Codex Ms. or. fol. 1212 in the Light of Ink Analysis, Publikation in Vorbereitung) Bei den Autoren dieser Glossen handelt es sich sehr wahrscheinlich um Gelehrte und Studenten, die in der humanistischen Atmosphäre Erfurts ihren Horizont in der Praxis zu erweitern suchten. Dass sich die Arbeit am biblischen Text nicht auf das Hebräische beschränkte, sondern auch den aramäischen Targum ins Auge fasste, spricht für einen offenen, interessierten Geist ganz im Sinne des Humanisten Reuchlin, der vor einer Vorverurteilung der aramäischen jüdischen Schriften – insbesondere des Talmuds – warnte und das Studium dieser Sprache dringend empfahl. Diese positive Wahrnehmung des Hebräischen und Aramäischen, die in den Übersetzungen und Transliterationen innerhalb der Bibelhandschrift zweifelsohne zum Ausdruck kommt, wird jedoch von der zuletzt vorgestellten, christologischen Hand in gewisser Weise überschattet. Folgt man ihren Spuren durch den Text und setzt die biblischen Mosaiksteine, auf die sie deutet, zusammen, erscheint das alte Bild von der siegreichen Ecclesia, die über das überholte Gesetz der Synagoga triumphiert. 

 Der eingangs beschriebene Einband des Manuskripts versinnbildlicht diese Ambivalenz von Humanismus und Reformation in gewisser Weise. Er schützt den Kodex vor Beschädigungen, bewahrt ein Stück jüdische Tradition und macht sie christlichen Lesern zugänglich. Doch gleichzeitig erinnern die Prägungen in das Einbandleder mit den Motiven aus der christlichen Heilsgeschichte daran, dass der Umgang mit dem Inhalt dieses Manuskriptes kein neutraler ist. Die zahlreichen Rezeptionsspuren in den Manuskripten der Erfurter Handschriftensammlung, von denen hier nur ein Ausschnitt vorgestellt wurde, bezeugen dementsprechend auch einen Prozess der Transformation, bei dem den hebräischen Handschriften der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde Erfurts ein neuer Kontext, eine andere Funktion und eine Bedeutung zugewiesen wurde, die nur noch wenig mit dem ursprünglichen Gebrauch dieser Bücher zu tun hatte.

Empfohlene Zitierweise: Annett Martini, "Rezeptionsspuren in der Erfurter Handschriftensammlung. Christliche Hebraistik", in: Die hebräischen Handschriften der Erfurter Sammlung (2019), URL: https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/erfurter_sammlung/dokumentation/Rezeptionsspuren/Christliche-Hebraistik/index.html


[1] vgl. Adolf Rhein, Erfurter Buchbinder seit 500 Jahren (= Festschrift zum 3. Reichsinnungstag des Buchbinder-Handwerks 23. Bis 27. Juli 1937 in Erfurt), Erfurt 1937, S. 30–36

[2] vgl. Hellmuth Helwig, Handbuch der Einbandkunde, Hamburg 1953-54, Bd. II, S. 35

[3] Konrad Haebler, Rollen- und Plattenstempel,Leipzig 1928-29, Bd. I, S. 226f

[4] vgl. u.a. Judith Olszowy-Schlanger, “The Study of the Aramaic Tergum by Christians in Medieval France and England,” in A Jewish Targum in a Christian World, (= Jewish and Christian Perspectives Series, Bd. 27), hrsg. von Alberdina Houtman, E. van Staalduine-Sulman und Hans-Martin Kirn, Leiden 2014, S. 234–249; Stephen G. Burnett, “The Targum in Christian Scholarship to 1800”, in A Jewish Targum in a Christian World, (= Jewish and Christian Perspectives Series, Bd. 27), hrsg. von Alberdina Houtman, E. van Staalduine-Sulman und Hans-Martin Kirn, Leiden 2014, S. 250–265; Ders., “Christian Aramaism: The Birth and Growth of Aramaic Scholarship in the Sixteenth Century“, in Seeking Out the Wisdom of the Ancients: Essays Offered to Honor Michael V. Fox on the Occasion of His Sixty-Fifth Birthday, Winona Lake, Indiana 2005, S. 412–436;Ludwig Geiger, Das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland vom Ende des XV. bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts, Breslau 1870; Werner Strothmann, Die Anfänge der syrischen Studien in Europa (= Göttinger Orientforschungen, Bd. 1), Wiesbaden 1971; Moritz Steinschneider, Christliche Hebraisten, Frankfurt am Main 1901

[5] Franz W. Kampschulte,Universität Erfurt in ihrem Verhältnisse zu dem Humanismus und der Reformation, Bd. 1: Der Humanismus, Trier 1858; Ders., Die Universität Erfurt in ihrem Verhältnisse zu dem Humanismus und der Reformation, Bd. 2: Die Reformation, Trier 1860; Gerlinde Huber-Rebenich und Walter Ludwig (Hg.), Humanismus in Erfurt, Rudolstadt/Jena 2002; Paul Kalkoff, Humanismus und Reformation in Erfurt (1500–1530), Halle 1926

[6] Strothmann, Die Anfänge der syrischen Studien in Europa, S. 21f

[7] Anja Stewing, “Die Psalterübertragung des Eobanus Hessus“, in Gerlinde Huber-Rebenich und Walter Ludwig (Hg.), Humanismus in Erfurt, Rudolstadt/Jena 2002, S. 195–211, S. 196

[8] Martin Luther,Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens, Wittenberg 1533; vgl. auch Luthers Sendbrief vom Dolmetschen, Nürnberg 1530

[9] Stewing, “Die Psalterübertragung des Eobanus Hessus“, S. 198

[10] Adolf Posnanski, Schiloh: Ein Beitrasg zur Geschichte der Messiaslehre, Leipzig 1904

[11] Vgl. ebd., Vorwort

[12] Antonio Pacios Lopez, La Disputata De Tortosa,Madrid 1957

[13] Martin Luther,Sämtliche Schriften, hrsg. v. Johann Georg Walch, Halle 1741, Bd. 6

[14] Ebd., col. 325

[15] Ebd., col. 325f