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Forschungsgeschichte

Bereits 1949 erschien das erste Buch über die Aktion "Entartete Kunst": Paul Ortwin Raves Kunstdiktatur im Dritten Reich. Rave war als amtierender Direktor der Nationalgalerie ein gut orientierter Zeitzeuge, kannte viele der Akteure persönlich und wurde von zahlreichen Ereignissen aus erster oder zweiter Hand informiert. Deshalb wird sein um Sachlichkeit bemühter Bericht immer eine wichtige Lektüre bleiben. Er hängte ihm Listen mit Künstlernamen und betroffenen Museen, jeweils mit der Anzahl der beschlagnahmten Werke, an. Dabei griff er ohne weitere Reflexionen auf das ihm offenbar noch vollständig vorliegende Beschlagnahmeinventar zurück. Seine Zahlen waren über Jahrzehnte verbindlich, da sie aber Konvolute ebensowenig berücksichtigen wie die Werke, die bei der Inventarisierung vergessen wurden, und auch die Künstler mit gleichem Nachnamen nicht differenziert werden, müssen sie heute revidiert werden.
Schon ein Jahr zuvor veröffentlichte Gerhard Strauß in der Festschrift für Karl Hofer einen Aufsatz über verschiedene Einzelheiten der Aktion "Entartete Kunst". Er stützte sich dabei auf die in Ost-Berlin vorliegenden Akten des Propagandaministeriums, die dann zunächst dem Kulturministerium der DDR und später dem Zentralen Staatsarchiv der DDR in Potsdam übergeben wurden.
1962 veranstaltete das Haus der Kunst in München eine Ausstellung Entartete Kunst. Bildersturm vor 25 Jahren, die sich auf beschlagnahmte Werke und verfemte Künstler konzentrierte, und in deren Katalog Jürgen Claus einige wichtige Dokumente zusammenstellte. Die Ausstellung war auch von Franz Roh angeregt worden, der im gleichen Jahr sein Buch 'Entartete' Kunst. Kunstbarbarei im Dritten Reich veröffentlichte. Trotz seines sehr subjektiven, noch vom eigenen Erleben geprägten Duktus’ enthält es viele aufschlußreiche Zusammenhänge, sowohl in Bezug auf die theoretischen Grundlagen als auch auf organisatorische Belange. Im Anhang wurden Listen beschlagnahmter Werke veröffentlicht, so wie sie eine Reihe von Museen geliefert hatten. In der Zeitschrift Das Schönste erschienen ebenfalls 1962 mehrere Artikel von Wilhelm F. Arntz über die Diffamierungen und Beschlagnahmen, das Schicksal der Bilder und das der Künstler. Arntz hatte Originaldokumente und Kopien gesammelt, die ihm einen guten Überblick gestatteten, bei dem aber auch die noch vorhandenen Lücken deutlich werden.
Hildegard Brenner hat als erste die Akten des Propagandaministeriums im Zentralen Staatsarchiv der DDR ausgewertet. Ihr 1963 herausgekommenes Buch Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, das bis heute ein Standardwerk geblieben ist, fragt jedoch nicht nach einzelnen Kunstwerken. Diether Schmidt hatte diese Akten schon eingesehen, als sie sich noch im Kulturministerium befanden, und publizierte im Anhang des zweiten Bandes seiner Künstlerschriften des 20. Jahrhunderts, der allerdings erst 1964 gedruckt vorlag, unter anderem die Protokolle der „Verwertungskommission“ und Anita Lehmbrucks Kampf um die Rückgabe der Plastiken ihres Mannes, die als Leihgaben in Duisburg und München beschlagnahmt worden waren. Zu erwähnen ist noch Joseph Wulfs Dokumentation Die bildenden Künste im Dritten Reich von 1966, die vieles anreißt und Hinweise gibt, an denen die weiteren Forschungen ansetzen konnten. 1970 kam in Alfred Hentzens Aufsatz Das Ende der Neuen Abteilung der National-Galerie im ehemaligen Kronprinzenpalais noch einmal ein Zeitzeuge zu Wort.
Mit den Ausstellungen Verboten, verfolgt. Kunstdiktatur im 3. Reich des Wilhelm-Lehmbruck-Museums in Duisburg und Verfolgt und verführt. Kunst unterm Hakenkreuz in Hamburg der Hamburger Kunsthalle setzte 1983 eine neue Forschungsphase ein, in der die Ereignisse in einzelnen Museen genauer ins Auge gefaßt wurden. Nach Im Kampf um die Kunst. Das Schicksal einer Sammlung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Staatlichen Galerie Moritzburg Halle 1985 und Das Schicksal einer Sammlung. Die Neue Abteilung der Nationalgalerie im ehemaligen Kronprinzen-Palais in der Alten Nationalgalerie in Berlin 1986 folgten ab 1987 viele Museen diesen Beispielen.
In Halle ließ Andreas Hüneke der Ausstellung 1987 das Heft Die faschistische Aktion 'Entartete Kunst' 1937 in Halle mit einer ausführlichen Dokumentation folgen. Er hatte seit 1973 die Akten des Propagandaministeriums gründlich durchgearbeitet und ist dabei auch den einzelnen Werken nachgegangen. Von da an flossen seine Angaben in zahlreiche Künstlermonographien, Werkverzeichnisse und museumsgeschichtliche Publikationen ein, in denen er den Begriff der EK-Nummern prägte. Dieser neuen Forschergeneration stand im Zentralen Staatsarchiv der DDR jedoch nur noch der erste Band des Beschlagnahmeinventars mit den Museen von Aachen bis Greifswald zur Verfügung. Der zweite Band war abhanden gekommen, so daß die Angaben auch bei der Rekonstruktion der Münchner Ausstellung "Entartete Kunst" lückenhaft bleiben mußten, die Mario Andreas von Lüttichau in Zusammenarbeit mit Hüneke für die Ausstellung Die ‚Kunststadt’ München 1937. Nationalsozialismus und 'Entartete Kunst' 1987 vornahm. Sie konnte aber überraschend genau gelingen, weil sich herausstellte, daß die Exponate in der Reihenfolge ihrer Hängung inventarisiert worden waren. Die Ausstellung umfaßte – abgesehen von den Werken, die vorzeitig aus ihr entfernt wurden – die EK-Nr. 15933 bis 16486. Die Rekonstruktion wurde für den Katalog 'Degenerate Art'. The Fate of the Avant-Garde in Nazi Germany des Los Angeles County Museum of Art 1991 überarbeitet. Nachdem Hüneke erstmals in dem Katalog Alfred Flechtheim. Sammler, Kunsthändler, Verleger des Kunstmuseums Düsseldorf 1987 Einzelheiten über die Tätigkeit der Kunsthändler bei der „Verwertung“ geschildert hatte, ergänzte er dies in dem Katalog aus Los Angeles. Dafür schrieb außerdem Christoph Zuschlag erstmals über die Vorläuferausstellungen und die Wanderausstellung "Entartete Kunst", ein Thema, das er 1995 umfassend bearbeitet in seinem Buch 'Entartete Kunst'. Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland darstellte.
Zu dieser Zeit beauftragte die Kulturstiftung der Länder Hüneke damit, die bei ihm, von Lüttichau und Zuschlag gesammelten Informationen über den Verbleib der beschlagnahmten Kunstwerke zusammenzutragen. In einer Excel-Tabelle wurden daraufhin alle bis dahin greifbaren Daten eingetragen. Als diese Arbeit abgeschlossen war, erreichte Hüneke eine Anfrage aus dem Victoria & Albert Museum in London, dem mit Teilen des Nachlasses des Kunsthändlers Harry Fischer ein zweibändiges Typoskript mit der Aufschrift "Entartete Kunst" übergeben worden war. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein vollständiges Exemplar des Beschlagnahmeinventars, das nach Abschluß der „Verwertung“ 1941/42 angelegt und mit Angaben zu Verkäufen und Tauschgeschäften etc. versehen wurde. Nun konnte Hüneke die Excel-Tabelle vervollständigen und gemeinsam mit von Lüttichau auch die Rekonstruktion der Münchner Ausstellung für die 5. Auflage des Münchner Kataloges von 1987 komplettieren.
Da die Möglichkeiten der Excel-Tabelle bald an ihre Grenzen stießen, ergriff Wolfgang Wittrock von der Ferdinand-Möller-Stiftung die Initiative zur Gründung der Forschungsstelle "Entartete Kunst", die 2002 am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin ihre Heimstatt fand. An der Forschungsstelle sind bis Januar 2017 bereits acht Bachelorarbeiten, zehn Masterarbeiten, 34 Magisterarbeiten und eine Dissertation entstanden, von denen die Forschungen zu dem Themenkomplex wesentlich vorangebracht wurden.
Die Forschungsstelle wurde zunächst von Uwe Fleckner geleitet. Nach dessen Berufung nach Hamburg, wo er eine Zweigstelle der Forschungsstelle installierte, übernahm Klaus Krüger die Leitung in Berlin.
Andreas Hünekes Excel-Tabelle wurde in die Datenbank MuseumPlus überführt und wird seitdem kontinuierlich ergänzt. Zu Hünekes Unterstützung wurde Christoph Zuschlag und nach dessen Berufung nach Landau Meike Hoffmann hinzugeholt. Nach und nach werden von ihnen, ergänzt durch Projektmitarbeiter und studentische Hilfskräfte, die Datensätze aktualisiert. Für die Zukunft ist eine Erweiterung um Angaben zu den Künstlern, den Repressalien gegen sie, zu dem Kunsthandel und den daran beteiligten Personen geplant, sodaß die Datenbank für Wissenschaftler und die breitere Öffentlichkeit eine umfassende und differenzierte Informationsquelle zur Beschlagnahmeaktion "Entartete Kunst" bietet.

 

Beauftragte für Kultur und Medien