Bildgeschichte (Altvorderasien)
Der alte Vordere Orient: Eine Bildgeschichte
Ein Forschungsprojekt zum Verständnis von Bildern im alten Vorderen Orient
Kontakt: Univ.-Prof. Dr. Dominik Bonatz
Nach herkömmlichem Verständnis hat die klassische Antike die Grundlagen des neuzeitlichen Kunstdenkens gelegt. Im Zeichen der Entgrenzung der Künste zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben jedoch solche ästhetischen Erfahrungswerte, wie sie die humanistische Kunstanschauung zu vermitteln sucht, längst ihre uneingeschränkte Gültigkeit verloren. Nach dem visual turn der Postmoderne (Jacques Derrida) ist es nicht mehr die Kunst, sondern sind es die Medien, die unsere ästhetische Erfahrung prägen. Setzt man dieser Entwicklung eine historische Sichtweise entgegen, so rückt an die Stelle des Kunstbegriffs zwangsläufig der der Medientheorie näher stehende Bildbegriff. So hat zum Beispiel die Kunstgeschichte damit begonnen, nach einer Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst (Hans Belting) zu forschen.
Auch für die Vorderasiatische Altertumskunde stellt eine Bildgeschichte eine wichtige Herausforderung dar. Immerhin liegen in ihrem Forschungsbereich, den Kulturen des alten Vorderen Orients, die Anfänge eines Jahrtausende währenden Bildschaffensprozesses begründet. Was traditionell im Fach als Kunstgeschichte betrieben wurde, soll unter dem Begriff Bildgeschichte methodisch und inhaltlich neu formuliert werden. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei nicht die kunstgeschichtlich relevanten Fragen nach Stil und Ikonographie der Bilder. Vielmehr forscht die Bildgeschichte nach den Ursachen von Bildern, ihren sozialen, politischen und religiösen Funktionen. Man könnte ein solches Unterfangen auch als Bildarchäologie bezeichnen, denn Vieles was der alte Vordere Orient an Bildern hervorgebracht hat, lebt bis zum heutigen Tage fort. Das Vorhaben kommt also nicht umhin, nach Antworten auf die Frage nach Bildern als einer kulturanthropologischen Konstante zu suchen. Damit wird eine für das Fachgebiet und andere verwandte Gebiete (Klassische Archäologie, Ägyptologie) insgesamt neue Betrachtungsweise angestrebt, die insbesondere den Vorzug hat, Bildwerke unter dem Aspekt kulturgeschichtlicher Entwicklung über einen sehr langen Zeitraum (ca. 10.000 v. Chr.-700 n. Chr.) zu untersuchen.
I. Die Bildgeschichte beginnt mit einer Skizze zur Entstehung visueller Kommunikationssysteme im Neolithikum – der Phase der Sesshaftwerdung im Vorderen Orient, von ca. 10.000-4.500 v. Chr. Neue spektakuläre Funde in Göbekli Tepe, Nevali Çori und Çayönü in Südostanatolien belegen bereits für das 9. und 8. Jahrtausend v. Chr. die Existenz monumentaler Steinskulpturen, auf denen vor allem Tiere in naturalistischer Form abgebildet sind, und deren Schöpfer eine noch von der Jagd und dem Sammeln lebende mobile Lebensgemeinschaft waren. |
Etwas später beginnt man in den ersten dauerhaft besiedelten Orten damit, die Schädel der Toten, im Rahmen eines weit verbreiteten Ahnenkultes, vom Rumpf des Körpers zu trennen und mit Ton zu übermodellieren. Auf diese Weise entstehen beeindruckend realitätsnahe Abbilder von Verstorbenen, die Hans Belting „Gefäße der Verkörperung“ nennt, da sie den Toten ihren verloren gegangenen Körper ersetzen sollten. Im keramischen Neolithikum (ab 6000 v. Chr.) nimmt die Zahl der bildlichen Darstellungen und ihre Verbreitung noch einmal zu. In das Zentrum der religiösen Ikonographie rücken nun ein weibliches, als nackte Frau anthropomorph dargestelltes Prinzip und ein männliches, in tauromorpher Form. Beide verkörpern Aspekte der Fruchtbarkeit in Verbindung mit weiblicher respektiver männlicher Schutzkraft und sind damit Leitmotive der sich etablierenden Ackerbaugesellschaft.
II. Die Veränderung der Bilder vollzieht sich parallel zur Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen. Symptomatisch hierfür ist die Entwicklung des Bildes im Übergang von der dörflichen zur städtischen Lebensweise im Ausgang des 4. Jahrtausends v. Chr. Die vielfältigen Beispiele bildlicher Darstellungen im urbanen Kontext der ersten „Großstädte“, Uruk und Susa, zeigen die immense Bedeutung, die der visuellen Kommunikation in dieser Gesellschaft zukommt. Mit dem Auflösen allumfassender, persönlicher Vertrautheit ehemaliger face-to-face Gesellschaften muss der Zusammenhalt im heterogenen Milieu der Stadt über neue symbolische Konstruktionen gewährleistet werden. Bilder wie die bekannte Uruk-Vase und die in dieser Zeit aufkommenden Rollsiegel vermitteln ein neues Ordnungsgefüge. Sie symbolisieren die zentralistischen Herrschaftsstrukturen und erarbeiten Kosmologien, in denen sich Herrschaft als religiös motiviert und legitimiert zeigt.
III. Ausgehend von der urukzeitlichen Relief- und Rundbildkunst entwickelt sich im 3. Jahrtausend v. Chr. ein vielfältiges bildliches Repertoire, welches in den sich ausdifferenzierenden Bereichen des Religiösen, des Politischen und des Ökonomischen Funktionen der Verkörperung, der Repräsentation und der praktischen Identifizierung übernimmt. Eine Großzahl der Bildtypen, wie sie auch noch in den beiden folgenden Jahrtausenden häufig vorkommen, wird in dieser Zeit kreiert und konventionalisiert. Zwei wesentliche Bildauffassungen stehen sich darin gegenüber. Die eine ist eine eher abstrakte, die symbolischen Aussagekraft eines Bildes in den Vordergrund stellende Auffassung. Sie ist charakteristisch für die Zeit der frühen Stadtstaaten (Frühdynastische Zeit, ca. 2900-2350 v. Chr.) und findet sich exemplarisch vertreten in den Darstellungen der sog. Geierstele aus Lagasch und der Standarte aus Ur. Die andere ist eine eher naturalistische, den historisch-dokumentarischen Wert eines Bildes betonende Auffassung. Sie begegnet uns in den Monumenten des zentralistisch regierten Großreiches von Akkad (2350-2200 v. Chr.), allem voran der Siegesstele des Naram-Sîn und den akkadischen Herrscherstatuen. Die deutliche Divergenz in den Bildauffassungen zweier unmittelbar aufeinander folgender Geschichtsperioden führt zwangsläufig zu der Frage, inwieweit hierfür unterschiedlich vorherrschende Gesellschaftssysteme verantwortlich waren. Dass aber eine „naturalistische“ und eine „abstrakte“ Darstellungsform in sich keinen unvermeidlichen Widerspruch bedeutet, belegt die Bildkunst am Ende des 3. Jahrtausends v. Chr., in der beide Prinzipien miteinander verbunden werden.
IV. Umwälzende Veränderungen in der sozialen und politischen Struktur des Vorderen Orients bringen in der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. vor allem eine Veränderung in der Funktion visueller Kommunikation mit sich: die Privatisierung des Bildes. Bilder dienen nun verstärkt dazu, die Ansprüche des Einzelnen gegenüber den Anforderungen der Gesellschaft zu sichern. Auf dieser Ebene des Bildgebrauchs kommt es zu Phänomenen der „Massenkunst“ in Form von Rollsiegeln und Terrakotten. Beide Bildgattungen entwickeln sich zugleich zu Massenmedien, die der Verbreitung und Vermischung von Bildmotiven in den peripheren Gebieten Anatoliens, Syriens und Palästinas Vorschub leisten. Auf der Ebene der politischen und religiös legitimierenden Funktion von Bildern findet hingegen vielfach die Erfindung von Tradition statt. Die Mittlere Bronzezeit (2000-1600 v. Chr.) zeichnet sich als eine im hohen Maße um Traditionsbewahrung bemühte Epoche aus. Bilder, als die neben der Schrift wichtigste Speicherform für das kulturelle Gedächtnis, spielen dabei eine besondere Rolle.
V. Internationale Beziehungen, wie sie bereits in der Mittleren Bronzezeit zutage treten, verdichten sich in der Späten Bronzezeit (1600-1200 v. Chr.). Im Rahmen eines politisch und ökonomisch motivierten Austausches zwischen den Regionen Babyloniens, Assyriens, Anatoliens, Ägyptens und der Levante erlebt auch die Bildproduktion einen neuen Höhepunkt. Die Bildmedien sind nun häufig identisch mit Luxusartikel wie Metallschalen, Schmuckobjekte und Elfenbeine. Durch das Zirkulieren dieser Luxusartikel im internationalen Verkehr kommt es zu einer erneuten Verbreitung von Bildmotiven, mit denen andernorts neue Bildtraditionen begründet werden. Die Bildsprache passt sich den regional variierenden politischen und ökonomischen Interessen an, indem sich Motive und Ausdrucksformen durchsetzen, die im Symbolsystem gänzlich verschiedener Kulturen ihren Platz finden.
VI. Dem sog. Dark Age (1200-1000 v. Chr.) folgt die expansive Phase des Neuassyrischen Großreiches (911-612 v. Chr.). In diese Phase fällt die Entwicklung neuer Bildsysteme, die zwar im Wesentlichen auf den Traditionen der vorhergehenden Jahrtausende aufbauen, dabei jedoch grundsätzliche neue, phänomenale Eigenschaften des Bildes zur Geltung bringen. An den Wandreliefs der assyrischen Paläste lässt sich das gezielte Entwickeln ästhetischer Ausdrucksformen zur Vermittlung von gewaltbetonter Herrschaftsideologie an ein breites Publikum beobachten. „Kunst“ wird in diesem Zusammenhang erstmals zu einer Wertekategorie, die den Betrachtungswert eines Bildes in den Vordergrund ästhetischer Erfahrung rückt. Basierte ästhetische Erfahrung bis dahin weitgehend auf die Teilhabe an Glaubenskonventionen, so wird sie nun durch die Einsicht in Darstellungskonventionen geprägt. Im Kontext von Architektur richten sich Bildwerke in einer neuen Sprache an eine Audienz, die als reale Betrachter mit den Mitteln der Ästhetik zu überzeugen ist. Assyrische Paläste generieren zum „Gesamtkunstwerk“, in dem die Selbstdarstellung der Elite zum ästhetischen Spektakel für die Gesamtheit wird.
VII. Für das anschließende Spätbabylonische Großreich (625-539 v. Chr.) stehen nach wie vor erstaunlich wenige, großformatige Bilddokumente zur Verfügung. Eine Tendenz, die für diese Zeit besonders charakteristisch ist und vor der auch die nahöstlichen Nachbarregionen betroffen sind, ist das deutliche Zurücktreten des bis dahin gültigen Anthropomorphozismus in der Bildkunst. An die Stelle figürlicher, Göttern und Menschen zugeschriebener Darstellungsformen, treten nun vermehrt symbolische Ersatzformen. Eine Tendenz, die im monotheistischen Judentum ihre zeitgenössische Parallele findet und von daher als bilderfeindliche Tendenz aufgefasst wird.
VIII. In einer abschließenden Untersuchung der Bildentwicklung von der Achämeniden-Zeit (538-331 v. Chr.) bis zu den Anfängen des Islam (um 700 n. Chr.) wird das Weiterleben altorientalischer Bildtraditionen unter dem Einfluss wechselnder Herrschaftssysteme verfolgt. Erstmals in seiner nun fast 10.000 Jahre währenden (Bild-)Geschichte befindet sich der mesopotamische Raum nun nicht mehr in einer kulturellen Geberrolle, sondern unterliegt es selbst dem Einfluss dominierender Fremdherrschaft: der persischen, der hellenistischen, der parthisch-römischen und der sasanidischen. Synkretistische Bildformen sind eine Folgeerscheinung dieser Entwicklung. Was aus kunstgeschichtlicher Sicht deshalb häufig als eine schöpferisch unproduktive und wenig innovative Phase erachtet wurde, stellt in Wirklichkeit eine für die Außenwirkung altvorderasiatischer Bildtraditionen wichtige Phase dar. Der Synkretismus im Bildschaffen nach dem Untergang der altvorderasiatischen Großreiche ist quasi der Filter durch den die Bilderwelt des alten Vorderen Orients in das Gedächtnis der Nachwelt gelangt ist. Ein kurzer Ausblick auf das, was sich bewahrt hat, schließt dieses Projekt ab.