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Das Halbmondlager als Knotenpunkt in einem materiellen Netzwerk des 20. Jhs.

Ausgrabungen an Orten des 20. Jhs. führen dazu, sich mit der Materialität solcher Orte sehr genau auseinanderzusetzen. Im Falle des Halbmondlagers sind materielle Umstände zur Zeit der Nutzung in Akten, Zeitungsartikeln, einer genauen Baubeschreibung der Moschee und in vielen Postkarten recht gut dokumentiert. In diesem Sinne ist eine Archäologie der Neuzeit notwendig anders gelagert als das traditionelle Archäologie-Verständnis dies vorgibt. Wo Bildwerke – wie besonders in der Klassischen Archäologie - aufgrund von Inhalt, Stilkriterien und Materialien zunächst zur Datierung herhalten, und zudem zum Erschließen einer Kunstgeschichte, sind Fotografien im 20. Jh. potenziell zwar ebenfalls kunsthistorisch auswertbar, haben im Falle des Halbmondlagers jedoch primär einen Propaganda-Status und sekundär dokumentarischen Charakter. Das genaue Lesen von Fotografien und deren Verbindung mit vorhandenen Plänen sowie archäologischen Resten stellt ein wichtiges Anliegen einer jeden Archäologie der Neuzeit dar. Es kann natürlich nicht davon ausgegangen werden, dass die fotografische Dichte überall so hoch wie in Wünsdorf ist.


Übersicht über Gefangene des Halbmondlagers und Baracken im Hintergrund (Quelle: Bundesarchiv)

  

Als ein Beispiel seien Fotografien von phonographischen Aufnahmen linguistischer Art des sog. „Lautarchivs“ der Humboldt-Universität genannt. Einige Fotos stammen aus dem Halbmondlager in Wünsdorf. Die Analyse dieser Bilder erlaubt es, bestimmte Baracken als Aufnahmeorte zu identifizieren und im Lager grob zu verorten. Daraus ergibt sich, dass die Linguisten wohl auch zu den hinteren Teilen des Lagers Zugang hatten, allerdings unter militärischer Aufsicht. Wissenschaftshistorisch ist die Bedeutung einer völligen Unterordnung des akademischen Interesses unter die militärischen Bedingungen höchst relevant: auch heute stellt sich im Angesichte von Kriegen und der starken Einbeziehung von Archäologie in Kriegspropaganda die Frage nach der Instrumentalisierung von Wissenschaft, wenn auch in anderer Weise (für die Archäologie: im Sinne der „Zerstörung von „Götzenbildern“, wie dies der IS nennt, oder im Sinne einer Rettung des „Menschheitskulturerbes“, wie von UNESCO apostrophiert).

Archäologie hat in ihrer Entwicklung hin zu einer Wissenschaft, die sich mit der weit zurückliegenden Vergangenheit befasst – als Wissenschaft von den „Anfängen“ – ein methodisches und theoretisches Instrumentarium entwickelt, welches auch auf moderne Zustände angewendet werden kann. Die Beschäfti-gung mit Materialität ist im Zuge der „Object-oriented Ontologies“ im Gefolge der Arbeiten Graham Harmans und anderer zu einem Fokus vieler Wissenschaftsbereiche geworden. Auf die Grabungen in Wünsdorf angewendet heißt dies, dass die Moschee als eher unscheinbare Holzkonstruktion („billiger Bretterbau“ nach Max von Oppenheim) zwar ein Propganda-Instrument war, welches aber seine tatsächliche Wirkung nicht als Bau in einem nach außen abgesperrten Kriegsgefangenenlager entfaltete, sondern als Ablichtung auf Postkarten samt Betenden davor. Stellt man sich das Netzwerk an Menschen und Dingen vor, die für diese Maschine notwendig waren, so zählen hierzu nicht nur die möglichst exotisch gekleideten Betenden samt ihren pickelhäubigen Bewachern, sondern ebenso die Fotografen, deren Kameras, die Druckereien, die aus den Fotos massenweise Postkarten herstellten, die Feldpost des 1. Weltkriegs, die diese Bilder an die Front brachte, und vieles andere. Man muss die üblichen Kategorisierungen in Dinge, Bilder und Texte weitgehend auflösen, um diese Effekte zu analysieren.

Grundlegend bleibt für diese Art der Herangehensweise an Materialität – ob antik oder modern – etwas anderes: die Verankerung solcher epistemischer Netzwerke an einem spezifischen Ort samt seiner diachronen Entwicklung. Nicht nur die Moschee, auch die Panzer der Sowjets und die heute entstehende Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge sind in diese Perspektive auf das Materielle einzubeziehen.