Band 18: Bildung (2010)
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig
Einleitende Bemerkungen zum Thema „Bildung“
Bildung ist für jeden Staat von zentraler Bedeutung. Kein Staat kann ohne eine gut ausgebildete und verantwortungsbewusste Elite auskommen. Bildung bezieht sich auf die Entwicklung vom Kindergarten über die Schulen, Hochschulen bis zu weiterführender Erwachsenenbildung. Wenn auch das gesellschaftliche Ansehen differiert, so sind Kindergärtnerinnen, Lehrer, Professorinnen und Facharbeiter gleich wichtig. Durch Abwanderungen gab es nach 1990 einen großen Mangel an Facharbeitern im Osten.
Die DDR maß dem Bildungssystem große Bedeutung bei, was auch an der Tatsache zu erkennen ist, das die Frau des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker ab 1958 stellvertretende und von 1963 bis 1989 Ministerin für Volksbildung war. Es galt einen „neuen Menschen“ zu schaffen; Kinder sollten mit den „Segnungen des Sozialismus“ aufwachsen können. Von Beginn der DDR an wurden vor allem vier Bestrebungen im Bildungsbereich propagiert:
· Durchsetzung des Führungsanspruchs der SED,
· Orientierung an Vorgaben der sozialistischen Planwirtschaft, d. h. auch Ausrichtung der Kapazitäten und Lehrinhalte an den Planvorgaben der „Fünfjahrespläne“,
· eine revolutionäre gesellschaftliche Umgestaltung,
· in möglichst vielen Bereichen „Weltniveau“ zu erreichen.
Nach Herstellung der deutschen Einheit im Oktober 1990 wurden das Bildungssystem der neuen Länder grundlegend geändert, allerdings hatte die DDR nach den Wahlen vom März 1990 bereits Reformen durchgeführt und Schritte zur Angleichung unternommen, bzw. es wurden entsprechende Gesetze der Bundesrepublik auf Beschluss der Volkskammer übernommen. (Zum Beispiel des Berufsbildungsgesetzes siehe Dokument 34.)
Diesem Zweck insgesamt diente auch eine gemeinsame Bildungskommission, die vom Mai bis September 1990 aktiv war (Dokumente 1 und 2). Neben sofortigen Vereinheitlichungen gab es auch Übergangsregelungen; zum Beispiel Berlin siehe Dokumente 5, 6 und 7).
Die Veränderungen im Bildungsbereich waren nur ein Aspekt, denn viel mehr hatte sich verändert. Es war notwendig, sich in einer neuen Berufs- und Arbeitswelt zurechtzufinden und neue Arten der Bewerbung und Selbstdarstellung zu lernen; hier gab es eine Fülle von Wissenstransfer und Beratungskapazität, gefördert durch nationale Mittel und auch Zuwendungen der EU (Dokumente 35 - 38).
Föderales System, Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen, Befähigungsnachweisen und akademischen Graden.
Hier war die Bundesregierung zunächst der Ansicht, dass es sich um einen Bereich handele, der nicht in den Einigungsvertrag gehöre, denn die Frage der Anerkennung sei Ländersache. Zu dieser Zeit hatten sich die neuen Länder aber noch nicht konstituiert und es gab dringenden Entscheidungsbedarf. Im Artikel 37 des Einigungsvertrages wurde vereinbart, dass alle Berufs- und Ausbildungsabschlüsse der Beitrittsländer in den westdeutschen Ländern Anerkennung finden, wenn sie gleichwertig sind (Dokument 3 und 32). Schwierigkeiten gab es in Fällen, wo im Westen keine vergleichbare Ausbildung existierte.
Nach Ihrer Konstituierung traten die neuen Länder dann entsprechend dem föderalen System der Bundesrepublik der Kultusministerkonferenz (KMK) bei. Dieses Gremium benannte im Februar 1991 Ziele der Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturpolitik, wobei die Kulturhoheit der Länder erneut betont wurde (Dokument 4, siehe auch Dokumente 27 und 28).
Am 7. Mai 1993 stellte dann die Kultusministerkonferenz bei einem Treffen in Greifswald die Gleichwertigkeit der zu DDR-Zeiten vergebenen Lehramtsabschlüsse der neuen Bundesländer mit denen der alten fest. (Dokument 16)
Kindergärten
Die DDR hatte eine fast „flächendeckende“ Versorgung mit Kindergärten, wegen der vollen Berufstätigkeit vieler Frauen eine Notwendigkeit. Träger solcher Krippen und Kindergärten waren oft die jeweiligen Arbeitsstätten, vielfach große Kombinate. Im Rahmen der Privatisierung wurden die meisten dieser Arbeitsstätten aufgelöst, was Ersatzlösungen erforderlich machte. (Zu den Auswirkungen des „Systemwechsels“ auf Kindergärten vgl. Dokument 30). Auch eine Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts war notwendig. (Dokument 26, zur Jugendarbeit Dokument 31).
Im Bereich von Kindergärten stellte sich ebenfalls die Frage der Anerkennung von in der DDR erlangter Ausbildung und Berufsqualifikation; teilweise war nach Oktober 1990 eine zusätzliche Fortbildung erforderlich (Dokument 29).
Schulen, Lehrer, Besoldung, Überprüfung
Wichtig waren diese Anerkennungen nicht nur bei der Arbeitssuche, sondern bei denen, die im Berufsleben standen, zum Beispiel im Schul- und Hochschulbereich. (Für Lehramtsbefähigungen siehe Dokumente 10 und 15). Viele Lehrerinnen und Lehrer, die in der DDR ausgebildet worden waren kamen nach 1990 erst als „Beamte auf Probe“ in den Schuldienst. (Dokument 14) Neben dieser generellen Regelung gab es auch individuell-fachliche Überprüfungen durch Begutachtung der Unterrichtspraxis, um eine möglichst weitgehende Gleichbehandlung zu erreichen fand im „Rahmen der Bewährungsfeststellung“ ein normiertes Verfahren zur Anwendung. (Dokumente 23, 24, 25) Während in der DDR Marxismus-Leninismus und ein bestimmtes Geschichtsbild viele Teile des Unterrichts prägte, hat das Fach „Politische Weltkunde“ im Westen andere Lehr- und Lerninhalte, hier waren Umschulungskurse zu absolvieren.
Auch die besoldungsrechtliche Gleichstellung von Lehrpersonal spielte eine Rolle, individuell für die finanziell Betroffenen, aber auch für das Klima der Zusammenarbeit in den Schulen. (Dokument 11) In den neuen Bundesländern gab es bei der Besoldung prozentuale Angleichungen zu Vergütungssystemen im Westen und es erfolgten für den Übergang Einmalzahlungen in Höhe des Dreizehnfachen des monatlichen Unterschiedsbetrages (Unterschied Ost-West, Dokument 12). Noch Jahre nach der deutschen Einigung gab es keine Gleichstellung bei der Bezahlung für Lehrkräfte in Ost und West, was zu Protesten führte (Dokumente 18, 19 und 20)
Wie in anderen Bereichen, so wurden auch Lehrer und Lehrerinnen einer Überprüfung ihrer politischen Vergangenheit (Kontakte zur, Mitarbeit in der Stasi) unterzogen, ein delikater Prozess, der nicht einfach war (Dokument 13). Neben Gesprächen bildete ein Fragebogen den wesentlichen Bestandteil der Überprüfung (Dokument 22)
Universitäten / Evaluierung
Abgesehen von Naturwissenschaften und Kunst waren fast alle sonstigen Fächer aus der Sicht des Westens extrem reformbedürftig oder sollten abgeschafft werden. Jura, weite Bereiche der Philosophie, Wirtschafts- Geschichts- und Sozialwissenschaften wurden umgestaltet. Viele Institute wurden geschlossen, der damalige Terminus war „Abwicklung.“
Nach 1990 hatte die Chance bestanden, eine große gesamtdeutsche Hochschulreform durchzuführen, dazu kam es nicht.
Die Mehrheit der Professoren in der DDR war ihrem Staat loyal verbunden und sie war Mitglied der SED; Karrierewege wurden durch die staatliche Planwirtschaft und den marxistisch-leninistischen Erziehungsauftrag geschaffen.
An einigen Universitäten, so zum Beispiel an der ehemaligen Karl-Marx-Universität in Leipzig, vollzog sich die Wende nur sehr langsam und waren Professoren sowie Studentenschaft gegenüber dem neuen System oft skeptisch.
Diese Atmosphäre in der Zeit nach dem 3. Oktober 19900 beschrieb der Rektor Cornelius Weiss:
„Die Universität als Ganzes trug leider absolut nichts zur längst überfälligen Wende bei, wie es ihr als geistigem Zentrum der Stadt wohl angestanden hätte. Im Gegenteil, sie wartet ab, hüllte sich in Schweigen, bremste gar, erwies sich wie schon so oft in ihrer Geschichte als vorsichtig, konservativ, ja als reaktionär. Schlimmer noch, auch nach der Wende, als kritische Worte schon nicht mehr gefährlich waren, fehlte der Universität in den meisten Bereichen die Kraft und vielleicht auch der Wille zur Aufarbeitung der Vergangenheit, zur Trauerarbeit, zur geistigen Erneuerung und zur demokratischen Umgestaltung von innen heraus.“
Studierende und systemtreue Wissenschaftler waren in der DDR privilegiert. Nach der Mitgliedschaft in Jugendorganisationen wie den Jungen Pionieren und der Freien Deutschen Jugend (FDJ), dem Schulbesuch sowie dem Wehrdienst in der NVA konnten viele mit einem Studienplatz rechnen, wenn auch nicht unbedingt mit einem Fach eigener Wahl.
Die Plätze waren begrenzt und die Bemühungen, einen zu bekommen, waren groß. Nur 12 Prozent eines Jahrgangs hatten die Chance, die erweiterte 12-klassige polytechnische Oberschule und später eine Hochschule zu besuchen. Die Zulassungsquote zum Hochschulstudium betrug in der DDR im Jahre 1989 12,6 Prozent der 19 bis 21jährigen, sie war damit über die Hälfte geringer als in der Bundesrepublik; Studierende in der DDR waren eine privilegierte Gruppe.
Die Zuweisung des Faches war Teil der Planwirtschaft, 40 Prozent hatten eine technische Wissenschaft zu studieren. Das Studium wurde durch zuverlässige Funktionäre überwacht, Ernteeinsätze und militärische Übungen waren zu leisten. Unabhängig vom eigentlichen Fach war ein dreijähriges Studium des Marxismus-Leninismus Pflicht und Teil jeder Abschlussprüfung. Fast alle Studierenden erhielten Stipendien und einen Platz im Wohnheim. Nach dem Studienabschluss war ein Arbeitsplatz sicher. Probleme, wie auch in Nordkorea, waren der fehlende Zugang zu ausländischer Fachliteratur und die äußerst begrenzte Möglichkeit, im Ausland an Fachtagungen und Konferenzen teilnehmen zu können.
In der Übergangsphase waren viele westdeutsche Wissenschaftler zusätzlich an ostdeutschen Universitäten tätig, sie wirkten auch als Gründungsdekane für neue bzw. umgestaltete Fachbereiche. Den Rahmen dafür schufen „Partnerschaften“ wie sie auch in anderen Bereichen während des Angleichungsprozesses praktiziert wurden.
So zum Beispiel:
· schlossen für das Bildungswesen Nordrhein-Westfalen und Brandenburg ein förmliches Regierungsabkommen, (zur Reform des Schulwesens in Brandenburg siehe Dokument 8),
· zwischen den Kulturministerien von Baden-Württemberg und Sachsen gab es eine entsprechende Vereinbarung,
· Kooperationsabkommen zwischen Landesinstituten für Lehrerbildung, usw.
· Außer staatlichen Instanzen bemühten sich auch Gewerkschaften und Fachverbände (z. B. Philologenverband) um Einflussnahme und neue Mitglieder. (Zur Position der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft siehe Dokument 17)
Ein großes Problem an Universitäten war die Einschätzung der fachlichen Qualifikation. Auch hier gab es regionale Unterschiede. In Brandenburg überstanden 71 Prozent der Wissenschaftler diese Überprüfung, in Berlin nicht einmal jeder zweite. Der Historiker Professor Dr. Manfred Görtemaker (an der Universität Potsdam, aber aus dem Westen stammend) meint, nur etwa 10 Prozent der Entlassungen an ostdeutschen Universitäten seien auf politisch-moralische Belastungen zurückzuführen. Viele der Entlassenen sehen das anders.
Ein wesentlicher Teil dieser Neuorganisation waren Evaluierungen: Wissenschaftler aus dem Westen überprüften Fächer und Fachvertreter im Osten. Es war klar, dass außer in den Bereichen Kunst und Naturwissenschaften ein großer Bedarf an Änderungen bestand, dennoch ist die Art der Evaluierung insgesamt wohl kein durchgehendes Ruhmesblatt westdeutscher Wissenschaftler.
Vielfach kam ein Professor aus dem Westen für kurze Zeit (zwei Tage) an eine Universität im Osten, um dort ein Fach einzuschätzen, d. h. zu beurteilen. Zu den Grundlagen dieser Überprüfung zählten die Titel von Dissertationen und Habilitationen (in der DDR Dissertation-B genannt) und Literaturlisten, für die Lektüre der Schriften gab es kaum ausreichend Zeit. Nach der Evaluierung und der Tätigkeit als Gründungsdekan einer umgestalteten Fachrichtung kam es oft vor, dass neu geschaffene Stellen mit Mitarbeitern des Professors besetzt wurden, die von der Universität des Evaluierers stammten.
Bei der Umgestaltung und den Neuberufungen nach 1990 lässt sich schwer ein Gesamtbild herstellen, sicher ist, dass zahlreiche DDR-Wissenschaftler aus dem Mittelbau (Assistenten) die oft aus politischen Gründen vorher nicht Professor werden konnten, nun eine Chance bekamen.
In der Zeit von 1990 bis 1994 wurden im neuen Bundesland Sachsen 1.762 Professuren neu besetzt:
· 1.164 der Rufe (66 Prozent) ergingen an Wissenschaftler und Künstler aus der ehemaligen DDR,
· 559 an Wissenschaftler aus der alten Bundesrepublik und
· 39 an Ausländer.
Ein großes Problem der Umgestaltungsphase waren finanzielle Einschnitte. In Sachsen wurde der Personalbestand von 21.000 Wissenschaftlern auf 11.000 verringert.
Kultur
Im Einigungsvertrag (Art. 35) wurde vereinbart, dass die kulturelle Substanz in den neuen Ländern keinen Schaden nehmen dürfe. Für eine Übergangszeit investierte deshalb der Bund erhebliche Finanzmittel in Kunst und Kultur im Osten Deutschlands. Dagegen gab es massiven Widerstand der westdeutschen Bundesländer, die darin eine Gefahr für die Kulturhoheit der Länder sahen. Die ostdeutschen Länder hingegen hätten in der Übergangsphase und in der Zeit des Aufbaus der neuen Bundesländer keine Möglichkeit gehabt, die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen.
Dennoch ist viel verloren gegangen, auch durch die finanzielle Sogwirkung der westlichen „Kulturindustrie“. Einige Bereiche im Osten waren nicht mehr überlebensfähig, wodurch wichtiges Fachwissen verlorenging. So gab es zum Beispiel in der DDR in Verlagen viele Kompetenzen für die Übersetzung aus osteuropäischen Sprachen, ein Potenzial, dass nach der Einigung nicht ausreichend genutzt wurde.
Korea
Menschen in Diktaturen haben einen besonderen Bezug zur Kultur. Die Künstler müssen entweder staatstreu oder sehr vorsichtig agieren, das Publikum hat aber Verlangen nach Kunst und Kultur, es lernt, „zwischen den Zeilen zu lesen.“ In der DDR hatte, wie in Nordkorea es noch der Fall ist, Musik einen hohen Stellenwert. In Schulen des Nordens erlernen Kinder zwei Arten von Instrumenten, ein klassisch-koreanisches und ein „westliches.“ Diese Ausbildung sollte beibehalten und wenn möglich ausgebaut werden.
Nach einer Normalisierung müssen viele Bildungsbereiche in Nordkorea reformiert werden, was nicht unbedingt auf Widerstand stoßen muss. Die Kenntnisse über moderne Methoden und der Umgang mit moderner Technologie sind bisher aus unterschiedlichen Gründen sehr begrenzt. Dies gilt für viele Berufe, so zum Beispiel im Bereich des Ingenieurwesens und der Medizin.
Es kann aber kein Zweifel darüber bestehen, dass die Bevölkerung des Nordens sehr lernfähig und innovativ ist und gerade im künstlerisch-handwerklichen Bereich über viele Kenntnisse und Kreativität verfügt.
Eine Reform des Bildungswesens muss auch den drillhaften Frontalunterricht verändern und die Herausbildung von individueller Entscheidungsfähigkeit stark fördern.
Im gesamten Bildungsbereich werden große Investitionen erforderlich sein. Es scheint ratsam, dass hier der Staat die Hauptrolle spielt und erst nach einer Übergangszeit private Bildungsträger in größerem Umfang tätig werden. Wie damals in Deutschland ist es sicher sinnvoll, eine Fülle von Partnerschaften zu schaffen:
· auf staatlicher Ebene (zwischen Ministerien, Provinzen, Städten),
· zwischen Schulen und Universitäten,
· zwischen nationalen und ausländischen Institutionen.
Bei der Veränderung von Bildungsinhalten und der Neugestaltung von Curricula könnte es ebenfalls erforderlich werden, gemischte Kommissionen einzusetzen, damit das Gefühl der Bevormundung, gar Demütigung, vermieden wird.
Die traditionellen Fähigkeiten von Koreanerinnen und Koreanern können im Norden nur begrenzt zur Entfaltung kommen. Nach einer Phase der eventuellen Verunsicherung während der Transformation wird sich jedoch ein beeindruckendes Potenzial im Bildungsbreich entfalten, auch beschleunigt durch den großen Nachholbedarf, sollte dieser einmal erkannt werden und es Möglichkeiten geben, ihn zu beheben.