Band 09: Gewerkschaften (2010)
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig
Die Gewerkschaften nach dem Fall der Berliner Mauer
Initiativen und Aktivitäten westdeutscher Gewerkschaften in der DDR und in den
Neuen Bundesländern für den Aufbau autonomer Gewerkschaften (1989/1990)
Peter Rütters
Den dramatischen Zerfall des politischen Machtsystems in der Sowjetunion und in den Staaten des sogenannten Ostblocks sahen weder politische Analysten noch einflussreiche politische Akteuren voraus. Und auch der Fall der Berliner Mauer als Ereignis von hohem symbolischen Wert wurde zwar mit beträchtlichem rhetorischen Aufwand immer wieder gefordert, aber im Jahr 1989 so wenig vorhergesagt, wie der sich anschließende überaus rasante Zusammenbruch des Herrschaftssystems der DDR und dessen institutionelle Selbstauflösung gegen Ende dieses ereignisreichen Jahres erwartet wurden.
Die Spitzenfunktionäre des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Einzelgewerkschaften waren von dieser Entwicklung im Herbst 1989 nicht weniger überrascht. Die Gewerkschaften in der BRD waren auf dieses Ereignis nicht vorbereitet, obwohl sich der Wandel und vielleicht sogar der Zerfall des "Ostblocks" seit etwa einem Jahrzehnt – seit der Bildung und Unterdrückung der Solidarność in Polen Anfang der 1980er Jahre und deren Auftauchen aus dem "Untergrund" 1988 und seit der von Michail Gorbatschow ab Mitte der 1980er Jahre in der Sowjetunion eingeleiteten Perestroika – abzeichneten, zumindest im Rückblick. Der DGB – der hier stellvertretend für seine Mitgliedsverbände genannt wird – verfügte weder über ein Konzept noch über Planungen oder grundsätzliche Leitlinien, wie gewerkschaftspolitisch und organisatorisch auf diese Entwicklung reagiert werden sollte.
Seit November 1989 veränderten sich die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen in der DDR mit rasanter Dynamik. Auch wenn davon auszugehen war, dass es mittelfristig zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten kommen würde, war in den ersten Monaten nicht abzuschätzen, wie diese Entwicklung verlaufen und wann sie zu festen und klaren Strukturen in der DDR führen würde. Nicht abzusehen war die Schnelligkeit, mit der das SED-Regime an Macht und Einfluss verlor, und wie zügig nach den Wahlen am 18. März 1990 eine neu gewählte Volkskammer eine handlungsfähige (Übergangs-)Regierung bilden würde, mit der ein zum 1. Juli 1990 in Kraft tretender erster Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion beider deutscher Staaten ausgehandelt werden konnte. Diese Vereinbarung schuf die Grundlage für die staatsrechtliche Einheit, die durch die Auflösung der DDR und den Beitritt der wiedergegründeten fünf „neuen“ Länder zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 hergestellt wurde.
Die Gewerkschaften in der Bundesrepublik waren mit der Anforderung konfrontiert, den Aufbau einer handlungs- und einflussfähigen Interessenvertretung der Arbeitnehmer zu unterstützen. Ungeklärt war in den ersten Monaten (bis zum Abschluss des Vertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion), die Dauer der staatsrechtlichen Eigenständigkeit der DDR. Angesichts des fluiden staatsrechtlichen Zustandes der DDR und der Unklarheit über deren politische und gesellschaftliche Entwicklung verhielten sich der DGB und die Einzelgewerkschaften in den ersten Monaten nach dem Fall der Mauer (etwa bis März 1990) überwiegend zurückhalten hinsichtlich der Intensität und der Eigenständigkeit ihres Auftretens und ihres organisationspolitischen Engagements in der DDR. Unklar schien den DGB-Gewerkschaftern in den ersten Monaten die Reformfähigkeit und Demokratisierungsbereitschaft der zentralistischen Einheitsgewerkschaft der DDR, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB).
Der Handlungs- und Entscheidungsdruck für die Westgewerkschaften nahm dann aber im Frühjahr 1990 zu. Mit dem Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und der sich abzeichnende Vereinigung beider deutscher Staaten wurde die Errichtung handlungsfähiger Interessenvertretungen der Arbeitnehmer und tarifvertragsfähiger Gewerkschaften zwingend und unaufschiebbar.