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Einleitung Gruppe C. Zur Reichweite des Konzepts der ästhetischen Erfahrung

[1] Angesichts der Entgrenzung der Kunst und der Künste in der Gegenwart stellt sich die Frage nach der Reichweite des Konzepts der ästhetischen Erfahrung besonders nachdrücklich: An den Objekten zeitgenössischer Kunst selbst ist zu beobachten, daß sie verstärkt auf andere Kulturen und vergangene Epochen sowie auf traditionell außerästhetische Bereiche wie Politik, Wissen und Religion ausgreifen. Dieser Umstand muß die ästhetische Theorie heute nicht nur mit der Frage konfrontieren, ob und inwieweit die für ihr bisheriges Selbstverständnis unverzichtbar scheinende Differenzierung von Kunst und Nicht-Kunst sowie die Bestimmung eines autonomen Bereichs des Ästhetischen Bestand haben kann. Auch das Verhältnis von ästhetischen und außerästhetischen Erfahrungsbe­reichen muß vor dem Hintergrund der aus den Entgrenzungstendenzen entste­henden Erfahrungsqualitäten neu bestimmt werden. Es erscheint daher not­wendig, das Konzept der ästhetischen Erfahrung daraufhin zu befragen, inwiefern es den gegenwärtigen Phänomenen tatsächlich adäquat sein kann. Um sich die­ser Herausforderung zu stellen, reicht es freilich nicht aus, ausschließlich auf jene theoretischen Ressourcen zurückzugreifen, die durch die Entgrenzungstendenzen gerade in Frage stehen. Vielmehr ist es geboten, den ästhetischen Diskurs der westlichen Moderne von außen her zu konturieren und in die begrifflich-systema­tische Analyse auch historische und außereuropäische Phänomene einzube­ziehen, so daß sich die Spezifik dieses Diskurses wie der mit ihm verbundenen Praxis herausarbeiten läßt. Ziel der folgenden Beiträge ist es daher, anhand mar­kanter Phänomene aus den beteiligten Fachwissenschaften das Spektrum und Potential eines solchen Zugangs zu dokumentieren und (1) historisch, (2) syste­matisch und (3) kulturvergleichend mögliche Perspektiven zu erschließen.

1.

[2] Die aus der Klassischen Philologie, der Mediävistik, der Literaturwissenschaft und der Philosophie stammenden Beiträge zur historischen Reichweite des Kon­zepts der ästhetischen Erfahrung versuchen in einem exemplarischen Durchgang durch Antike, Mittelalter und Neuzeit Kontinuitäten, Parallelen und Differenzen von ästhetischen Erfahrungsmodellen zu bestimmen. Dabei steht die Überlegung im Vordergrund, daß die Paradigmen, wie sie modernen Erfahrungskonzepten zugrunde liegen und zuweilen auf dieser Grundlage wiederum an nicht-moderne Erfahrungswelten herangetragen werden, einer erneuten Überprüfung bedürfen. Gegenüber den systematischen und kulturvergleichenden Untersuchungen ver­mag die Analyse der historischen Konzeptualisierungen dreierlei zu leisten. Zum einen vermittelt sie verschiedene Außenperspektiven, die die kontextuelle Bedingtheit auch moderner Erfahrungsmodelle in besonderem Maße verdeutlicht. Zum anderen vermag sie die Grundlagen und Traditionslinien gegenwärtiger Phänomene und Konzepte zu erhellen und ihnen somit eine historische Tiefen­schärfe zu verleihen. Und drittens stellen die einzelnen Beschreibungen in der Gesamtschau das Material für eine Analyse des in der Historie sich vollziehenden Erfahrungswandels. Mithin versteht sich die Untersuchung der historischen Reichweite als ein Beitrag dazu, der in den letzten drei Dezennien zu beobach­tenden Destabilisierung ästhetischer Autonomie ein produktives Moment abzu­gewinnen und auf die Dringlichkeit hinzuweisen, auch die Moderne auf ihre Historizität und Befangenheiten zu befragen.

[3] Vor diesem Hintergrund wenden sich die ersten drei Beiträge der Sektion verschiedenen ‚Krisensituationen‘ zu, die die Wandlungsprozesse ästhetischer Erfahrungsmodi besonders gut erkennen lassen. Dabei hat es sich als fruchtbar erwiesen, neben der werkpoetischen Analyse literarischer Texte auch die kultur­historischen Rahmenbedingungen und Kontexte zu berücksichtigen, innerhalb derer sich die beschriebenen ‚neuen‘ Formen ästhetischer Erfahrung etablieren konnten. Am Beispiel des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit geht Martin Vöhler (C2) dem Erfahrungswandel nach, den die Verschriftlichung der vorgetragenen Texte hervorbringt: Mit dem Medium der Schrift bilden sich neue Gattungen, Institutionen und Erfahrungsmodi aus. Während die improvisierten Auftritte der Sänger in der vorliteralen Zeit noch den Charakter eines präsen­tischen Ereignisses hatten, kündigt sich mit der schriftlichen Fixierung der vor­getragenen Texte eine zunehmende ästhetische Distanz gegenüber der Darstel­lung an. Eine zur Distanzlosigkeit neigende Form der ästhetischen Erfahrung dagegen scheint sich mit der Ästhetisierung der Lebenswelten in der frühen römischen Kaiserzeit eingestellt zu haben. Ausgehend von den bei Martial beschriebenen realen Hinrichtungen auf der Bühne fragt der Beitrag von Antje Wessels (C2) nach der Wirkung, die die ubiquitäre Verschmelzung von ästhe­tischen und politischen Bereichen mit sich brachte, und stärkt damit ebenso wie der Beitrag von Martin Vöhler die Vermutung, daß Paradigmen, wie sie etwa den auf eine Autonomie der Kunst drängenden Konzeptionen des Vergnügens am Schrecklichen oder einer auf die aristotelische Poetik rekurrierenden Besetzung zentraler poetologischer Begriffe zugrunde liegen, auch innerhalb der Antike auf ihre Reichweite überprüft werden müssen.

[4] Eine weitere Schnittstelle im Wandel ästhetischer Erfahrung bringt Crenguţa-Beatrice Trîncă (C7) mit ihrer Untersuchung des Leseverhaltens im Mittelalter ins Spiel. Hier ist es vor allem die Beziehung zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung, vor deren Hintergrund die Bestimmung eines sich neu herausbil­denden Erfahrungsmodus geleistet werden muß. Gegenüber den klerikalen Lek­türetechniken, wie sie bis dahin vorherrschten, etablieren sich mit dem Eindrin­gen der weltlichen volkssprachlichen Literatur in die Schriftlichkeit Leseformen, die über die im religiösen Kontext erlebten Erfahrungsmodi hinausweisen und der ästhetischen Erfahrung, etwa mit ihrer Funktionalisierung als ein Medium zur Geschlechterkonstituierung, völlig neue Momente einschreiben.

[5] Während die Qualitäten ästhetischer Erfahrung in Antike und Mittelalter überwiegend auf werkimmanenter und kulturhistorischer Basis zu erschließen waren, liegt in der Neuzeit ein reicher Fundus an expliziten theoretischen Kon­zeptionen vor. Dabei kommt der Untersuchung ihrer Historizität in doppelter Hin­sicht eine besondere Relevanz zu. Zum einen rekurriert ein Großteil der neuzeit­lichen Konzeptionen auf ‚antike‘ Erfahrungsmodelle. Zum anderen haben gerade die im 18. Jahrhundert entwickelten Konzeptualisierungen der ästhetischen Erfahrung die Diskussionen bis in die Moderne hinein bestimmt und gefördert. Die beiden Beiträge der zweiten Untersektion diskutieren daher vier der in dieser Hinsicht markanten Positionen und greifen dabei zugleich Fragenkomplexe auf, die sich bereits in den vorausgehenden Beiträgen als zentral erwiesen hatten. Anhand der Laokoon-Lektüren von Winckelmann, Lessing und Lenz widmet sich der Beitrag von Marie-Christin Wilm (C2) dem Problem der Leidenstoleranz ästhetischer Erfahrung. Während im Kontext eines illusionistischen Kunstver­ständnisses (bei Winckelmann und Lessing) das darzustellende Leiden in einem gewissen Rahmen gehalten werden muß, um noch ästhetisch erfahrbar zu sein, wird der Gegenstand auch maximalen Leidens bei dem Kantschüler Lenz durch die reflexive Distanz relativiert, die durch die Erfahrung seiner künstlerischen Darstellung errichtet wird. Das Verhältnis von Ästhetischem und Politischem wie­derum rückt auch im letzten Beitrag der Sektion, in Jens Szczepanskis (C1) Untersuchung zu Friedrich Schillers Idee einer ästhetischen Erziehung des Men­schen ins Zentrum, der nun jedoch gerade danach zu fragen hat, wie das Ver­hältnis, in dem das Subjekt der ästhetischen Erfahrung zu seinen nicht-ästhe­tischen Gestalten steht, unter der Voraussetzung einer Autonomie von Kunst zu beurteilen ist.

2.

[6] Vor dem Hintergrund der Ästhetischen Theorie der westlichen Moderne – also in einem gleichsam ‚intrakulturellen‘ Rahmen – widmet sich die zweite, Beiträge aus Philosophie, empirischer Psychologie und Religionswissenschaft versam­melnde Sektion der Frage nach der Reichweite des Konzepts der ästhetischen Erfahrung in systematischer Absicht. Gegenüber den historischen Unter­suchungen geht es in dieser Sektion nun darum, zeitgenössische Konzeptionen der ästhetischen Erfahrung so mit jeweils anderen Theoriesprachen zu konfron­tieren, daß ihre begrifflichen Voraussetzungen klarer hervortreten und in ihrem Potential sowie ihren Begrenztheiten diskutierbar werden. Eine solche Kontu­rierung kann freilich aus sehr unterschiedlichen Perspektiven vorgenommen wer­den. Sie kann erstens strikt innerhalb des ästhetischen Diskurses angesetzt wer­den, indem das Paradigma der ästhetischen Erfahrung kritisch mit anderen Para­digmen des Ästhetischen, etwa dem werkästhetischen, konfrontiert wird. Sie kann zweitens von einem methodischen Außen her erfolgen, indem die Konzep­tionen der ästhetischen Erfahrung durch Ergebnisse aus den empirischen Wissen­schaften perspektiviert werden. Und drittens können die Konzeptionen ästhe­tischer Erfahrung auch auf die in ihnen latent wirkenden Modelle außerästhe­tischer Erfahrung, etwa der religiösen, hin untersucht werden. Auch die zweite Sektion versteht sich als ein Beitrag, den durch die Entwicklungen in der Kunst selbst gegebenen Impuls zur Reflexion der Reichweite des Konzepts ästhetischer Erfahrung in der Theoriebildung aufzunehmen.

[7] Die ersten beiden Beiträge der Sektion folgen diesem Impuls im Blick auf das Problem einer Bestimmung des ästhetischen Objekts. Denn die Dominanz der rezeptionsästhetischen Perspektive – denkt man an die verschiedenen Vor­schläge, die Struktur der ästhetischen Erfahrung zu fassen – hat, so könnte man meinen, in der philosophischen Ästhetik zu einer Vereinseitigung ihrer Frage­stellung geführt. Produktions- und werkästhetische Überlegungen zur Verfaßtheit ästhetischer Gegenstände wurden der Frage nach der spezifischen Struktur ihrer Gegenstände nachgeordnet. Entsprechend scheinen die derzeit philosophisch relevanten Debatten der Ästhetik kaum mehr in einem konstitutiven Bezug zu der künstlerisch relevanten Praxis der letzten Jahre zu stehen. Doch gilt dies nur auf den ersten Blick. Denn die philosophische Reformulierung des Begriffs der ästhetischen Erfahrung erfolgte in den siebziger Jahren auch als Reaktion auf die Entwicklungen in der Kunst selbst, darunter vor allem die Zersetzung der tradi­tionellen Werkeinheit. Zu fragen ist daher, ob sich die verschiedenen Theorien der ästhetischen Erfahrung nicht auch als implizite Vorschläge zu einer Neube­stimmung des Werkbegriffs rekonstruieren lassen und inwiefern diese Vorschläge gerade mit Blick auf die jüngsten ästhetischen Phänomene hilfreich sein können. Ausgangspunkt der Überlegungen von Juliane Rebentisch (C1) ist die dia­gnostische These, daß die Entgrenzungstendenzen in der Kunst der letzten vier­zig bis fünfzig Jahre nicht, wie oft angenommen, die moderne Idee des auto­nomen Werks als solches angreifen, sondern allein deren objektivistisches Miß­verständnis, wie es sich unter anderem in der Idee der Betrachterunabhängigkeit von Kunst ausspricht. Aus einer erfahrungsästhetischen Perspektive zeigt sich, daß die Weise, wie die Kunst der letzten Dekaden auf den Betrachter bezogen ist, nicht aus einem kunstfremden Interesse am Betrachter folgt, sondern daraus, daß die Kunst ihre eigene Ästhetizität und das heißt: ihren Anspruch auf ästhe­tische Autonomie ernst nimmt. Während der erste Beitrag dieser Sektion mithin die These vertritt, daß das methodische Primat der ästhetischen Erfahrung den Begriff des ästhetischen Objekts nicht vernachlässigt, sondern im Gegenteil erst angemessen zu fassen vermag, geht der zweite Beitrag davon aus, daß das Kunstwerk unter dieser Prämisse nicht hinreichend von ästhetisch erfahrener Nichtkunst unterschieden werden kann. Um das Kunstwerk von nichtkünstle­rischen Objekten oder Situationen zu unterscheiden, so die These von Judith Siegmund (C1), muß der rezeptionstheoretisch ausgerichtete Begriff der ästhe­tischen Erfahrung um einen produktionsästhetischen Erfahrungsbegriff ergänzt werden.

[8] In einem offensichtlich ganz anderen Sinne wird das Konzept der ästhe­tischen Erfahrung von außen befragt, wenn man es in eine methodische Per­spektive rückt, die man nicht im engeren Sinne ‚ästhetisch‘ nennen würde. Dazu gehören die Ansätze der Experimental- und Kognitionspsychologie. Sie fragen nach den kognitiven und affektiven Kompo­nenten und Prozessen der Reizver­arbeitung im Zuge ästhetischen Erlebens, nach den hier festzustellenden inter­individuellen Konstanten sowie der möglichen Beeinflussung durch Kontext­bedingungen verschiedener Art. Ein zentraler Stel­lenwert kommt dabei der Frage zu, inwieweit das ästhetische Erleben durch Faktoren wie Wissen oder Vertraut­heit geprägt wird, ob es eher auf der Innovation im Wahrgenommenen oder gerade umgekehrt auf der Vertrautheit damit beruht. Entsprechend behandelt der Beitrag von Benno Belke und Helmut Leder (C5) das Phänomen der ästhe­tischen Erfahrung anhand einer Theorie der Informationsverarbeitung. Damit wird aus psychologischer Sicht eine Frage erneuert, die nicht nur zu den ‚klassi­schen‘ Fragen der Ästhetik gehört, sondern die auch angesichts der gesteigerten Erneuerungslogik in der Kunst der Moderne an Relevanz gewon­nen hat.

[9] Am Schluß der Sektion steht die Frage nach dem Verhältnis, welches das Konzept der ästhetischen Erfahrung zur religiösen Erfahrung unterhält. Anhand von Hans Ulrich Gumbrechts Theorie ästhetischer Präsenz untersucht der Beitrag von Roberto Sanchiño Martínez (C7) die Persistenz religiös konnotierter Modelle ästhetischer Erfahrung in der Kunsttheorie der (Post-)Moderne. Gerade vor dem Hintergrund einer Annäherung von religiösen und ästhetischen Vokabularen stellt sich aber die Frage nach der Spezifik des Ästhetischen gegenüber dem Religiösen nur um so dringlicher. Welche Transformationen des religiösen Vokabulars sind mit seiner Indienstnahme in ästhetischen Zusammenhängen verbunden? Welche Funktion kommt dem religiös aufgeladenen Ästhetischen hier zu? Der Beitrag geht davon aus, daß es sich hier nicht einfach um eine Ersetzung tradierter, zumeist christlicher Vorstellungen im Zeichen einer säkularisierten Moderne, sondern vielmehr um eine komplexe Doppelgeste handelt, die zugleich unter modernitäts- wie unter religionskritischen Vorzeichen steht.

3.

[10] Der Beziehung zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung, wie sie von Roberto Sanchiño Martínez in systematischer und von Crenguţa-Beatrice Trîncă in historischer Hinsicht untersucht worden ist, widmet sich schließlich, aus kulturvergleichender Perspektive, auch der Beitrag aus der Indologie. Dabei liegt die Stärke des kulturkomparatistischen Ansatzes gegenüber den historischen und systematischen Zugängen gerade darin, daß der in der indischen Kultur geführte Diskurs über Fragen des Ästhetischen ein in Bezug auf die europäische Moderne weder vorgängiger noch intern ausgefochtener, sondern gänzlich eigenständiger ist. Insofern markiert der indische Raum eine Außenperspektive, auf deren Grundlage die uns geläufigen und, aus eurozentrischer Perspektive, als selbst­verständlich erscheinenden Ausprägungen als gleichermaßen spezifische Formen erkennbar werden; eine Perspektive mithin, die überdies die gelegentlich zum Universalismus neigenden Tendenzen der modernen, westlichen Theorie in besonderem Maße in Frage zu stellen vermag. Im Beitrag von Cecilia Byström (C3) zeigt sich dies vor allem an dem Widerstand, den die indische Kunstkon­zeption der westlichen Differenzierung zwischen Kunst- und Kultobjekten entge­gensetzt. Daß sich Kultgegenstände hier sowohl religiös wie ästhetisch erfahren lassen, führt allerdings umgekehrt auch auf Fragen, die für die westliche Diskus­sion relevant sind: so etwa auf die nach der Rolle von Kontextbedingungen für die entsprechenden Erfahrungen oder auf die nach der Autonomie des Betrach­ters. Insofern wird auf diese Weise nicht nur die Begrenztheit des ästhetischen Diskurses der westlich-europäischen Moderne transparent, sondern auch umge­kehrt das Potential, das dieser für die interkulturelle Forschung bereit hält.

 

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