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Räume ästhetischer Erfahrung:

Konjunktiver vs. disjunktiver Erfahrungsraum

 

[1] Dem konjunktiven Erfahrungsraum, dessen Konjunktivität und Räumlichkeit zur Voraussetzung haben, daß Erfahrung im Bezug auf ein „Du“ gemacht wird, ist hier der disjunktive Erfahrungsraum gegenübergestellt. Konkretisiert man den Erfahrungsraum als Raum ästhetischer Erfahrung, so wäre der disjunktive Erfahrungsraum prototypisch für diese Erfahrungsform – zumindest für die Betrachtung des ästhetischen Erfahrens der Literatur: Der Leser ist allein mit einem Buch / einem Text.

[2] Bezogen auf das Analyseobjekt wird der konjunktive Erfahrungsraum dann im Zusammenhang mit einem „Verschwinden“ ästhetischer Erfahrung von Lite­ratur betrachtet – dies im Falle der Beat- und Pop-Literatur der 1960er Jahre. Programmatisch ist hier vor allem die Kritik am Erfahrungsbegriff selbst. Er erhält Konkurrenz von Erlebnis und Ereignis. Die enge konzeptuelle Verbindung von Kunst und reflexiver Erfahrung wird aufgehoben durch die Emphatisierung von Präsenz, Einmaligkeit, sinnlicher Erregung, die andere Reize privilegiert, als das heiße Medium Literatur sie bereit hält. „Erfahren“ wird – soweit man hier, wo es um leiblich-seelisches Erleben geht, noch von Erfahrung sprechen kann – nicht das/ein Objekt, sondern der Raum – i.e. die Situation, die Atmosphäre, das Gemeinsame, verstärkt durch die die medialen Grenzen des Literarischen ent­grenzende Performanz: Rhythmus, Stimme, Lautstärke, Dynamik.

[3] Auch wenn der Relevanzbereich des disjunktiven Erfahrungsraums dem­gegenüber schlicht auf normative Kriterien des Literarischen hinauszulaufen scheint, versucht der Beitrag, diese Normativität dadurch zu unterlaufen, daß der disjunktive Erfahrungsraum für solche „Stellen“ des Literarischen / des Textes / seiner Struktur reklamiert wird, wo es, mit Linck gesprochen, zu einer „Komple­xitätsreduktion“ solcher Art kommt, daß der Text an seine Außengrenze stößt: Dort, wo er mit sehr wörtlichen Leerstellen operiert, an denen potentiell die Transgression des Rationalen wie des rein Ästhetischen angelegt ist. Die Emphase auf den disjunktiven Erfahrungsraum behauptet, daß literarische Texte ihrer konjunktiven Anschlußfähigkeit strukturell entgegenwirken, gerade weil „Komplexitätsreduktion“ „konjunktive Räume zu öffnen vermag“. Dabei bleibt aber der ästhetische Erfahrungsraum nicht so sehr im reflexiven Exklusivbereich des traditionell Ästhetischen, er befindet sich vielmehr mit der Textstruktur an deren Außen-Grenze.

[4] Während im Beitrag Dirck Lincks eine Transformation des ästhetischen Erfahrungsraums – als sein Verschwinden – konkret in der Popliteratur der 1960er Jahre verortet wird, versucht der Beitrag von Brigitte Obermayr mit dem disjunktiven Erfahrungsraum eine modernistische Konstante ästhetischer Text­erfahrung nachzuzeichnen, wobei ihr vor allem daran gelegen ist, den dis­junktiven Erfahrungsraum als „ewiges Loch“ aus der transitiven Logik der rezep­tions- und wirkungsästhetischen Leerstellentheorie zu entbinden. Die Erfahrung der Leere ist dann – genuin ästhetisch und genuin disjunktiv – eine Erfahrung des Bruchs mit der Welt- und Gegenstandserfahrung, welcher als solcher bereits in die Textstruktur eingeschrieben ist.

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