Der Fleck als Paradigma von Transformation:
Verfehlen zwischen ästhetischer Strategie und Autopoiesis
[1] So wie man davon ausgehen könnte, daß Flecken als Spuren von graphisch-motorischen ‚Fehlleistungen’ zunehmend verschwinden (angesichts etwa der Evolution der Füllhaltertechnik bis hin zum papierlosen Büro), stellt sich unter dem Gesichtspunkt des Verfehlens als ästhetischer Strategie die Frage, wann und unter welchen ästhetischen und aisthetischen Prämissen Flecken wo und wie auftauchen, als was sie wahrgenommen und erfahren werden. Nähert man sich dem Phänomen über diesen, den historisch-chronologischen Weg, und unter dem Thema der Transformation liegt dies am nächsten, wäre von Beginn an die Grenze zwischen Passiertem und Gemachtem verschwommen: Man beginne, könnte man sagen, eben an keinem Punkt, sondern von einem unbestimmten Fleck aus. Man befindet sich von Anfang an auf einem Feld genuiner und permanenter Transformation – Transformation von Erfahrung und Erfahrung als Transformation greifen auf dem Feld des ‚Fleckes’ nachdrücklich ineinander.
[2] Der am stärksten historisch orientierte Beitrag dieses Projektes, jener von Friedrich Weltzien (Von Cozens bis Körner oder: Die produktive Kraft der Flecken), verortet eine Wende in der ästhetischen ‚Fleckenkraft’ Mitte des 18.Jahrhunderts: mit Alexander Cozens Blot-Methode als einer Bildfindungsstrategie (und nicht, wie Weltzien betont, einer Bildfindungstechnik). Davor sei das Phänomen Fleck zwar zu beobachten, seit es das Phänomen Bild gibt; die Flecken figurativ zu lesen, bzw. zu sehen, sei aber eben bis Cozens kaum üblich gewesen – „der barocke Kunsthandwerker malt den Fleck als Fleck und nicht als Bild“.
[3] Dies ließe die erste Hypothese zu, wonach auch das Phänomen Fleck mit der allgemeinen (Trans-)Formation ästhetischer Erfahrung als Differenzerfahrung im Zusammenhang steht.
[4] In der Untersuchung Sabine Slaninas spielt wiederum weniger der Fleck als Bild, als vielmehr der Fleck auf dem bzw. „im Bild“ eine Rolle (Der Fleck im Bild. Spielarten taktiler Körper- und Naturwahrnehmung in Eugène Delacroix’ Porträt von Louis-Auguste Schwiter), und zwar in dem Sinne, daß der Fleck die bis dahin dominanten Sichtbarkeitsprämissen resp. die daraus resultierenden Forderungen an das Bild über- bzw. eigentlich unterschreitet. Der taktile Fleck ist Störung innerhalb der Bildordnung. Im Gegensatz zum graphischen, illusionistisch dargestellten oder auch figurativ zu lesenden Fleck konterkariert er das Sichtbarkeitsversprechen der Malerei. Der künstlerische Realisierungsakt wird ‚außerhalb’ bzw. ‚unterhalb’ der optischen Wahrnehmungsschwelle situiert.
[5] Die in den Beiträgen von Weltzien und Slanina unternommene komplementäre Perspektivierung erlaubt es nicht nur, in der Figur des Flecks die ‚historische’ Chronologie der Transformation bzw. ein Revolvieren zu untersuchen, sondern ermöglicht es zugleich, den Fleck unter medialem Gesichtspunkt als ein Ambivalenz-Phänomen zu beschreiben, welches der Spannung zwischen Zeichen und Ding unterliegt. Weder abstrakt noch ungegenständlich, so ist der Fleck doch ein Phänomen ästhetischer Transgression des Gegenständlichen; ein Phänomen, das die Gegenständlichkeit des Materials unterstreicht: Der Fleck ist ein indexikalischer Verweis auf den Sinn, der sich im Material verbirgt.
[6] Reiht man diese beiden Projekte chronologisch aneinander, wäre – wiederum im Hinblick auf die Transformationsfrage – die Vermutung zu äußern, daß sich Friedrich Weltziens Beobachtungen auf dem Terrain der Begründung einer Ästhetik der Moderne bewegen, während Sabine Slanina mit ihrem Blick auf das Werk Delacroix’ bereits eine erste Phase der Überschreitung dieser Ästhetik verhandelt.
[7] Der literaturwissenschaftliche Beitrag von Brigitte Obermayr operiert sowohl auf dem historisch-chronologischen Tableau (und profitiert dabei von der Anschaulichkeit der kunstwissenschaftlichen Untersuchungen) als auch mit dem methodischen Instrumentarium, wie es in der Untersuchung Sabine Slaninas zum Einsatz kommt. In Auslassungspunkte als Materialspur am Beispiel von A. S. Puškins Evgenij Onegin (im Vergleich mit dem Sentimentalismus) betrachtet sie diese Interpunktionszeichen als schriftrelevante Stellen(1), bzw. als Stellen, die wie die Flecken bei Delacroix Materialspur sind und die ästhetische Struktur des Versromans entscheidend figurieren. Vorgeführt wird die Transformation einer Sichtbarkeit eines Gegenstandsbezugs der Auslassungspunkte – zu einer Lesbarkeit, mit der wiederum eine Entgegenständlichung im Versromans Puškins einhergeht. Auch Obermayr geht unter historisch-chronologischer Perspektive von einer ersten Transgression der Ästhetik der Moderne bei Puškin aus.
Zum Inhaltsverzeichnis der Publikation Ästhetische Erfahrung
Anmerkung:
[1] Jurij Tynjanov sprach von der „Wortfunktion“ („slovesnaja funkcija“) der Auslassungen („propuski“) bei Puškin, er nennt sie „graphische Wörter“ („grafičeskie slova“). Jurij Tynjanov, „Illjustracii“, in: ders., Poėtika. Istorija literatury. Kino, Moskau 1977, 310-318, hier: 316. Zum gleichen Begriff kommt Jean Peytard in einer Untersuchung zu Lautréamonts Chants de Maldoror: „La mise en ‚mots graphiques’, avec application des signaux de ponctuation, a pour fonction d’induire une lecture visuelle, avec toutes les conséquences aux différents nivaux, lexical, syntaxique, sémantique.“ [Kursiv B.O.] Jean Peytard, „Les variantes des ponctuation dans les chant premier des ‚Chants de Maldoror’ (Essai d'analyse exhaustive)“, in: La genèse du texte. Les Modèles linguistiques, Paris 1982, 17-18.