Figuren ästhetischer Erfahrung:
Transformationen zwischen Sichtbarkeit und Lesbarkeit
[1] Die beiden Projekte „Ästhetische Erfahrung zwischen Anschauung und Begriff“ (TP A1, Carolin Meister) und „Ästhetische Erfahrung und Editionsphilologie“ (TP A5, Rainer Falk) kommunizieren über die Frage nach dem Verhältnis von Sichtbarkeit und Lesbarkeit: Während das erste Projekt nach den Funktionen des Diskursiven im Kontext der bildenden Kunst fragt, stehen für das zweite die Dimensionen des Visuellen im Kontext der Textedition zur Debatte. Die Figur ästhetischer Erfahrung, welche die beiden Projekte verbindet, ist in der Transformation von Sehen in Lesen bzw. umgekehrt von Lesen in Sehen gegeben.
[2] Die gemeinsame Voraussetzung dieser Figur ist, daß das Verhältnis von Sichtbarkeit und Lesbarkeit nicht mit der Dichotomie von Schrift und Bild konvergiert: Sehen und Lesen sind keine Rezeptionsformen, welche die beiden Medien voneinander scheiden. Die ästhetische Erfahrung von Texten und Bildern wird vielmehr intern durch ein Zusammenspiel von Sichtbarem und Lesbarem strukturiert. Schrift und Bild werden in diesem Sinne nicht als disjunktive Symbolsysteme verstanden, sondern als „differentielle Medien“. Um diese differentielle Qualität aufzuzeigen, beschäftigt sich Carolin Meister am Beispiel des Kubismus Picassos mit der Lesbarkeit des visuellen Elementes par excellence, nämlich der Farbe, während sich Rainer Falk anhand von Goethes Römischem Carneval der Sichtbarkeit von Typographie und Textformaten widmet. Ungeachtet der historischen Divergenz der jeweiligen Untersuchungen, geht es in beiden Fällen um herausragende künstlerische Werke, in denen sich Transformationen zwischen Sichtbarkeit und Lesbarkeit als eine spezifische Figur ästhetischer Erfahrung profiliert. So zeigt der Beitrag Carolin Meisters auf, wie es Picasso im Frühjahr 1912 mit Hilfe der Bi- und Trikolore gelingt, Farbe in die monochrome Welt des Kubismus einzuführen, ohne dabei sein Projekt einer umfassenden Semiologisierung der Bildelemente aufzubrechen, während der Beitrag Rainer Falks untersucht, wie die Antiquaschrift, in der der Erstdruck des Römischen Carneval 1789 gesetzt ist, das Werkverständnis des zeitgenössischen wie des heutigen Lesers mitbestimmt.
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