Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde
Teilprojektkonferenz im Rahmen des Sfb 626: Teilprojekt: „Gegenstandslosigkeit als Herausforderung ästhetischer Erfahrung“ ("Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“, FU Berlin)
Kein Blut mehr – eine Schnittstelle (in drei Versionen)
Erstens: Vandalismus
1913 wird Il’ja Repins Bild „Iwan der Schreckliche und sein Sohn am 16. November 1581" (1884) von Abraham Balašov, einem „geistig verwirrten Ikonenmaler“, zerstört: Mit drei Messerstrichen schlitzt er die Leinwand im Bereich der Gesichter auf und „verursacht tiefe Risse“. Der Ikonenmaler wird bei dieser Aktion mit den Worten „Genug, kein Blut mehr! Weg mit dem Blut“, zitiert. Repin kommt nach Moskau um das Bild zu restaurieren und wird nach Abschluss der Arbeiten in einem Festakt geehrt. Soweit die eine Version der Geschichte.
Zweitens: Gewalt der Neuerer
Die andere lautet: Repin sieht die Aktion im Kontext „all dieser Burljuks etc.“, er äußert den Verdacht, „der Attentäter sei von gewissen Hintermännern für den Vandalenakt eigens angeheuert worden.“ Die somit verdächtigten Neuerer melden sich mit einer Stellungnahme zu Wort, in der sie Balašovs Vorgehen verurteilen, „denn das ist Gewalt. [...] Irgendjemand könnte sich ja morgen einfallen lassen, S. Makowskij eins in die Physiognomie zu hauen dafür, daß er keinen künstlerischen Geschmack hat, und Aleksandr N. Benua dafür, daß er davon zuviel hat [...]. Schließlich könnte es dahin kommen, daß jede Personengruppe, die mit dieser oder jener Kunstrichtung sympathisiert, über eigene Schläger und Bildaufschlitzer verfügt.“
Drittens: Gewalt der Medien
Und natürlich lässt sich der Fall Balašov als Fall Realismus erzählen. Felix Philipp Ingold meint, der Ikonenmaler Balašov habe weder ein Kunstwerk zerstören noch „dessen Schöpfer verunglimpfen“ wollen, er sei vielmehr auf Repins „Hyperrealismus“ hereingefallen, habe Darstellung mit dem Dargestellten verwechselt und „tatsächlich auf Iwan den Schrecklichen eingestochen und eingeschlagen, der seinerseits gerade eben, so wie Repins Gemälde es vergegenwärtigte, auf seinen Sohn eingestochen, ihn erschlagen hatte.“ Schuld ist demnach die transparent-transzendente Bilderwelt der Ideen und deren mediale Realität. Die Tat vollzog sich dann gleichsam in dem Bild, und nicht gegen das Bild. Der Täter hat nicht das Bild, sondern das Bild hat den Täter in seiner Gewalt.
(Zitate: Felix Philipp Ingold: Der große Bruch. Rußland im Epochenjahr 1913. Kultur Gesellschaft Politik. München 2000, 144-146.
Der Maler Il’ja Repin. Auf der Suche nach Rußland. Ausstellungskatalog. Hg. V. Angelika Wesenberg, Nicole Hartje und Anne-Marie Werner. Berlin 2003, 128.)
Konzeptioneller Rahmen – die Hypothesen
Sei es Wahnsinn, sei es avantgardistischer Furor der tabula rasa, sei es krisenhafte Kulmination eines mimetischen Kunstideals, dessen Wirklichkeitseffekte sich gegen das Bild selbst kehren – dieser Schnitt ins Bild markiert eine prinzipiellere Schnittstelle: die zwischen Kunst und ihrer Vernichtung. Ob pathologisch oder poetologisch motiviert: es scheint in einer Spitzenzeit der Avantgarden mit einem ästhetischen Absolutismus, mit einem Verlust jeglicher ontologischer Relativierung des Kunstwerks zusammenzuhängen, dass eben dieses Kunstwerk seiner eigenen Stigmatisierung ausgesetzt ist.
Der paradoxe Befund einer Kunstvernichtung als Kunstbedingung ist ein Ausgangspunkt des Forschungsprojekts „Gegenstandslosigkeit als Herausforderung ästhetischer Erfahrung“. Das Projekt untersucht einen avantgardegeschichtlich sich modifizierenden Nexus von gegenstandsloser Kunst und ikonoklastischen Tendenzen – zwischen Kazimir Malevič und Avdej Ter-Ogan’jan, es beschäftigt sich mit Programmatiken der Gegenstandslosigkeit von ca. 1910 bis 1990 sowie mit Erscheinungsformen ungegenständlicher Textualität seit dem 19. Jahrhundert. Den Fokus dieser Untersuchungen bildet dabei die Frage nach den Konsequenzen der Gegenstandslosigkeit für die Erfahrbarkeit des Kunstwerks in seiner doppelten Eigenschaft als (rezeptives) ästhetisches Objekt und (perzeptives) aisthetisches Kunstding/Artefakt.
Gegenstandslosigkeit bedeutet also mehr als eine problematisch gewordene Motivation künstlerischer Semiose (gefasst unter Begriffen des Nicht-Ikonischen, des Nicht-Mimetischen, des Nicht-Referentiellen u.a.). Vielmehr ist zu fragen: Wie kann im Zeichen gegenstandsloser Kunst der gegenständliche, materielle Träger solcher Kunst überhaupt bestehen? Es geht, wenn man die Optionen einer ästhetischen Erfahrung des Gegenstandslosen in ihrer Radikalität freilegt, um tiefe Erschütterungen des medialen, ontologischen, semiotischen und materiellen Status seiner Zeichen und Zeichenträger.
Im größeren Rahmen dieses Komplexes versteht sich die spezifische Hypothese dieses Workshops: Im Moment und in der Spur der Zerstörung lässt sich ein paradoxes Verhältnis aus Dematerialisierung und Verdinglichung, aus Depräsentation und aufdringlicher, starrender Gegenwart beschreiben. Insbesondere erwarten wir eine Differenzierung des Spannungsbogens zwischen dem negativen Faktum des Nichts und der ins Transsemiotische kippenden Synthetisierung des Negativen – etwa im absoluten Nichts.
Faktur und fRaktur – Entgrenzung eines formalistischen Konzepts
Die Frage nach dem "Gegenstand" führt also die Frage nach dem "Ding" mit sich. Verbinden lassen sich diese beiden Aspekte vordergründig in einer Dialektik, wie sie im Avantgardediskurs selbst programmatisch formuliert wird: Gegenstandslosigkeit in der referentiellen Dimension (Antimimetismus, Antinarrativik, Abstraktion etc.) befördert geradezu die aisthetische Eigenwertigkeit des Kunstdings als Artefakt (in seiner Materialität und Konstruktion). Diese Dialektik wird aber insofern kompliziert, als die Ausstellung und Resistenz der aisthetischen Eigenqualität des Artefakts mittels der Faktur daran gebunden scheint, dass diese Faktur den Index des Bruchs, des Risses, des Schnitts, der Fraktur trägt.
Mit dem Begriff fRaktur greifen wir die formalistischen/konstruktivistischen Konzeptionen der faktura auf. In der faktura wird die Verdinglichung, die autonome Materialität des Gemachten und deren Wahrnehmung als Materialempfindung, zentral. Ästhetische Funktion wird den wahrnehmbaren Oberflächen zugeschrieben: Keine perspektivische Tiefenillusion in der Malerei, sondern faktische Schichten durch Farbauftrag und Pinselstrich; dieses „Materialgeräusch“ der aufgerauhten Oberfläche der Wortfaktur auch für die zaum‘-Dichtung; Montage, Collage und Konstruktion für Sujet- und Filmtheorie gleichermaßen.
Wenn die Faktur das Faktum der Gemachtheit aisthetisch präsent macht und so das Kunstwerk in seiner ästhetischen ‚Realität‘ begründet, ist von der Fraktur anzunehmen, dass wir es hier mit einer Strategie emphatischer Situierung zu tun haben, diedie Präsenz und die Existenz des Kunstwerks in Frage stellt. Materialempfindung wird desto intensiver, je beschädigter das Material ist. Insofern ist die Faktur mit der Fraktur interdependent. In den Kult des Dings (Faktur) geht die Schändung des Dings (Fraktur) ein, die starrende Präsenz des Dings ist zugleich seine Störung, wenn nicht Zerstörung. Dies ist eine Dimension von Negativität, die sich von Mimesisverweigerung unterscheidet: Die radikalste Form einer präsentativen (statt re-präsentativen) Kunst ist das "bloße" Artefakt: In seiner Blöße koinzidieren Faktur und Fraktur, Nacktes und Beschädigtes. Zerstörung stört Präsenz – und begründet sie.
Fraktur wäre dann weniger Verdinglichung als vielmehr kaputtes Zeichen. Dieses Paradoxon gilt es zu unterstreichen: Fraktur stellt den Präsenzcharakter in Frage – zerstört und gestört wird immer eine ‚Rahmenbedingung‘, eine Aura, eine Atmosphäre des unbedingt Erscheinenden. Dabei ist aber die Fraktur, die Stigmatisierung des Werks selbst auratisch – in der performativen Intensität des Angriffs. Fraktur ist nicht Zerstörung des Werks, sondern eher Zerstörung am Werk. Der mimetische Spiegel zerbricht - seine Scherben schneiden.
In einer Kunstpraxis, in der die Unterscheidung von Werk und bloßem Artefakt grundlegend ist, schlägt die Fraktur in einen Mehrwert des Werkes um, weil sie dem Werk einen ekstatischen Wahrnehmungsgegenstand einschreibt. Die Fraktur des Werks tritt hervor als Kontrafaktur des Artefakts. Die Fraktur tritt am Werk den "Beweis" dieses Werks an: einmal Medium, einmalig Gegenstand emphatischer Wahrnehmung gewesen zu sein.
Feldversuche
Untersuchungsbereiche des Workshops sind bildende Kunst, Literatur und Film. Das Spektrum der künstlerischen Fraktur reicht von definitiver Zerstörung des Artefakts bis zu den vielfältigen Formen seiner Störung, als Aufstörung seiner fakturalen Präsenz. Zerstörung "am Werk" geschieht gerade in der Spannung zwischen Vernichtung und Hervorbringung: sei es als Auskreuzen oder als Übermalen, Überschreiben, Überschmieren und Beflecken, sei es als Löschen oder als Radieren, sei es als tache, die sichtbar unsichtbar macht, sei es als spatium, das die Leere des Hintergrunds hervorstülpt.
Zu befragen wäre ein Begriffs- und Metaphernfeld, in dem sich faktural-frakturale Doppelerfahrung formuliert. Fehler, Fragment, Fraktal, Brüchigkeit, Auslöschung, Durchbruch, Ruine, Eindruck, Durchdruck, tödliches Korrektiv, Schnitt, Riss, Loch, Flecken, Schlitz, Staub, Schaden, Störung, Unterbrechung, Einbruch, organische Zersetzung, chemische Prozesse (Ätzungen, Feuer), elektrische Frakturen (Flash, Flikker, Blackout)...
Frakturen sind Spuren: Spuren von Eingriffen und Angriffen, von Manipulation und Fabrizismus. Produktionsästhetisch gewendet, ist die Frage nach dem Frakturalen die Frage nach seiner techné, nach deren Operationen und Instrumenten (Naht, Kerbe, Kratztechniken, Schneiden und Stechen von Druckvorlagen, Filmschnitt, lettristische Decollagen).
Frakturen sind beigebracht, durch Handlungen, Akte, Prozesse. Sie verdichten eine Intensität der Performanz, und sie sind performative Effekte. Unter dem Aspekt des Performativen lenkt das Thema des Frakturalen den Blick auf Gefahrenzonen einer störend-zerstörenden Aisthesis: etwa nach Gewalt und Strafe als Implikationen frakturaler Produktion und Rezeption. Das betrifft sowohl ikonoklastische Stigmatisierungen von Kunstwerken als auch, im weiteren Sinn, form-aversive Radikalismen der reinen Tat. Hier könnten schließlich auch transgressive Aktionismen, Performances des Angriffs und der Verstümmelung thematisiert werden.
Ein weiterer möglicher Fragenkomplex betrifft die Archivierungder Fraktur. Wie werden Zerstörungenaufgehoben? Wie werden sie musealisiert? Wie lassen sich Schäden bewahren, wie lassen sich Schwünde speichern? Was ist der "ästhetische Faktor" des Relikts?
Zeit & Ort
22.10.2004 - 24.10.2004
Podewil, Klosterstr. 68-70, Probebühne