Teilprojekt B2. Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung
Leitung
Prof. Dr. Dr. h.c. Erika Fischer-Lichte
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Dr. Benjamin Wihstutz / Frank Richarz, B.A.
Studentische Hilfskraft
Sabrina Greifenhofer / Felix Stenger
Projektbeschreibung
Das Projekt zielt auf eine Plausibilisierung der These, dass es sich bei ästhetischer Erfahrung in Aufführungen um eine Schwellenerfahrung handelt, die transformative Kraft besitzt und grundlegende Wahrnehmungsmuster und Dichotomien infrage zu stellen vermag. Nachdem in der ersten Förderphase das Verhältnis von Zuschauer und Akteur sowie der Vergleich unterschiedlicher Schwellenerfahrungen im Mittelpunkt der Forschung stand, wurden in der zweiten Phase politische Dimensionen ästhetischer Erfahrung im Gegenwartstheater untersucht, wobei sich das Augenmerk insbesondere auf die diesbezüglich politischen und ethischen Potentiale des Theaters als soziale Heterotopie richtete. In der dritten Phase wird nach der Nachhaltigkeit von Schwellenerfahrungen und der damit verbundenen langfristigen Transformationen gefragt. Eine solche Frage lässt sich nur in einem historischen Rückblick sinnvoll bearbeiten. Als Untersuchungsgegenstände wurden zwei Zeiträume ausgewählt, in denen das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft jeweils radikal neu bestimmt wurde: die Etablierung des Theaters als bürgerlicher Kunstraum um 1800 (UP1) und das politische Theater der Weimarer Republik als wirkungsästhetisches Programm (UP2). Darauf aufbauend soll eine Theorie länger andauernder Veränderungen entwickelt werden (UP3).
Unterprojekt 1: Ästhetische Erfahrung und Urteilsbildung im Theater als Kunstraum um 1800
(Dr. Benjamin Wihstutz)
Das Unterprojekt widmet sich der Dominantenverschiebung im deutschsprachigen Theater um 1800 hinsichtlich der Etablierung des Theaters als Kunstraum und einer damit einhergehenden neuen Ästhetik veränderter Rezeptionsbedingungen. Ziel ist es, den Zusammenhang von ästhetischer Erfahrung und Urteilskraft hinsichtlich der Bildung eines neuen bürgerlichen Geschmacks und Gemeinsinns zu untersuchen, welche das Theater nachhaltig, in einigen Aspekten bis heute, geprägt haben. Dabei geht es insbesondere darum zu fragen, inwieweit es dem Theater in unterschiedlichen Ausprägungen zwischen 1780 und 1820 gelungen ist, trotz Widerständen langfristig eine neue Rezeptionshaltung des Bürgertums gegenüber dem Theater als Kunst zu etablieren, die für das 19. und 20. Jhdt. neue Maßstäbe ästhetischer Erfahrung und Urteilsbildung setzte. Sowohl mit Blick auf das Weimarer Hoftheater unter der Leitung Goethes als auch auf das Berliner Nationaltheater unter Iffland wird somit einerseits die Etablierung eines neuen Selbstverständnisses des Theaters als Kunstraum in den Blick genommen und andererseits nach damit verbundenen kulturellen Transformationen hinsichtlich einer bürgerlichen Habituskonstitution zwischen ästhetischer Erfahrung, Gemeinsinn und Bildungsanspruch des Theaters gefragt. Anhand von historiografischen Quellenanalysen und der Heranziehung ästhetischer Theorie widmet sich das Projekt somit dem Theater als Schwellenraum zwischen Autonomieanspruch und sozialem Ereignis, dessen Spannungen um 1800 maßgeblich die bürgerliche Kultur und ihr Kunstverständnis beeinflusst haben.
Unterprojekt 2: Ästhetische Bildung und Urteilskraft im „politischen Theater“ der Weimarer Republik
(Frank Richarz, B.A.)
Anhand exemplarischer Regiearbeiten (Martin, Jessner, Piscator, Brecht sowie Aufführungen von Arbeiterkollektiven) widmet sich das Unterprojekt der Frage, auf welche Weise das politische Theater der Weimarer Republik eine subjekttransformierende Wirkung auf die Zuschauer zu entfalten versuchte und durch Praktiken ästhetischer Bildung zur Subjektivierung (Foucault) von Arbeitern und Bürgern beigetragen hat. Dabei soll die Vorstellung kritisch hinterfragt werden, die Bürger der Weimarer Republik unterlägen einer zunehmend individualisierenden Subjektbildung vom Bürgertum zum Einzelbürger, während die Arbeiter sich in einem kollektivierenden Subjektivierungsprozess befänden (vom Arbeiter zum Proletariat). Stattdessen soll mithilfe des heuristischen Begriffs der „postbürgerlichen Urteilskraft“ eine Vermittlungsinstanz zwischen individuellem Geschmacksurteil, kollektivem Gemeinsinn und sozialem Milieu untersucht werden. Das politische Theater der Weimarer Republik ist bestimmt von Programmen politisch-ästhetischer Erziehung oder Agitation. Dem Anspruch politisch-ästhetischer Einflussnahme stehen die grundsätzliche Unplanbarkeit ästhetischer Erfahrung und eine mehr oder weniger kritische Urteilskraft gegenüber. Die politisch-ästhetische Wirkungsgeschichte des Theaters der Weimarer Republik lässt sich nur aus der Betrachtung beider Seiten rekonstruieren. Die jeweils konkrete Ausformung des Spannungsverhältnisses zwischen Agitation/Manipulation einerseits und Kritik/Emanzipation andererseits entscheidet darüber, ob ästhetische Bildung zur Disziplinierung neuer „Untertanensubjekte“ beiträgt oder im Rahmen einer „Ästhetik der Existenz“ neue und diverse Subjektformen hervorzubringen hilft. Dem gilt es, nicht zuletzt durch Erschließung neuer Quellen, nachzugehen.
Unterprojekt 3: Wirkungsästhetische Ansätze zur Ausbildung länger andauernder Dispositionen
(Prof. Dr. Dr. h.c. Erika Fischer-Lichte)
In den verschiedensten Wirkungsästhetiken bis ca. 1800 und seit ca. 1900 wird ebenso wie in Goethes Ästhetik der Autonomie implizit und zum Teil ganz explizit postuliert, dass häufige Theaterbesuche länger andauernde Transformationen im Zuschauer zu bewirken vermögen. In enger Zusammenarbeit mit den beiden anderen Unterprojekten und unter Rekurs auf die von ihnen erarbeiteten Ergebnisse soll der Versuch unternommen werden, die bisherige Theorie von ästhetischer Erfahrung als Schwellenerfahrung unter der Perspektive möglicher länger andauernder Transformationen weiter zu entwickeln. Ins Zentrum des Interesses tritt damit das Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und ästhetischen und außerästhetischen Urteilen sowohl während der Aufführungen als auch im Anschluss an sie. Dabei wird von der Hypothese ausgegangen, dass es die wiederholten Wechselwirkungen zwischen somatischen Veränderungen und Urteilen sind, denen eine wichtige Funktion in diesem Prozess zukommt. Sie gilt es daher vor allem zu theoretisieren.