Springe direkt zu Inhalt

Teilprojekt A12. Entgrenzungen von Kunst/Werk und Ding

Sofia Hultén, Nu Cave, Mixed Media, 2011

Sofia Hultén, Nu Cave, Mixed Media, 2011

Leitung

Prof. Dr. Peter Geimer

Wissenschaftliche MitarbeiterInnen

Dr. des Leena Crasemann / Maria Remesat, M.A.

Projektbeschreibung

Das Teilprojekt geht davon aus, dass zu den Grundlagen und Bedingungen ästhetischer Erfahrung maßgeblich auch die Materialität und Dinghaftigkeit von Kunstwerken gehört. Diese Dinghaftigkeit ist von den Erscheinungsweisen des Kunstwerks nicht abzulösen. Zudem teilen Kunstwerke ihren Status als Ding mit Alltagsobjekten, so dass sich für sie immer schon eine Beziehung zum Bereich des nicht-künstlerischen Gebrauchs und Umgangs ergibt. Erst durch künstlerische Gestaltung, Akte des Interpretierens und Urteilens, Zuschreibungen und institutionelle Rahmungen können die verwendeten Dinge zum ästhetisch erfahrbaren Werk werden. Dieser Transformationsprozess vom Ding zum Kunstwerk ist weder irreversibel noch von historischen, kulturellen und institutionellen Kontexten unabhängig. Das Verhältnis von Kunstwerk und Ding gibt sich damit als eine Geschichte variierender Grenzziehungen und Entgrenzungen zu erkennen.

Zwei Thesen sind für unsere Arbeit entscheidend: 1. Ästhetische Erfahrung konstituiert sich an den Grenzverläufen, den Schwellen und Übergängen zwischen künstlerischen und außer-künstlerischen Phänomenen, das heißt dort, wo der ästhetische Status des Kunstwerks nicht gesichert ist, sondern in Frage steht und sich in Absetzung von seinem Charakter als bloßes Ding zuallererst herausbilden muss. 2. Der potentiellen Kunstwerdung des Dings entspricht zugleich eine potentielle Dingwerdung der Kunst, sobald nämlich die Dinghaftigkeit des Werks sich aufdrängt und die Wahrnehmung gar zu dominieren vermag.

Vor diesem Hintergrund geht unser Teilprojekt den Entgrenzungen zwischen Kunst/Werk und Ding, zwischen ästhetischer Erfahrung und lebensweltlichem Gebrauch, zwischen künstlerisch vermittelter Illusion und Erscheinen der ‚Sache selbst‘ in seinen verschiedenen historischen Ausformungen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach.

Unterprojekt 1: Malerei, Fotografie, Ding. Wirklichkeitseffekte in den Panoramen des 19. Jahrhunderts

(Prof. Dr. Peter Geimer)

Die Kunst des 20. Jahrhunderts hat verschiedene Formen der Einbeziehung realer Gegenstände in die Sphäre des Kunstwerks hervorgebracht (Collage, ready made, objet trouvé, combine painting etc.). Die damit einhergehende Entgrenzung des Kunstwerks durch die Einverleibung von Gebrauchsgegenständen und Konsumgütern scheint eine Errungenschaft der Avantgarde zu sein, die erst durch die radikale Infragestellung des traditionellen Tafelbildes sowie einen ‚Ausstieg aus dem Bild‘ möglich geworden ist. Allerdings hat bereits die Malerei des 19. Jahrhunderts eine besondere Form der Entgrenzung von Kunstwerk und Ding entwickelt, nämlich das faux terrain der Panoramen, jene Zone zwischen bemalter Leinwand und Betrachterplattform, in der man reale Gegenstände (Waffen, Mobiliar, Steine, Vegetation etc.) deponierte, um die illusionistische Malerei bis an die Realpräsenz der Dinge heranzuführen. Als integraler Bestandteil einer auf größtmögliche Illusion gerichteten Kunst unterscheidet sich das faux terrain einerseits radikal von den genannten avantgardistischen Synthesen von Kunst und Ding, die mit den illusionistischen Effekten der Malerei gerade brechen wollten. Andererseits unterscheidet es sich aber auch von den tradierten Verfahren des trompe l'œil, da im faux terrain kein täuschend echt gemalter Gegenstand gezeigt wird, sondern der ‚kunstlose‘ Gegenstand selbst. Was als bloßer Überbietungseffekt einer illusionistischen Kunst erscheinen mag, erlaubt es vielmehr, eine ästhetische Praxis in den Blick zu nehmen, die eine Voraussetzung sämtlicher Bildtheorien problematisiert – nämlich die Grundannahme, dass ein Bild immer Bild von etwas ist, Darstellung einer Sache, mit der es selbst nicht übereinstimmt. Diese Differenz zwischen dem Bild als Gegenstand eigener Materialität und dem, was im Bild zur Anschauung kommt, wird in den Objekten des faux terrain in der Schwebe gehalten.

Damit stellen sich grundsätzliche Fragen an den ästhetischen und kunsttheoretischen Status dieser Konfrontation von Malerei und ‚Sache selbst‘: Inwieweit sind die Gegenstände des faux terrain vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kunsttheorie und Ästhetik überhaupt integrierbarer Bestandteil des Werkes? Wie verhalten sie sich – als ‚vorgefundene‘, das heißt nicht eigentlich ‚gemachte‘ Gegenstände – zu tradierten Kategorien wie Autorschaft, Originalität oder Stil? Mit welchen Mitteln und Verfahren soll hier ein neuer Erlebnisraum gestaltet werden? Ziel des Unterprojekts ist es, das Panorama als einen neuen und spezifischen Raum ästhetischer Erfahrung zu analysieren, der maßgeblich auf einem komplexen Zusammenspiel von ‚Wirklichkeitseffekten‘ beruht.

Unterprojekt 2: Nahtstellen. Genähte Objekte in der Bildenden Kunst seit 1960

(Dr. des. Leena Crasemann)

Die Frage nach dem Verhältnis von stofflicher Beschaffenheit, Grenze und Dinghaftigkeit stellt sich bei der genähten Naht als konstitutivem Bestandteil von Kunstobjekten auf besondere Weise. Dabei ist die Naht nicht nur als eine mit Nadel und Faden gezogene Linie zu begreifen. Über ihren materialbezogenen Charakter hinaus evoziert sie unterschiedlichste Bedeutungsebenen, etwa wenn sie als Demarkation fungiert, wenn sie eine Wunde oder Narbe versinnbildlicht oder wenn sie als Verbindungslinie zwei Dinge zu einem fügt.

Die zu untersuchenden Kunstwerke, die von textilen Installationen über fotografische Montagen bis zu skulpturalen Gebilden reichen und von KünstlerInnen wie Louise Bourgeois, Andy Warhol oder Pip Culbert stammen, setzen die Naht als Saum, als Muster oder als Narbe ein und halten den Vollzug der handwerklichen Tätigkeit sowie die materiale Dinghaftigkeit des verarbeiteten Gegenstands stets präsent. Der genuine Akt des Nähens als einer Jahrhunderte alten Handwerkstechnik bringt das genähte Objekt hervor, das über seine Kontextualisierung wiederum zum Kunstwerk erhoben wird.

Ziel des Unterprojekts ist es, anhand ausgewählter Arbeiten das Verhältnis von künstlerischen und dinglichen Parametern am Beispiel der Naht als einer Figur der Grenzziehung zu untersuchen. Es steht zu fragen, inwiefern die Naht auf den Produktionsprozess und Moment der Fertigung verweist, die dingliche Beschaffenheit der genähten Objekte konturiert, während sie zugleich die ästhetischen Potentiale des jeweiligen Kunstwerks definiert und seinen spezifischen Werkcharakter begründet.

Unterprojekt 3: Die Glühlampe. Erscheinen und Verschwinden eines Objekts in der Kunst

(Maria Remesat, M.A.)

Am konkreten Beispiel der Glühlampe, die mit der Avantgarde Eingang in die Bildende Kunst gefunden hat, untersucht das Projekt Transformationsprozesse und Wechselwirkungen zwischen alltäglichem Gebrauchsgegenstand und Objekt in Kunst und Design. Es stellt sich die grundlegende Frage, welche ästhetischen, formalen und funktionalen Qualitäten die Glühlampe dazu prädestiniert haben, von einem im 19. Jahrhundert entwickelten Industrieprodukt zu einem Gegenstand des Designs, vor allem aber auch zum integralen Bestandteil von Kunstwerken zu werden – wobei dieser Status gegenwärtig einem erneuten Wandel unterliegt. Ein Ding wie die Glühbirne als Bestandteil von Kunst und Design gehört zugleich der außerkünstlerischen Lebenswelt an und unterliegt deshalb auch deren historischen Veränderungen, die ihre ästhetische Wahrnehmbarkeit und ihren Status als Werk oder Ding generieren.

Analysiert werden Kunst- und Designobjekte des 20. und 21. Jahrhunderts wie etwa Joseph Beuys’ Capri-Batterie, Spencer Finchs Moon Dust (Apollo 17) oder Ingo Maurers Bulb. Besondere Aktualität erhält das Projekt durch den Umstand, dass sich die herkömmliche Glühlampe gegenwärtig aufgrund der EG-Öko-Design-Richtlinie in einem Übergangsstadium befindet. Neben der Frage nach dem historischen Auftauchen und der Etablierung der Glühlampe in der Kunst stellt sich deshalb auch die Frage nach den Konsequenzen und Bedingungen ihres künftigen Verschwindens aus der Alltagswelt und ihres gleichzeitigen paradoxen Überlebens in der Kunst und als Kunst.