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Teilprojekt A10. Wirklichkeitsevokation als künstlerisches Verfahren

Mary Kelly: Post Partum Document, "Documentation III (Analysed markings and diary-perspective schema), Detail ", Toronto, Collection Art Gallery of Ontario, 1975, 27,9 cm x 35,6 cm, Plexiglas, weißer Karton, Holz, Papier, Tinte, Gummi

Mary Kelly: Post Partum Document, "Documentation III (Analysed markings and diary-perspective schema), Detail ", Toronto, Collection Art Gallery of Ontario, 1975, 27,9 cm x 35,6 cm, Plexiglas, weißer Karton, Holz, Papier, Tinte, Gummi

Leitung

Prof. Dr. Karin Gludovatz

Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen

Christian Liclair / Dr. Renate Wöhrer

Studentische Hilfskräfte

Susanne Huber / Levke Tabbert

Projektbeschreibung

Das Teilprojekt untersucht Formen von Wirklichkeitsevokation in der bildenden Kunst vorwiegend der 1960er und 1970er Jahre. Der Fokus liegt dabei auf Positionen, die dezidiert nicht auf bildkünstlerische Traditionen von Wirklichkeitsrepräsentation zurückgreifen, also etwa auf die Überzeugungskraft mimetischer Verfahren setzen. Wirklichkeitsevokation meint nicht den Versuch, Wirklichkeit ‚wiederzugeben‘, doch soll Wirklichkeit auch nicht als ‚bloßes‘ Konstrukt verabschiedet werden. Das Interesse gilt vielmehr künstlerischen Arbeiten, die Wirklichkeitsevokation auf der Verfahrensebene ansiedeln und sie in der Offenlegung dieser Verfahren als Prozess ausweisen, der Faktoren der Auswahl, Interpretation, Produktion, Präsentation etc. unterliegt und Bedingungen der Mediatisierung und des Generierens reflektiert. Die Offenlegung der Verfahren gerät dabei sowohl zum Prüfstein als auch zur Garantie des Wirklichkeitsbezugs und wird erst in dieser Ambivalenz produktiv für ein Verhältnis der Kunst zu ihrem Außen. Der zeitliche Fokus auf die 1960er und 1970er Jahre erscheint insofern als besonders ergiebig, als die Kunst dieser Jahre – insbesondere die Konzeptuelle Kunst – die Institution Kunst, ihre Kategorien und Möglichkeiten nachdrücklich einer kritischen Befragung unterzog. Dies erforderte unweigerlich auch eine Neuverhandlung der Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst und warf mithin Fragen nach einem spezifisch künstlerischen Umgang mit Wirklichkeit  auf, die bis in die Gegenwart Wirkung zeitigen. Diese werden in dem Teilprojekt anhand zweier exemplarischer Bereiche bearbeitet: Das erste Unterprojekt befasst sich mit dem Transfer dokumentarischer und somit „objektive“ Evidenz anstrebender Verfahren in die Kunst, das zweite Unterprojekt untersucht die Bedeutung subjektiver Wirklichkeitserfahrung für die feministische Konzeptkunst.

Unterprojekt 1: Paradigma Dokument. Wirklichkeitsreferenzen in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts

(Prof. Dr. Karin Gludovatz und Dr. des. Renate Wöhrer)

Das Unterprojekt untersucht Dokumentarismen in der bildenden Kunst der Moderne und Postmoderne in Hinblick auf ihr Vermögen, Wirklichkeit zu evozieren und das Verhältnis von Wirklichkeit und Repräsentation zu reflektieren. Das zentrale Interesse gilt dabei der Relation bzw. der Interdependenz von dokumentarischen Darstellungsverfahren zum jeweiligen Begriff des Dokumentarischen und zur jeweiligen Konzeption des Dokuments. Das Dokumentarische wird als eine generische Form verstanden, die in ihrer historischen Konfiguration nicht stabil und in ihrem wirklichkeitsevokativen Potential immer wieder neu zu definieren ist. Die Kategorie des Dokuments dient ihrerseits im historischen Wandel als Referenzgröße in Hinblick auf die Definition des Wirklichkeitsbezugs. Das Unterprojekt geht dabei von zwei signifikanten historischen Verschiebungen aus: Einerseits dem in den 1960er Jahren erfolgten Transfer dokumentarischer Bildformen und Verfahren aus Bereichen wie etwa Journalismus oder Wissenschaft in die bildende Kunst. Untersucht  werden die damit einhergehenden Rekonfigurationen und Resignifikationen von Darstellungsverfahren, Kategorisierungen und Begriffsbestimmungen sowie das Verhältnis von dokumentarischer zu künstlerischer Ästhetik. Ausgehend davon soll danach gefragt werden, wie sich dokumentarische Bildformen und Verfahren überhaupt formierten. Deshalb liegt andererseits der Fokus auf der Bedeutung von Konzepten und Semantiken des Dokuments, die für die Ausbildung eines Begriffs des Dokumentarischen in den 1920er Jahren entscheidend waren und auf visuelle Darstellungsformen übertragen wurden. Ziel des Unterprojekts ist, diese beiden – in der Forschung bisher weitgehend unberücksichtigten – Transferprozesse als zentrale Wendepunkte für die Ausbildung des Dokumentarischen historisch und systematisch zu untersuchen und ihre Zusammenhänge und Bedeutung in Hinblick auf die Ausbildung künstlerischer Dokumentarismen herauszuarbeiten.

Unterprojekt 2: ContraDicting Conceptualism. Die Suche nach subjektiver Wirklichkeitserfahrung in der feministischen Konzeptkunst der 1960er und 1970er Jahre

(Prof. Dr. Karin Gludovatz und Manuela Ammer, M.A.)

Das zweite Unterprojekt untersucht feministische Positionen der 1960er und 1970er Jahre, die sich im Umfeld der Konzeptkunst der Frage nach subjektiver Wirklichkeitserfahrung widmeten und so die Widersprüche zwischen Konzeption und Ausdruck produktiv machten, die für die künstlerische Praxis konstitutiv waren, jedoch in verkürzter Lesart von der Forschung häufig ausgeblendet wurden. Es verfolgt die Hypothese, dass die zeitgenössische Rezeption und in Folge die kunsthistorische Forschung durch die Fokussierung auf ein mit Schlagworten wie „Entmaterialisierung“ und „Objektivierbarkeit“ belegtes Paradigma, das primär den intellektuellen Akt und dessen Versprachlichung als maßgeblich für die Konstituierung eines Werkes erachtete, in Hinblick auf den tatsächlichen Aktionsradius konzeptueller Praktiken entschieden zu kurz griffen. Am Beispiel von Künstlerinnen wie Lee Lozano oder Ree Morton, deren Arbeiten in den letzten Jahre wieder vermehrt zu sehen waren, die in den meisten Gesamtdarstellungen zur Konzeptkunst jedoch fehlen, soll aufgezeigt werden, dass Konzeptkunst zwar die Ausdruckstheorie der Kunst in Frage stellte und Kritik an bestimmten Vorstellungen des Subjekts übte, Aussagen zu Ausdruck und Subjektivität jedoch nicht prinzipiell vermied. Lozano und Morton arbeiteten an dieser Problematik, indem sie konzeptuelle Verfahren gezielt mit Elementen verbanden, die einem dogmatischen Begriff künstlerischer Konzeption zuwiderlaufen. Ihre Auseinandersetzung mit Kategorien von Körperlichkeit und Emotionalität sowie ihr Insistieren auf individuelle Erfahrung und soziale Dimensionen innerhalb eines abstrahierten konzeptuellen Vokabulars sollen gerade in ihrer Gegenläufigkeit die ideologischen Voraussetzungen und Grenzziehungen sichtbar machen, auf denen die vorherrschende Rezeption eines Subjektivitätsmodells der Konzeptkunst gründet.