Kernthematik der KFG 2615
Rethinking Oriental Despotism - Strategies of Governance and Modes of Participation in the Ancient Near East
In der Forschung zu Genese, Formen und Wirkungsweisen politischer Ordnungen waren und sind altorientalische Herrschaftsformationen meist als Exempla autokratischer Vorläuferphänomene präsent. Festgeschriebene Kategorien und Narrative überformen gerade in der Außenwahrnehmung die Komplexität der Befunde, das komparatistische Potential und die Innovationskraft der Langzeitperspektiven altorientalischer Ereignishorizonte. Die disziplinäre Erforschung der altorientalischen Gesellschaften wiederum bedarf angesichts dynamisch wachsender Quellenbestände immer wieder übergreifend-systematisierender Forschungsansätze, die das Forschungsfeld nicht nur für die vorderasiatische Altertumskunde, sondern gerade auch für historisch und systematisch anschließende Forschungen erschließen.
Die Kolleg-Forschungsgruppe möchte hier neue Impulse für das Forschungsfeld der Herrschaftsorganisation im weiteren Sinne setzen und eine Neuakzentuierung der Forschung zur Implementierung politischer Ordnungen in den Gesellschaften des Alten Orients diskutieren: Gegenüber teilweise inadäquaten statischen Konzepten wie Despotie, Theokratie und Bürokratie sollen die dynamisch-prozessualen Formen von Governance im Spannungsfeld von Kontingenz und Formalisierung, von Partizipation und Verfahren in den Blick gerückt werden.
Die Verflechtung dreier Betrachtungsebenen charakterisiert den wissenschaftlichen Ansatz: (1) die Fokussierung auf einen konkreten historischen Evidenzraum; (2) die methodisch-kritische Reflektion der beschreibenden und klassifizierenden Begrifflichkeit auch in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive; sowie (3) die Erprobung eines theoretischen Instrumentariums, das gezielt Impulse aus systematisch und disziplinär anders gelagerten Bereichen u. a. der Governance-Forschung aufgreift.
Im Fokus steht zunächst das 2. Jahrtausend, weil dieser Chronotop mit seinen Großreichen und dem Neben- und Miteinander unterschiedlichster gesellschaftlicher Formationen gleichsam als Experimentierfeld politischer Strukturbildung erscheint. Die Heterogenität sozialer Strukturen, die Dynamik in der Gestaltung politischer Räume und nicht zuletzt eine neue Dimension politischer Interaktion und Reflexion charakterisieren diese Zeit. Die Ausbildung spezifischer Regelungsregimes, die Spannung zwischen der Formalisierung von Verwaltung (z. B. als Bedingung für die Organisation großer Reiche) und den Ordnungspotenzialen informeller Verhaltensregeln und kleinskaliger Organisation (z. B. Gewohnheit, Brauch, Sitte, Vertrauen, ethische Prinzipien) sollen in einem interdisziplinär-komparatistischen Kontext diskutiert werden.
Blickt man auf die Forschung der letzten Jahre, so zeigt sich folgendes Desiderat: Um die epochen- und kulturspezifischen Detailbeobachtungen zu synthetisieren, müssen sie einerseits immer wieder wissenschaftsgeschichtlich-begriffskritisch hinterfragt werden, andererseits müssen sie mit aktuellen theoretischen und methodischen Ansätzen aus anderen Disziplinen, z.B. Ethnologie, Rechtsphilosophie, den Rechts-, Sozial- und Politikwissenschaften konfrontiert werden. Denn nur auf diese Weise können u.E. Interpretationen und Modellierungen entstehen, die altorientalische Gesellschaften nicht einfach als Gegenbilder oder defizitäre Vorformen verstehen, sondern in ihrer „Eigenbegrifflichkeit“, d.h. in ihrer historischen Kontingenz und Relevanz konturieren. Ziel muss es also sein, das Inventar historisch-politischer Modelle so zu erweitern, dass politische Regelungsmodi, die unter traditionellen Beschreibungsmodi nur unzureichend in den Blick kommen, als Optionen politischer Organisation in der Geschichte sichtbar werden.
Das Format der Kolleg-Forschungsgruppe (KFG) bietet exakt diese Möglichkeit der Verbindung dieser beiden Perspektiven: die konkrete fachspezifische Analyse von Befunden vor dem Hintergrund des Forschungsstands und eine pluridisziplinäre Ausweitung des Themenfeldes. Mit den Begriffen Demokratie und Despotismus stellt die beantragte KFG bewusst zwei der antik-abendländischen Traditionsbildung verpflichtete Begriffe ins Zentrum, die in gewisser Weise als diametral entgegengesetzte Konzepte das Forschungsfeld inhaltlich und wissenschaftsgeschichtlich charakterisieren. Dabei soll die Betrachtungsweise grundlegend dahingehend verändert werden, dass nicht Staatsformen, sondern Organisationsformen des Politischen in den Vordergrund rücken: Es geht also um die gesellschaftlichen Manifestationen politischer Ordnung in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen. Das verfügbare Material zeigt, dass hier ein sehr viel differenzierteres Bild entstehen kann, als dies in den gängigen Modellen für den Alten Orient üblich ist.