Die hebräischen Handschriften der „Erfurter Sammlung“ als kulturhistorische Zeugen jüdischen Lebens im Mittelalter
Freie Universität Berlin
Institut für Judaistik
Bundesministerium für Bildung und Forschung
Gegenstand dieses Forschungsprojekts sind die 15 hebräischen Handschriften der sogenannten „Erfurter Sammlung“. Im Jahre 1349 begann für die Manuskripte aus dem Besitz der infolge des Pestpogroms ausgelöschten jüdischen Gemeinde eine abenteuerliche Odyssee durch Bibliotheken, die 1880 in der Orientabteilung der heutigen Staatsbibliothek zu Berlin endete. Zu der spektakulären Sammlung gehören die weltweit größte vollständig überlieferte Bibelhandschrift, vier der ältesten erhaltenen Torarollen, ein kunstvoll illuminierter Machsor – ein jüdisches Gebetbuch für die hohen Feiertage – sowie ein seltener Textzeuge eines rabbinischen Regelwerks der Antike – der Tosefta.
Ziel dieses Projekts ist es, die Handschriften erstmals als Ganzes in ihrem konkreten kulturgeschichtlichen Kontext zu betrachten und beschreiben, um aus den überlieferten Fragmenten ein klareres Bild des jüdischen Lebens in Erfurt zu formen. Dabei sollen die Handschriften selbst als soziokulturelle Quellen ihrer Entstehung und Rezeption gelesen und zu den kulturellen, architektonischen und rituellen Artefakten aus dem Umfeld der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde von Erfurt in Beziehung (rück)gesetzt werden. Denn die wertvollen Manuskripte verweisen im Kontext der vielgestaltigen Fundstücken aus dem jüdischen Erfurt auf eine bedeutende Gemeinde mit einem enormen kulturellen Erbe, die lange Zeit zu Unrecht im Schatten der Ursprungsgemeinden von SchUM (Speyer, Worms und Mainz) stand. Dieses Projekt möchte die erst vor etwa zwanzig Jahren mit Grabungsfunden ins Leben gerufene Forschung zum mittelalterlichen jüdischen Erfurt um den Aspekt der handschriftlichen Überlieferung bereichern, um der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Funktion Erfurts als zentraler Ort der jüdischen Regionallandschaft ein neues Element hinzuzufügen. Es soll das Bild von einer vor allem auf reicher materialer Kultur gegründeten Gemeinde hinterfragt und gezeigt werden, dass jüdische Schriftkultur und jüdisches Geistesleben auch ohne nachweisbare Präsenz herausragender Gelehrter eine große Rolle in Erfurt gespielt haben.
Ein Schwerpunkt der Forschungsarbeit wird auf dem Erfurter Machsor liegen, der wichtige Hinweise auf die Ritualpraxis der mittelalterlichen Gemeinde preisgeben könnte. Diese Handschrift soll einer tiefergehenden textkritischen Analyse unterzogen werden, um im Vergleich mit anderen Machsorim des Mittelalters aus dem aschkenasischen Raum liturgische Besonderheiten und spezifische performative Elemente der Erfurter Gemeinde aufzuspüren. Methodisch sollen dabei verschiedene wechselseitig aufeinander bezogene Forschungsansätze der Materialitätsforschung, der genetischen Textkritik und der Ritualtheorie sowie innovative Ansätze der digitalen Editionswissenschaft miteinander verknüpft werden.
Externe Forschungspartner: „Center for Jewish Art“ in Jerusalem; Forschungszentrum „Dynamik ritueller Praktiken im Judentum in pluralistischen Kontexten von der Antike bis zur Gegenwart“ der Universität Erfurt; „Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg“ und die Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz