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Sven Fritz

Houston Stewart Chamberlain als politischer Akteur


Trotz des gestiegenen Interesses der Geschichtswissenschaft an der Völkischen Bewegung mangelt es bislang an zuverlässigen Darstellungen ihrer Akteure, nicht nur in den Niederungen der obskuren Splittergruppen sondern auch auf der Ebene ihrer führenden Köpfe. Besonders frappierend erscheint dies im Fall des einflussreichsten rassistischen und radikal-antisemitischen Vordenkers der Völkischen Bewegung, Houston Stewart Chamberlain.

Ein Besuch der Bayreuther Festspiele 1882 machte den studierten Naturwissenschaftler Chamberlain zum fanatischen Wagner-Anhänger, der in dem mit nationalem und pseudoreligiösem Pathos aufgeladenen Wagner-Kult seine Heilsoffenbarung gefunden hatte. Er wurde in den folgenden Jahren zum engen Vertrauten der Festspielleiterin Cosima Wagner und stieg 1908 durch seine Heirat mit Cosimas Tochter Eva in die Führungsriege des dynastischen Familienunternehmens und dessen weltanschaulicher Ideenschmiede, dem „Bayreuther Kreis“, auf. Seine auf Cosimas Wunsch verfasste und 1895 veröffentlichte Biografie Richard Wagners verdichtete dessen Leben und Werk zum „Bayreuther Gedanken“ und schuf zusammen mit seinen späteren Studien zu Goethe und Kant ein Triptychon „germanischer“ Geistesgrößen, das, zusammen mit der in seinem Hauptwerk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ vertretenen These des „kulturschaffenden Germanen“ und des „kulturzerstörenden Juden“, nichts weniger als das Angebot einer auf dem Primat der Rasse basierenden völkischen Kulturtheorie darstellte. Der in den „Grundlagen“ geschickt arrangierte und wissenschaftlich verbrämte radikale Rassismus und Antisemitismus schuf darüber hinaus eine Synthese der Ansätze rassistischer Vordenker mit den Positionen völkisch-antisemitischer Politiker und bot damit die Chance, unterschiedliche völkische Ideen und ihre politischen Exponenten unter dem Dach einer gemeinsamen Weltanschauung zu vereinen. Chamberlain hatte so nicht nur das europäische Standardwerk des Rassenantisemitismus verfasst, sondern seinen Zeitgenossen das Angebot einer kohärenten und über die Tagespolitik hinausgehenden völkischen Ideologie gemacht.

Zu deren Verbreitung nutzte er ein aus seiner Position als prominenter Autor wie als Mitglied des Bayreuther Führungszirkels erwachsenes, weit gefächertes Netzwerk: Er korrespondierte mit dem Kaiser wie mit verschiedenen Angehörigen des Hofstaates, mit hochrangigen Militärs und Universitätsprofessoren, mit einer Vielzahl von Vereinen und Verbänden, Verlegern und Zeitungen sowie völkischen und antisemitischen Autoren und Publizisten. Zusammen mit seinen Publikationen ermöglichte ihm dieses Netzwerk in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, die „Judenfrage“ als die brennendste Frage der Zeit in zentralen wissenschaftlichen und politischen Diskursen zu etablieren und sie gleichzeitig zum zentralen Movens einer auf dem Primat der Rasse basierenden völkischen Bewegung zu machen.

Während des Ersten Weltkrieges radikalisierte Chamberlain seine Anschauungen und setzte nun ganz auf die revolutionäre Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse durch den Krieg. Beredtes Zeugnis über diesen Paradigmenwechsel geben Chamberlains „Kriegsaufsätze“, deren radikal rassistische, pangermanische, antisemitische und auf deutsche Weltherrschaft abzielende Hasstiraden Millionenauflagen erreichten und die Soldaten in einer „Schützengraben-Ausgabe“ an die Front begleiteten. Resultat dieser weltanschaulichen Radikalisierung war eine verstärkte politische Tätigkeit, die nun auch das Engagement in der Tagespolitik und den Eintritt in politische Organisationen beinhaltete: 1916 trat er dem Alldeutschen Verband bei, für den er sich fortan publizistisch betätigte und zu dessen Anführern er enge persönliche Verbindungen pflegte. 1917 wurde er Mitglied der Vaterlandspartei, mit deren Gründern er die radikal-völkische Zeitung „Deutschlands Erneuerung“ herausgab. Chamberlain war damit zu einem der wirkmächtigsten Verfechter eines rassisch fundierten Imperialismus und gleichzeitig zum einflussreichen Akteur innerhalb der Machtzentren der äußersten Rechten geworden.

Als strategisch denkender Kopf realisierte Chamberlain nach der deutschen Niederlage schnell, dass sich die bisherigen Formen des politischen Kampfes zur Durchsetzung seiner Ziele nicht eigneten. Anstatt, wie die Mehrzahl der völkischen Akteure seiner Generation, in der politischen Versenkung zu verschwinden, vollzog er früh die Wendung hin zum Nationalsozialismus. Auch Hitler erkannte die Chancen, die im Schulterschluss mit dem prominenten Vertreter der „alten völkischen Garde“ lagen und machte im September 1923 Chamberlain seine Aufwartung. Zu größeren politischen Aktionen war dieser aufgrund zunehmender Krankheiten in den nächsten Jahren jedoch nicht mehr fähig. Als er 1927 im Alter von 71 Jahren starb, überboten sich die völkischen Organisationen in ihrer Ehrerbietung, doch nur die NSDAP konnte ihn als Mitglied bezeichnen. Chamberlain war zum Bindeglied zwischen der im Krieg radikalisierten völkischen Bewegung und dem Nationalsozialismus geworden.

Vor diesem Hintergrund lassen sich zusammenfassend sechs Themenkomplexe benennen, die im Rahmen der Dissertation zu untersuchen sind. Dies ist 1. Chamberlains Rolle innerhalb des „Bayreuther Kreises“ und als völkischer Kulturtheoretiker in der Bayreuther Ära Cosima Wagner; 2. sein Einfluss als Autor des Weltanschauungs-Werkes „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ auf die völkische Bewegung und auf die Bayreuther Festspiele nach Cosima Wagners Ausscheiden aus der Festspiel-Leitung; 3. seine Rolle bei der Etablierung der „Judenfrage“ als zentraler Frage deutschnationaler und völkischer Politik; 4. die Modifizierung und Radikalisierung seiner Vorstellungen während des Ersten Weltkriegs; 5. seine Haltung zur völkischen Bewegung und zum frühen Nationalsozialismus und schließlich 6. die Funktionsweise und Dynamik deutschnationaler und völkischer Netzwerke, wie sie in Chamberlains umfangreicher Korrespondenz ihren Niederschlag gefunden haben.

Curriculum Vitae

    • 2001-2008 Studium der Geschichtswissenschaft, Systematischen Musikwissenschaft und Volkskunde an der Universität Hamburg. Abschluss mit einer Arbeit zu den SS-Ärzten des KZ Neuengamme.
    • 2007-2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Wanderausstellung „Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der ‚Juden‘ aus der Oper 1933-1945. Die Ausstellung war an den Staatsopern bzw. Staatstheatern Hamburg, Berlin, Stuttgart, Darmstadt und Dresden zu sehen. Sie wird bis Ende 2013 auf dem Festspielhügel der Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth gezeigt.
    • 2010 Anfertigung eines wissenschaftlichen Gutachtens zur Geschichte des „Eimsbütteler Turnverbandes“, des gegenwärtig drittgrößten Sportvereins in Hamburg.
    • 2010-2013 Co-Autor und Leiter des Rechercheteams der Wanderausstellung „Verstummte Stimmen“.
    • Seit 2013 Stipendiat des Elsa-Neumann-Stipendiums des Landes Berlin

Publikationen

Monographien

    • „…daß der alte Geist im ETV noch lebt.“ Der Eimsbütteler Turnverband von der Gründung bis in die Nachkriegszeit, Hamburg 2010.

Sammelbände

    • Sven Fritz/Jens Geiger (Hg.), Viele Schichten Wahrheit. Beiträge zur Erinnerungskultur (Festschrift für Hannes Heer), Berlin 2014.
    • Hannes Heer/Sven Fritz (Hg.), „Weltanschauung en marche.“ Die Bayreuther Festspiele und die „Juden“ 1876 bis 1945. Sammelband zur wissenschaftlichen Konferenz im Juli 2012 in Bayreuth, Würzburg 2013.
    • Hannes Heer, Sven Fritz [u.a.], Die Vertreibung der „Juden“ und „politisch Untragbaren“ aus den hessischen Theatern 1933 bis 1945, Berlin, Wiesbaden 2011.

Aufsätze

    • Geschichte der Bayreuther Festspiele 1912, in: Hannes Heer, Jürgen Kesting, Peter Schmidt (Hg.), Verstummte Stimmen. Die Bayreuther Festspiele und die „Juden“ 1876-1945, Berlin 2012, S. 105-132.
    • zusammen mit Jens Geiger, Die Opfer der Vertreibungen in Bayreuth, in: ebenda, S. 320-373.
    • Die Vertreibung der „Juden“ und „politisch Untragbaren“ aus den Theatern Wiesbaden, Kassel, Mainz und Gießen, in: Heer/Fritz, Die Vertreibung der „Juden“ und „politisch Untragbaren“ aus den hessischen Theatern, S. 265-348.
    • Die SS-Ärzte des KZ Neuengamme. Praktiken und Karriereverläufe, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Das KZ Neuengamme und seine Außenlager. Geschichte, Nachgeschichte, Erinnerung, Bildung, Berlin 2010, S. 182-198.

Vorträge

    • Houston Stewart Chamberlain und der Eintritt Wahnfrieds in die Tagespolitik: Kriegsschriften, Alldeutscher Verband und Vaterlandspartei, Konferenz zur Ausstellung „Verstummte Stimmen“, 14. 7. 2012 Bayreuth.
    • Kontinuitäten. Dresdner Kulturträger im Dritten Reich und ihre Karrieren in Ost- und Westdeutschland, 7. 7. 2011 Staatsschauspiel Dresden.
    • Kahlschlag. Die Vertreibung der „Juden“ aus den Theatern in Wiesbaden, Kassel, Mainz und Gießen, 10. 10. 2009 Staatsarchiv Darmstadt, 9. 11. 2010 Staatsoper Frankfurt/M.
    • „…daß der alte Geist im ETV noch lebt“. Der Eimsbütteler Turnverein 1889 bis in die Nachkriegszeit, 8. 10. 2010 ETV-Sportzentrum Hamburg.
    • Die SS-Ärzte des KZ Neuengamme. Selbstverständnis, Praktiken, Karriereverläufe, Tagung der KZ Gedenkstätte Neuengamme und der Universität Hamburg zum Thema „Das KZ Neuengamme und seine Außenlager“, 2. 10. 2009, Universität Hamburg.

Kontakt

    fritz[at]verstummtestimmen.de