Britta Marzi
Theater des Westens
Die Krefelder Bühne in Stadt, Region und Reich (1884-1944)
Rahmen, Akteure, Programm und Räume des Theaters in der Provinz
„Vom Forschungsschiff Theaterwissenschaft aus gesehen ist Theater noch zu oft ein Eisberg, dessen ästhetisch herausragendes Spitzenzehntel diskutiert wird” – dieser Befund des Theaterwissenschaftlers Andreas Kotte trifft ebenso auf die Geschichtswissenschaft zu. Ob sich Historiker oder Theaterwissenschaftler mit Theatergeschichte beschäftigen – häufig stehen renommierte Bühnen der Metropolen, avantgardistische Inszenierungen, prominente (meist männliche) Regisseure und Schauspieler im Vordergrund. Der historischen Realität im Untersuchungszeitraum, der von 1884 bis 1944 reicht, wird dies nicht gerecht, befanden sich doch 90 Prozent der Theater in der Provinz. Es wird also, nach ersten übergreifenden Studien wie jenen von Konrad Dussel (1988) und Anselm Heinrich (2007), Zeit, sich eingehender mit dem Theater in der Provinz zu befassen, und das auf verschiedenen Ebenen der Theaterhierarchie.
Wenn der Schauspieler Emanuel Krämer auf die Jahre um 1900 zurückblickt und berichtet, wie der betrunkene Kutscher auf der Rückfahrt von einem Gastspiel in Moers den Wagen in den Graben lenkte und dass Komiker, Bonvivant und Souffleuse den Heimweg zu Fuß fortsetzten, erkennen wir bereits, dass das Provinztheater seine ganz eigenen Produktionsbedingungen hatte.
In meiner geschichtswissenschaftlichen Dissertation greife ich das Stadttheater Krefeld heraus und beleuchte die Arbeitsbedingungen von Bühnenschaffenden in der Provinz während dreier politischer Systeme (Monarchie, Republik, Diktatur).
Die Arbeit beruht auf drei Säulen. Erstens untersucht sie die Motivlagen unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure der kommunalen Kulturpolitik: Die Interessen privater Förderer, die 1884 das Theater als Aktiengesellschaft gründeten, die der Theaterdirektoren, die als private Pächter und später als von der Stadt angestellte Intendanten zugleich ökonomische und ästhetische Zielsetzungen verfolgten, die der Kommune (die das Theater ab 1912 übernahm), die Motivlagen der Bühnenangestellten als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Spielräume der Publikumsorganisationen.
Zum zweiten analysiert die Arbeit die Spielpläne und geht der Frage nach, inwieweit historische Ereignisse Einfluss auf die Theaterarbeit nahmen: Wie wirkten sich Erster Weltkrieg, Revolution 1918/19, belgische Besatzung, Separatistenunruhen, Inflation, nationalsozialistische „Machtergreifung“ und die Zerstörung des Theaters durch Bomben im Jahr 1943 aus auf den Theaterbetrieb der niederrheinischen Textilstadt in „Preußens ‚wildem Westen‘“ (Christoph Nonn)?
Damit ist bereits die dritte Säule angesprochen: Das Theater wird in der dichten rheinischen Theatertopografie verortet. Mit Abstechern bespielten die Krefelder Theaterschaffenden den Niederrhein von Kleve bis Aachen und konkurrierten dabei mit anderen Bühnen. Im April 1900 traten sie in Antwerpen auf, in den 1930er und 1940er Jahren in den Niederlanden. Das Ballett unternahm 1941 eine umjubelte Gastspielreise durch Italien. Das Krefelder Theater strahlte in die Region und über nationale Grenzen hinweg aus.
Erstaunlich ist, wie sehr zeitgenössische Debatten, etwa zu Subventionen oder Fusionen, an aktuelle Diskussionen im Kulturbetrieb erinnern. Angesichts der erfolgreichen, seit 1950 bestehenden Theaterehe Krefeld-Mönchengladbach lohnt es sich, den Ursprüngen des niederrheinischen Theaters auf die Spur zu kommen und die Schätze an Programmheften, Jahrbüchern, Fotografien, persönlichen Aufzeichnungen, Zeitungsartikeln und amtlichen Akten zu heben und aufzuarbeiten, die in Krefelder, Düsseldorfer, Kölner und Berliner Archiven zu diesem spannenden Thema zu finden sind.
Curriculum Vitae
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2017 Veröffentlichung der Dissertation mit einem Vorwort von Gertrude Cepl-Kaufmann in der Reihe „Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas“ (hg. v. Horst Lademacher) im Waxmann-Verlag unter dem Titel „Theater im Westen“ [Link]
- 2015-2018 Wissenschaftliche Referentin und Projektmitarbeiterin für Publikationen und Öffentlichkeitsarbeit im Referat Public History, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn
- 2015 Promotion am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin
- 2013 Projektmanagerin der Architekturausstellung MIES 1:1 Das Golfclub Projekt(Krefeld, Egelsberg, 26.05. - 27.10.2013), Mies van der Rohe e. V., Krefeld [Link]
- 2012-2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kunsthistorikerin und Kuratorin Christiane Lange, Krefeld, u. a. für die Ausstellung Vision und Perspektive. Krefelder Baukultur von Bernhard Pfau (Hochschule Niederrhein, 17.06. - 09.08.2013)
- 2009-2011 Mitarbeiterin am Jüdischen Museum Berlin im Sammlungsbereich Alltagskultur, u. a. für die wirtschafts- und familiengeschichtliche Ausstellung "Du bist bei Parfümören angekommen" (02.09.2010 - 31.01.2011) [Link]
- 2009 Magister Artium mit der Arbeit „Die Zeitschrift ‚Cosmopolis‘ (1896-1898). Ein britisch-französisch-deutsches Periodikum im ‚Zeitalter des Nationalismus‘“
- 2006 Wissenschaftliches Praktikum am Centre de Recherche Lionel-Groulx in Montréal (Kanada), Mitarbeit bei der Edition der Korrespondenz von Lionel Groulx [Link]
- 2005-2009 Studentische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte von Hagen Schulze
- 2004 Wissenschaftliches Praktikum am Deutschen Historischen Institut Paris
- 2003/2004 Studium an der Université de Paris X – Nanterre und am Institut d’Histoire de la Révolution Française der Université Paris I – Panthéon-Sorbonne
- 2002 Praktikum in der Dramaturgie des Deutschen Theaters in Göttingen
- 2001-2009 Studium der Geschichte, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin
- 2001 Bilinguales Abitur (dt.-engl.) in Tönisvorst
- 1999 Journalistisches Praktikum bei der Rheinischen Post, Lokalredaktion Krefeld
- seit 1997 Freie Mitarbeiterin der Rheinischen Post
Forschungs- und Studienschwerpunkte
- Deutsche Theatergeschichte 1880-1945
- Stadtgeschichte 1880-1945
- Europäische Zeitschriften um 1900
- Kultur- und Mediengeschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus
- Erwin Piscators Politisches Theater und das Totaltheater von Walter Gropius
- Die Kritiker Ernst Heilborn (1867-1942), Alfred Kerr (1867-1948) und Herbert Ihering (1888-1977)
- Siegfried Kracauer (1889-1966) und die Massenkultur
- Gertrude Stein, Picasso und Matisse
- Lionel Groulx (1878-1967) und der Nationalismus in Québec
- Architektur des 20. Jahrhunderts
Publikationen
- Herausgabe des Sammelbands Ein Bild von Karl Marx… entwerfen. Kunst_historische Perspektiven. Dokumentation des Symposiums am 7. Mai 2016 im Karl-Marx-Haus in Trier, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2018, 104 Seiten [Link].
- Leere Sockel, gesprühte Parolen, gelbe Pullover – vom Umgang mit Marx-Denkmälern im öffentlichen Raum. Zur Einführung, in: Britta Marzi (Hg.): Ein Bild von Karl Marx … entwerfen. Kunst_historische Perspektiven. Dokumentation des Symposiums am 7. Mai 2016 im Karl-Marx-Haus in Trier, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2018, S. 9-18. [Link].
- Unterhaltung in der Metropole [Rez. zu Daniel Morat u. a.: Weltstadtvergnügen. Berlin 1880–1930, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016], in: Neue Politische Literatur 63 (2018), H. 3, S. 447 f.
- De Tréveris al mundo. La FES en el 200o aniversario de Karl Marx [Von Trier in die Welt. Die Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr des 200. Geburtstags von Karl Marx], in: Nueva Sociedad 47 (2018), H. 277, S. 169-180 (gemeinsam mit Ann-Katrin Thomm). [Link]
- Theater im Westen – die Krefelder Bühne in Stadt, Region und Reich (1884-1944). Rahmen, Akteure, Programm und Räume des Theaters in der Provinz (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas, Band 27), Münster: Waxmann, 2017, 536 Seiten. [Link]
- Theaterspielen in Zeiten des Krieges. Das Krefelder Stadttheater zwischen 1914 und 1918, in: Rhein-Maas. Geschichte, Sprache und Kultur 5 (2014), S. 44-61.
- Chronology of the Program, in: Christiane Lange/Robbrecht en Daem architecten (Hg.): MIES 1:1. Ludwig Mies van der Rohe. The Golf Club Project, Köln: Walther König, 2014, S. 204-207.
- Interview für den Online-Studienfachwahl-Assistenten der Freien Universität Berlin, 2013. [Link]
- „Theaterfreunde aus allen Volkskreisen“. Volksbühne und Bühnenvolksbund in Krefeld, in: Die Heimat. Krefelder Jahrbuch. Zeitschrift für niederrheinische Kultur- und Heimatpflege 83 (2012), S. 49-58. [Link]
- Fundstück. Beitrag von Helene Lange über das Frauenwahlrecht für die Zeitschrift Cosmopolis (1896), in: Dörte Segebart/Doris Wastl-Walter (Hg.): Multidirektionale Transfers. Internationalität in der Geschlechterforschung, Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung 16 (2012) (peer reviewed). [Link]
- „Barbarei“ und „Mittelalter“. Reaktionen der ausländischen Presse auf die Bücherverbrennungen in Deutschland 1933, in: Julius H. Schoeps / Werner Treß (Hg.): Verfemt und verboten. Vorgeschichte und Folgen der Bücherverbrennungen 1933, Hildesheim – Zürich – New York: Olms, 2010, S. 177-190.
- Neue Ansätze zur Erforschung der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 (Tagungsbericht für H-Soz-u-Kult, gemeinsam mit Daniela Blessing, Johannes Großmann und Judith Wieske), 2004. [Link]
- Über 100 Artikel zu den Themen Geschichte, Kultur, Jugend und Lokales in der Rheinischen Post (Krefeld, Viersen, Mittlerer Niederrhein), seit 1997, im Stadtmagazin (Mönchengladbach), 2000-2004, sowie in der Zeitschrift eiskraut und sauerbein (Berlin), 2009. [Link]
Pressestimmen zur Dissertation
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„Insgesamt hat Britta Marzi eine überzeugende Studie vorgelegt […]. Die Kontextualisierung in größere Zusammenhänge wirkt dabei nie bemüht, sondern organisch. Marzis Ansatz lässt sich auch auf andere Theater anwenden, und es bleibt zu hoffen, dass die Regionaltheater-Forschung von diesen Impulsen weiter profitiert.“
Anselm Heinrich, in: Archiv für Sozialgeschichte (online) 58, 2018. [Link]
- „Im ganz großen Rahmen von ‚Kultur und Geschichte Westeuropas‘ und zugleich in engerem Rahmen der ‚Niederrheinischen Kulturgeschichte und Regionalentwicklung‘ ist hier eine Geschichte der ‚Krefelder Bühne in Stadt, Region und Reich‘ erarbeitet, die Maßstäbe setzt. [...] Als Handbuch gibt es Auskunft über ein wichtiges Segment der Krefelder Kulturgeschichte.“
Theodor Pelster, in: Die Heimat. Krefelder Jahrbuch 88, S. 216–217.
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„[S]owohl die politischen Krisen der Gegenwart als auch die Digitalisierung setzen Akteure im Kulturbereich [...] unter erheblichen Legitimationsdruck [...]. Da kann ein Blick in die Vergangenheit zum Beispiel des Theaters, wie ihn Marzi fundiert unternommen hat, nicht schaden."
Klaus M. Schmidt, in: Westdeutsche Zeitung, 25.1.2019. [Link]
Veranstaltungen und Vorträge in Auswahl
- Theater des Westens. Eine Provinzbühne in Stadt, Region und Reich (1884-1944), 37. Gesellschaftsabend der Gesellschaft für Theatergeschichte, Kulturvolk - Freie Volksbühne Berlin, 23.11.2018.
- Weltbühne. Karl Marx und das Theater, Akademie „Zeit für Wissen“, Köln, 11.05.2016.
- Spiel-Räume. Die Kommune als Akteurin im Krefelder Theaterbetrieb (1884-1944). Vortrag bei der Berliner Werkstatt zur Stadtgeschichte. Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung Erkner, 14.02.2014.
- Theater in der Provinz – Theater im Grenzgebiet. Vortrag beim Vierten Workshop des Arbeitskreises Deutsch-Niederländische Geschichte (ADNG-WDNG). Historisches Institut der RWTH Aachen, 21.09.2012.
- Stadt. Theater. Geschichte. Krefelder Theatergeschichte von 1884-1945. Veranstaltung in der Reihe „Theater EXTRA – Redebühne“. Vortrag von Britta Marzi, Quellentexte gelesen von Generalintendant Michael Grosse, Moderation: Ulrike Brambeer. Stadttheater Krefeld, 08.12.2011.
Tagungskonzeption und -organisation
- Karl Marx – zurück in die Zukunft. Historische, politische und künstlerische Perspektiven vom 19. Jahrhundert bis heute, Ringvorlesung in der Akademie „Zeit für Wissen“ des Verlags M. DuMont Schauberg, Köln, Januar – Mai 2016.
- Ein Bild von Karl Marx... entwerfen. Kunst_historische Perspektiven, Symposium im Karl-Marx-Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung, Trier, 07.05.2016.
- „Handlungsräume der Kommunalpolitik. Die Stadt als Akteurin in Politik und Verwaltung“. Workshop der Berliner Werkstatt zur Stadtgeschichte. Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung Erkner, 14.02.2014 (gemeinsam mit Lena Kuhl und Johanna Niedbalski).
- Internationale Tagungen „Touching Mies“, „Erinnerung und Identität“, „Das Modell“ im Rahmen von MIES 1:1 Das Golfclub Projekt, Krefeld, Sommer 2013 (gemeinsam mit Christiane Lange).
Stipendien
- 2015 Stipendium zur Teilnahme am Deutschen StiftungsTag in Karlsruhe
- 2008 Stipendium des Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds
- 2006 DAAD-Stipendium für das Praktikum in Kanada
- 2003/2004 Erasmus-Stipendium der Freien Universität Berlin
Mitgliedschaften
- seit 2014 Mitglied in der Gesellschaft für Theatergeschichte
- seit 2013 Mitglied im Arbeitskreis Moderne im Rheinland
- seit 2011 Gründungsmitglied der Berliner Werkstatt zur Stadtgeschichte
- seit 2010 Gründungsmitglied im Arbeitskreis Deutsch-Niederländische Geschichte (ADNG-WDNG)
Kontakt
E-Mail: brittamarzifmi[at]hotmail.com
Twitter: @marzib27