Springe direkt zu Inhalt

Der hörende Patient. Über die Anwendung von Musik in der Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts

Die Geschichte der Musiktherapie ist seit Mitte der 1970er Jahre in Dissertationen und einer umfangreichen Habilitation der Medizingeschichte anhand von wissenschaftlicher Fachliteratur seit ihren antiken Anfängen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts aufgearbeitet worden. Das vorliegende Projekt erforscht vor diesem wissenschaftstheoretischen Hintergrund historische Einzelbeispiele zur Geschichte der Anwendung von und Therapie mit Musik im medizinischen Kontext seit Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn der 1970er Jahre. Im Mittelpunkt stehen dabei die Zusammenhänge zwischen der medizinischen Anwendung des Hörens unterschiedlichster Musikgattungen und -stile und den Einflüssen dieser neuen Praxis auf Musikästhetik, Aufführungspraxis und Komposition. Ausgehend von einem modernen Verständnis von Psychiatrie und Neurophysiologie wird untersucht, wie die sehr spezielle Anwendung und die Auswahl von Musik in Krankenhäusern und Psychiatrischen Heilanstalten in ihrer praktischen Umsetzung das ästhetische Verständnis medizinischer Musikanwendung veränderte.

Zum einen sollen die bereits bekannten Beispiele heilkundlichen Musizierens im 19. Jahrhunderts aus Paris, Prag, Illenau oder St. Petersburg anhand von neuen Quellen (Heimatmuseum Achern, Landesarchiv Freiburg im Breisgau, Deutsches Volksliedarchiv Freiburg, Staatsarchiv St. Petersburg, Musée d’histoire de la médicine Paris) dokumentiert und hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen Aufführungsmodalitäten (z.B. passive Konzertsituation für die Patienten oder aktives Mitmusizieren der Patienten und des Krankenhauspersonals), Kompositionen (Auswahl des Repertoires von Seiten professioneller Musiker des Pariser Konservatoriums oder Umsetzung musiktherapeutischer Behandlung in Kompositionen der Patienten Mitte des 19. Jahrhunderts in Prag) und den physiologischen und psychologischen Reaktionen der Patienten auf die gehörte Musik ausgewertet werden. Zum anderen wird anhand von psychiatrischen Reiseberichten, medizinischen Fachjournalen und Musikliteratur untersucht, inwiefern dieses neue musikpsychologische Wissen um Einflüsse des Hörens auf den mentalen Zustand kranker Menschen die Entwicklung von Musikheilkunde beeinflusst und ihre zunehmende Verbreitung gegen Ende des 19. Jahrhunderts befördert hat. Auf der Basis der Auswertung von Musikerbiographien (z.B. Andre-Ernest-Modeste Gretry, Hector Berlioz) und einzelnen Kompositionen (von Joseph Weigl, Vincenzo Bellini, Igor Strawinsky oder später auch Maurizio Kagel) soll zudem untersucht werden, wie das Wissen um auditive Erfahrungen und emotionale Reaktionen und die Zusammenhänge von Saluto-/Pathogenese und Musik sich auch im künstlerischen Diskurs niedergeschlagen hat.

DFG