Das Ohr als Erkenntnisorgan? Wissenschaftliche Hörkulturen und auditive Rationalität
Während sich Studien aus den Bereichen der Kulturwissenschaften, der Wissenschaftsgeschichte, der Kunstwissenschaft und der Mediengeschichte in den letzten Jahren intensiv mit der Frage nach dem Status ,wissenschaftlicher Bilder‘ auseinandergesetzt haben, liegen zur akustischen Dimension naturwissenschaftlicher Erkenntnisproduktion bisher kaum Untersuchungen vor. Es gibt zwar zahlreiche Arbeiten, die sich etwa der Entstehung und Verbreitung der Auskultationspraxis mittels des Stethoskops in der Medizin oder des Geigerzählers im Strahlenschutz widmen, diese thematisieren die auditive Form der Erzeugung und Darstellung von Wissen in der Regel jedoch nicht. Das Teilprojekt Das Ohr als Erkenntnisorgan? Wissenschaftliche Hörkulturen und auditive Rationalität verfolgt daher das Ziel, anhand konkreter Fallstudien aufzuzeigen, auf welche Weise wissenschaftliche Fakten durch Hörpraktiken und akustische Repräsentationsformen erzeugt wurden und welcher Stellenwert ihnen in der Geschichte der Wissenschaften zugesprochen werden kann. In Rahmen der Sektion Wissenschaftliches Hör-Wissen: Hören im Labor thematisiert das Teilprojekt daher Schallereignisse nicht als Objekt, sondern als Werkzeug naturwissenschaftlicher Forschung.
Den Ausgangspunkt des Teilprojekts bildet dabei die Etablierung der auditiven Diagnose mittels des Stethoskops in der Medizin. Die Konstellation aus hörendem Wissenschaftler (Arzt), akustischem Medium (Stethoskop) und auskultiertem Wissenskörper (Patient) stellt dabei ein Modell dar, welches sich produktiv auch auf jüngere Fallstudien in anderen Bereichen der Wissenschaften übertragen lässt. So soll etwa gezeigt werden, dass und wie das Telefon in der Physiologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts zur Anzeige schwacher elektrischer Ströme eingesetzt wurde. Weitere Untersuchungsgegenstände bilden der Geigerzähler in der Strahlenphysik sowie akustische Darstellungen in der Hirnforschung ab den 1920er Jahren und in der Seismologie ab den 1950er Jahren. Diese historischen Beispiele werden im Hinblick auf die Forschungspraxis der 1992 gegründeten ,International Community for Auditory Display‘ diskutiert, die sich die systematische Erforschung der Möglichkeiten einer akustischen Darstellung wissenschaftlicher Daten sowie der Erkenntnisproduktion mittels des Hörens zum Ziel gesetzt hat. Anhand der Fallstudien wird dargestellt, dass sich die Naturwissenschaften auf der Grundlage einer fortschreitenden Mediatisierung nicht nur optisch-visueller „Phänomenotechnologien” (Bachelard), sondern auch akustischer Instrumente und Medien bedient haben, um Messsignale und -daten zum Zwecke ihrer Analyse hörbar zu machen und auf diese Weise in erkenntniserzeugende bzw. -tragende Klänge zu transformieren.
Das Teilprojekt wird von der These geleitet, dass die Produktion objektiver Erkenntnis nicht an visuelle Zugriffs- und Repräsentationsweisen gebunden ist. Dieser Befund steht damit in einem starken Kontrastverhältnis zu den bereits zu Beginn dieses Antrags dargestellten, weit verbreiteten allgemeinen bzw. apriorischen Annahmen über den auditiven Sinnesbereich. Da ,das Hören‘ im Allgemeinen gewöhnlich mit dem Emotionalen, Intuitiven und Irrationalen, nicht jedoch mit wissenschaftlicher Rationalität verbunden wird, soll anhand der Geschichte wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion durch das Hören die Historizität der Vorstellungen und Zuschreibungen über die Sinne aufgezeigt und problematisiert werden.