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Kulturen der Deklamation und die mündliche Performanz der Literatur in Deutschland, 1750-1900

In meinem Projekt erforsche ich die Theorie und Praxis der literarischen Deklamation im deutschsprachigen Raum von den ersten öffentlichen Lesungen von Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias bis zur Erfindung des Phonographen im späten 19. Jahrhundert. Wie die französische Historikerin Sabine Chaouche argumentiert, wurde der Deklamationsbegriff im 18. Jahrhundert von der rhetorischen Tradition entkoppelt und zunehmend mit der theatralischen Deklamation bzw. mit der Redekunst im allgemeinen Sinne identifiziert. Vor allem in Deutschland bezeichnete der Begriff „Deklamation“ eine weit verbreitete kulturelle Praxis, die in der Literatur eine gleichermaßen große Rolle spielte wie in der Politik, der Religion, der Jurisprudenz, der philosophischen Ästhetik, der Pädagogik und der Geselligkeitskultur. In diesem Kontext gewann die literarische Deklamation ab 1750 immer mehr an Bedeutung. Es entstand eine regelrechte Flut an Texten, in denen versucht wurde, die Kunst der literarischen Deklamation zu definieren, Regeln für die deklamatorische Praxis festzulegen und ein Repertoire von Texten zu etablieren. Das sogenannte „deklamatorische Konzert“, eine Mischung aus Literaturlesung und Musik, wurde zum Brennpunkt dieser Diskussion.

Sowohl in der Theorie als auch in der Praxis führte die literarische Deklamation zu einer Konfrontation zwischen der „Stimme“ der Literatur und der „Vokalität“ (A. Cavarero) des einzelnen Performers. Die Deklamation wurde von Performerinnen wie Elise Bürger und Henriette Hendel-Schütz zum Anlass genommen, um die „toten Buchstaben“ der Literatur neu zu beleben und die Zuhörern emotional zu affizieren. In theoretischen Texten über Deklamation von Christian Gotthold Schocher, Gustav Anton von Seckendorff und anderen wurden Anschaulichkeitstechniken wie z.B. die musikalische Notierung und wissenschaftliche Tabellen dazu verwendet, ein durchaus rationalisiertes, nicht-alphabetisches „Schreiben“ zu etablieren, mittels dessen die gesprochene Sprache als „deklamatorische Musik“ veranschaulicht werden konnte. Durch die Begründung einer neuen Kunst und Wissenschaft des Sprechens sollte das „Schriftmonopol“ (Kittler) des späten 18. Jahrhunderts durchbrochen werden, und zwar durch die Beförderung einer oral culture, in welcher die (literarische) Sprache als eine Form von Musik verstanden wurde.

Das Projekt zielt vor allem darauf zu zeigen, dass die literarische Deklamationskultur im 18. und 19. Jahrhundert die Druckkultur eben nicht einschränken, sondern vielmehr bereichern wollte, indem sie die Ausbreitung von Diskursen und Techniken der (bürgerlichen) Selbstinszenierung und der Selbstbeherrschung im akustischen Bereich ermöglichte. Man kann hier von einer Kollaboration beider Seiten sprechen, sowohl in Bezug auf kulturelle Wissenstransfers als auch auf die Produktion des gebildeten bürgerlichen Subjekts. Das Projekt trägt zu einer Wissensgeschichte des Hörens bei, indem es den Status des Hörens und des Zu-Hörens als wissenschaftliche, literarische, technische und historische Wissens-Objekte im 18. und 19. Jahrhundert erforscht. Dabei wird vor allem auf Methoden und Begriffe der zeitgenössischen Theaterwissenschaft zurückgegriffen, um die von Deklamatoren entwickelten Techniken des Hörens und Sprechens zu beschreiben. Dadurch wird die Deklamation nicht nur als theatergeschichtliches Phänomen, sondern auch als experimentelles Labor einer neuen Wissenschaft der Stimme ins Auge gefasst. An der Schnittstelle zwischen Diskursanalyse und Wissensgeschichte wirft das Projekt neues Licht auf einen bisher vernachlässigten, aber dennoch zentralen medien- und wissensgeschichtlichen Wandel in Deutschland vor 1900.

DFG