Prof. Roderich Gathge (Universität Okayama): Anime als "Bildungsroman" - Wege und Lernprozesse in Hayao Miyazakis Werken
2. Mai 2012
In der Phase seiner großen Erfolge (1999ff) hat man Hayao Miyazaki gern als “Walt Disney Japans” bezeichnet. Diese Gleichsetzung trifft wohl auf den kommerziellen Erfolg, jedoch nicht auf die Qualität der Ghibli-Filmprodukte zu.
Disney-Animationen erzählen in der Regel Märchen oder Abenteuergeschichten, deren Akteure durch eindimensionale Charakterzeichnungen von Beginn an als Protagonisten und Antagonisten erkennbar sind und bleiben.
Ghibli-Anime differenzieren dagegen sowohl im Erzählen als auch im Genre. Da werden Abenteuerstories gleichermaßen zu Bildungsgeschichten, in welchen die Hauptakteure dank ihrer mehrdimensional besetzten Charaktere einen aktiven Lern- und Wandlungsprozess durchlaufen, an dessen Ende sie nicht nur intellektuell, sondern auch menschlich gereift sind. Selbst anfängliche Antagonisten erfahren dabei Einsichten und Läuterung.
Im Vortrag werden anhand von Bild- und Szenenbeispielen aus “Sen to Chihiro no Kamikakushi” (2001) und “Hauro no Ugoku Shiro” (2004) die Etappen von Lernprozessen dargestellt. Hier führt der Weg zum Bildungsziel durch parallele Räume und über magische Verwandlungen, deren Funktion es ist, die aus ihrem Alltag gerissenen Akteure in fremder Umgebung und befremdlichem Zustand an unlösbar scheinenden Aufgaben wachsen zu lassen, was letztendlich zur Selbstfindung führt. Somit wird das Anime - inszeniert durchs interne Personal - zum audiovisuellen Bildungsroman.